MusikTexte 147 – November 2015, 35–46

Werke als Schlüssel zu Werken?

Zur umstrittenen Kategorie „Schlüsselwerke der neuen Musik“

von Rainer Nonnenmann

Das Thema der vom Autor konzipierten und organisierten fünfzehnteiligen Ringvorlesung an der Hochschule für Musik und Tanz Köln im Wintersemester 2012/2013 lautete „Schlüsselwerke der neuen Musik nach 1950“. Beginnend mit der schriftlichen Ausarbeitung dieses Einführungsvortrags erscheinen in den kommenden Heften der MusikTexte weitere ausgewählte Beiträge einiger damaliger Referenten, welche die richtungsweisende Qualität und bleibende Aktualität eines bestimmten Musikwerks der neuen Musik nach 1950 herausarbeiten.

Willst du dich selber erkennen, so sieh, wie die andern es treiben,

Willst du die andern verstehn, blick in dein eigenes Herz.

Friedrich Schiller „Der Schlüssel“1

Wie selbstverständlich sprechen wir von „Hauptwerken“ und „Meisterwerken“, obwohl das problematische Begriffe sind. Unter Hauptwerk verstehen wir in der Regel ein aus dem Gesamtschaffen eines Komponisten herausragen­des, besonders gewichtiges Einzelwerk, in dem – möglicherweise unter großer Anstrengung während langer, komplizierter Entstehungszeit – so etwas wie die Summe und Quintessenz eines Schaffens gezogen wurde, in dem ein Komponist alles für ihn Charakteristische exemplarisch so verdichtet hat, dass dieses Chef d’Œuvre beispielhaft für sein Gesamtœuvre einstehen kann. Als „Hauptwerke“ hervorgehoben werden fast ausschließlich groß besetzte Chor- und Orchesterwerke, Sinfonien oder Opern, die zumeist besonders umfangreich sind und auch hohe ideelle Ansprüche vertreten, ohne dass damit bereits etwas über die ästhetische und kompositorische Faktur und Qualität der Werke gesagt wäre. Noch problematischer ist der Begriff des „Meisterwerks“. In einem solchen zeigt sich ein Komponist auf der Höhe seines Könnens, seiner Technik, Erfindungs- und Einbildungskraft, im Vollbesitz seiner Kräfte und Fähigkeiten. Durch sein „Meisterstück“ erwirbt sich der Geselle seinen Meisterbrief, was nicht bedeutet, dass auch seine nachfolgenden, von ihm als verbriefter Handwerksmeister geschaffenen Arbeiten allein schon deswegen automatisch „Meisterwerke“ wären, wovon jedoch stets ausgegangen wird. Beethovens Erste Sinfonie ist zweifellos sein „Meisterstück“ und alle seine nachfolgenden Sinfonien sind in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit selbstverständlich „Meisterwerke“. Dasselbe gilt von den Sinfonien anderer Meister, von Robert Schumann, Johannes Brahms, Anton Bruckner, Gustav Mahler, et cetera. Wohin wir blicken, überall Meisterwerke großer Meister. Der Begriff wird universal, verliert seine definitorische Qualität und wird nichtssagend.

So sehr die eingebürgerten Suggestivvokabeln Haupt- und Meisterwerk etwas von der Wirkung der damit bezeichneten Werke auf ihre Mit- und Nachwelt beschreiben, so vage und ungenau bleiben sie. Wenn überall dort, wo Meister am Werke sind, immer auch „Meisterwerke“ entstehen, dann wird dieser Begriff inflationär und damit ungeeignet, präzisere Unterscheidungen zu treffen. Und mit „Schlüsselwerken“ soll jetzt noch eine dritte Begriffskrücke hinzukommen? Bei allen unleugbaren Schwierigkeiten auch dieses Begriffs spricht dennoch einiges für diese Bezeichnung, nicht zuletzt die praktische Erfahrung im Umgang mit solchen Schlüsselwerken. Jeder Komponist, Interpret, Hörer und Musikhistoriker dürfte in seiner individuellen Hörbiographie irgendwann einschneidende Erfahrungen mit Musik gemacht haben, die er als Schlüsselerlebnisse bezeichnen würde, weil sie bei ihm etwas auslösten, was für sein weiteres Musikverständnis Folgen hatte. Vermutlich jedem fallen auch Werke ein, die für ihn und andere sowie insgesamt für die Musikgeschichte wichtig waren und vielleicht immer noch sind. Damit verfügt jeder bereits über ein Vorverständnis dessen, was ein Schlüsselwerk ist. Die Kurzdefinition davon könnte folgendermaßen lauten: Gemeint sind Werke, die zum ersten Mal oder aber besonders pointiert bestimmte Fragen aufgeworfen, überkommene Traditionen hinterfragt oder gar beseitigt haben, neue Materialien erkundet, Anstöße für wesentliche Techniken, Stilistiken oder ganze Richtungen gegeben haben, ein neues Verständnis von Musik geöffnet, neue Tore des Komponierens und Hörens aufgestoßen sowie bisher ungeahnte Möglichkeitsräume jenseits des urbar gemachten Fruchtlandes der alten abendländischen Musiktradition erschlossen und damit folgenreich gewirkt haben.

Löst man diese Kurzdefinition systematisch auf, so enthält man drei eng miteinander zusammenhängende Aspekte: Erstens den künstlerisch-produktionsgeschicht­lichen Aspekt, weil Schlüsselwerke einen künstlerischen Wert haben, der auch andere Komponisten so fasziniert, dass sie auf die dort neu eröffneten Möglichkeiten reagieren, indem sie diese fortsetzen und unter Umständen zu regelrechten Stilrichtungen ausbauen, womit sie zweitens die Rezeption maßgeblich beeinflussen und überhaupt erst die musikgeschichtliche Wirkung dieser Schlüsselwerke zur Entfaltung bringen, die dann drittens Musikwissenschaftler historisch einordnen, beschreiben und bewerten können. Sinnvollerweise sprechen und schreiben deswegen nicht nur Musikwissenschaftler und Musikpädagogen über Schlüsselwerke, sondern auch Komponisten, weil keiner voraussetzungslos beginnt, sondern auch jeder Komponist selber Hörer und Leser von Partituren anderer Komponisten ist, die ihn womöglich dazu bringen, die eigenen Vorstellungen von Musik zu verändern und in der eigenen künstlerischen Arbeit auf die von diesen Schlüsselwerken in die Welt gesetzten Neuerungen zu reagieren. Außerdem äußern sich auch Komponisten in Gesprächen, Essays oder Büchern über Musik, wodurch sie an der Musikgeschichte ebenso mitschreiben wie Musikhistoriker, dabei aber mit ihren Kommentaren zu anderen Musikern und deren Werken zugleich immer auch implizite Selbstkommentare über ihre eigene Musik liefern. Allein dies verdeutlicht bereits, dass es nicht nur historiographisch allgemein anerkannte „absolute Schlüsselwerke“ gibt, sondern auch individuelle „relative Schlüsselwerke“, die beispielsweise nur im Schaffen eines bestimmten Komponisten, Interpreten, Ensembles oder Hörers folgenreich gewirkt und also nur punktuelle Geltung für dessen Schaffen oder Hörbiographie haben.2

Die Schlüsselfunktion eines Werks erweist sich erst im Nachhinein durch dessen Wirkungsgeschichte, und die lässt sich nicht vorwegnehmen oder gar mitkomponieren. Kein Komponist macht sich an die Arbeit, um vorsätzlich ein „Schlüsselwerk“ zu schreiben. Vielmehr versucht jeder, seine Ideen, Frage- oder Problemstellungen von Werk zu Werk möglichst klar und prägnant auszuarbeiten, wodurch sich seine Arbeit unter Umständen so verändert, dass das zehnte oder vielleicht erst zwanzigste oder fünfzigste Werk zu einem qualitativ neuen Ergebnis führt, das neue Türen und Wege eröffnet, so dass sich dieses x-te Werk dann im Kontext seiner Vor- und Wirkungsgeschichte möglicherweise als Schlüsselwerk beschreiben lässt. Damit deutet sich ein musik- und konzertpädagogischer Aspekt an, weil Schlüsselwerke in dem Maße, in dem sie sich als Türenöffner für weitere musikalische Entwicklungen erwiesen haben, zugleich für Hörer als Ohrenöffner wirken können. Sofern solche Werke durch historisch informierte Programmwahl und Verbindungen zu anderen Künsten und Lebensbereichen in erhellende musik-, kunst-, geistes-, sozial- und kulturgeschichtliche Zusammenhänge gestellt werden, können sie auch ohne hohe Bildungsschranken oder spezielle Vermittlungsprojekte einem breiteren Publikum Zugänge zur neuen Musik öffnen. Die sonst oft getrennten Bereiche Bildung und Erlebnis fließen dann idealerweise zu prägenden Musikbildungserlebnissen zusammen. Insofern auf diese Weise bahnbrechende Schlüsselwerke allgemeine Orientierungsmöglichkeiten im Umgang mit neuer Musik eröffnen, könnte man sie auch als musika­lische „Leitfossilien“ bezeichnen, an denen sich ganze Epochen und Richtungen der jüngeren Musikgeschichte aufschließen lassen, so wie Paläologen und Geologen mittels charakteristischer Versteinerungen die erdgeschichtliche Entstehung von Gesteinsschichten datieren.3

Weitung zum Multiversum

Orientierung im Bereich der neuen Musik ist tatsächlich nötiger denn je. Mit zunehmender Unübersichtlichkeit wächst das Bedürfnis nach Überblick. Schließlich ist die neue Musik einhundert Jahre alt und in verschiedene Sparten und Untersparten ausdifferenziert, bis hin zu individuellen Privatästhetiken einzelner Komponisten, Interpreten, Performer, Klangkünstler, Gruppierungen, Initiativen, Studios, Spielstätten, Labels und so weiter. Im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten kennt die neue Musik nach 1950 keine lineare Entwicklung von einem bestimmten Ausgangspunkt auf ein bestimmtes Ziel hin. Es gibt keinen einsträngigen Fortschritt von einem Stil zum anderen, von einer Epoche zur nächsten. Stattdessen verzweigt sich alles von unterschiedlichen Ansatzpunkten gleichzeitig in völlig verschiedenen Richtungen zu jeweils ganz anderen Zielen.

Seit ihren Anfängen gibt es in der neuen Musik verschiedenste Stile, Sparten, Ansätze und Techniken. In den 1910er Jahren waren es so unterschiedliche Komponisten wie Arnold Schönberg, Igor Strawinsky, Luigi Russolo, Edgar Varèse, Béla Bartók, Charles Ives und Erik Satie. Selbst wenn einzelne Akteure und Gruppierungen zur Durchsetzung ihrer künstlerischen Interessen und Programme immer wieder anderes behaupten, ist die neue Musik längst ein vielfach verzweigtes Labyrinth oder – wie in Christina Kubischs audiovisueller Klangskulptur „Cloud“ (2010/2011) – ein total verknäulter Kabelsalat, ohne Anfang und Ende, polydirektional, ohne klare Richtung und erkennbares Ziel. Woher kommt, wohin fließt der Strom? Und wo soll man da anfangen zu hören? Die Vielstimmigkeit der neuen Musik ist eine folgerichtige Parallele zur allgemeinen Ausdifferenzierung unserer komplexen Informations- und Dienstleistungsgesellschaft. Schließlich schwebt die neue Musik nicht in irgendeiner abgehobenen Sondersphäre, sondern wurzelt selbstverständlich ebenso in unserem Gemeinwesen wie andere Bereiche auch, wie Kultur, Politik, Ökonomie, Religion, Sport, Vereinswesen, et cetera. Die neue Musik ist zwangsläufig ebenso heterogen und plural verfasst wie die Gesellschaft, deren Teil sie ist. Angesichts der Fülle konkurrierender und sich auch gegenseitig widersprechender Positionen der neuen Musik plädierte An­dreas Ballstaedt in seiner terminologisch und methodologisch grundlegenden Habilitationsschrift für „die Neue Musik als plurale Kategorie“.4 Neue Musik ist nicht auf ein Zentrum fixiert und kein hermetisch geschlossenes Universum. Vielmehr hat sie sich zum Multiversum geweitet, mit verschiedenen Bereichen und Gegenden, die sich teils berühren, teils miteinander rivalisieren, teils aber auch parallel nebeneinander existieren, ohne notwendigerweise etwas voneinander zu wissen oder aufeinander zu reagieren.

Beschreibt man die neue Musik aber als „Multiversum“, so wird die ohnehin problematische Kategorie „Schlüsselwerk“ vollends fraglich. Denn wenn es kein Zentrum und keinen verbindlichen Hauptstrang der Musikgeschichte mehr gibt, dann gibt es verständlicherweise auch keine „absoluten“ Schlüsselwerke mehr, welche die Entwicklung dieses Hauptstrangs vorantreiben könnten. Dann gibt es strenggenommen nur noch „relative“ Schlüsselwerke, die jeweils nur eine einzelne Richtung unter zahllosen anderen Richtungen angestoßen haben, die alle sternförmig auseinanderstreben. Ein Schlüsselwerk ist dann – um im kosmischen Bild des „Multiversums“ zu bleiben – nur noch der Fixstern eines jeweils anderen Sonnensystems mit jeweils anderen Koordinaten, Ausstrahlungen, Planeten und Trabanten, von wo aus sich keine Entwicklungslinie zu anderen Paralleluniversen konstruieren lässt.

Primäre Ursache für die Ausdifferenzierung der Musik des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts ist – neben den bereits genannten gesellschaftlichen Parallelen – der Neuheitsanspruch, aus dem diese Musik ihren Namen und ihr Selbstverständnis zieht. Was aber ist „neue Musik“? Während der vergangenen hundert Jahre wurde diese Frage immer wieder aufgeworfen, und ebenso oft anders beantwortet oder überhaupt offengelassen, weil sich nicht klar definieren lässt, was neue Musik ist. Eine solche Definition wäre auch absurd, denn ließe sich klar benennen, was neue Musik ist, so wäre diese Musik ja bereits eine „bekannte“ beziehungsweise „erkannte“ Musik, also nicht mehr wirklich „neu“. Zum paradoxen Wesen dieses Gegenstands gehört, dass er sich Defini­tionsversuchen entzieht. Und das ist nicht nur eine sympathische Eigenschaft neuer Musik, sondern eine wesentliche Bedingung ihres Kunstcharakters.

Die Frage „Was ist neue Musik?“ stellte sich bereits Arnold Schönberg, der als einer der „Gründerväter“ der neuen Musik eigentlich wissen müsste, wovon er spricht. Bezeichnenderweise warf Schönberg diese Frage erst zwei Jahrzehnte später auf, nachdem er zusammen mit seinen Wiener Schülern Alban Berg und Anton Webern um 1910 den Schritt in die Freie Atonalität gewagt und diese dann in den zwanziger Jahren mit der Zwölftontechnik systematisiert hatte. In seinem 1930 erstmalig formulierten und später wiederholt überarbeiteten Essay „Neue Musik, veraltete Musik, Stil und Gedanke“ versuchte Schönberg diese Frage durchaus mit definitorischem Anspruch zu beantworten.5 Die von ihm genannten Kriterien für neue Musik sind Originalität, Andersheit, Erstmaligkeit. Sie decken sich mit den oben genannten Kriterien für „Schlüsselwerke“. Bemerkenswert ist, dass Schönberg seine Ausgangsfrage „Was ist neue Musik?“ zu einer Definition von Kunst überhaupt ausweitet, indem er den Neuheitsanspruch in der gesamten abendländischen Musikgeschichte von Josquin des Prés über Bach und Haydn bei allen „großen Meistern“ entdeckt. Er bestimmt Neuheit als zentrales Wesensmerkmal von Kunst überhaupt. Neuheit macht für ihn letztlich auch die von ihm so viel beschworene „Größe“ von Kunst, Künstlern und Kunstwerken aus: „Denn: Kunst heißt Neue Kunst.“ Indem für Schönberg Kunst immer nur neue Kunst ist, setzt er Kunstcharakter und Neuheit gleich. Die Antwort auf seine Ausgangsfrage „Was ist neue Musik?“ bleibt er damit freilich schuldig. Denn sofern sich neue Musik primär durch ihre Neuheit als Kunst auszeichnet, unterscheidet sie sich nicht prinzipiell von den „großen Kunstwerken“ der „großen Meister“ früherer Jahrhunderte, die zu ihrer Zeit ebenso neu gewesen sind. Für den „konservativen Revolutionär“,6 der das eigene Schaffen in direkter Linie mit eben jener von ihm beschworenen Kunsttradition verstand, gibt es letztlich keinen spezifischen Unterschied zwischen neuer Musik und der Musik früherer Jahrhunderte. Damit verbindet Schönbergs Bestimmung von „Kunst heißt Neue Kunst“ zwei gegenstrebige Tendenzen der neuen Musik: nämlich den Fortschrittsgeist, alles Bisherige hinter sich zu lassen, um Neues zu schaffen, und zugleich die Kontinui­tät mit der Tradition des fortgesetzten Bruchs mit der Tradition.

Maßgeblich durch Schönbergs Traditions- und Modernitätsverständnis geprägt wurde Theodor W. Adornos Material- und Fortschrittsbegriff, der in der „Philosophie der neuen Musik“ (1948) als zentrale Vermittlungskategorie zwischen Kunst und Gesellschaft dient. Die beiden Hauptkapitel „Schönberg und der Fortschritt“ versus „Strawin­sky und die Restauration“ basieren auf derselben Entgegensetzung wie das Diktum von der „Aufspaltung aller Kunst in Kitsch und Avantgarde“, das Adorno in seiner Einleitung formuliert.7 Denn „große Kunstwerke“ vergangener Zeiten verlieren im aktuellen Betrieb der „Kulturindustrie“ ihren einstigen Neuheitscharakter, so dass sie mit dem von Schönberg benannten Wesensmerkmal „großer Kunstwerke“ zugleich ihren Kunstcharakter einbüßen. Sie sind dann weder mehr neu noch Kunst, sondern verkommen zum „Kitsch“. Adorno zog daraus bekanntlich die Schlussfolgerung, dass „Überlegungen, denen es auf die Entfaltung von Wahrheit in der ästhetischen Objektivität ankommt, einzig auf die Avantgarde verwiesen [sind], die aus der offiziellen Kultur ausgeschlossen ist. Philosophie der Musik heute ist möglich nur als Philosophie der neuen Musik.“8

Was Adorno unter dem Begriff der „Avantgarde“ propagiert, ist eine Art „Revolution in Permanenz“. Mit jedem Werk müssen die Komponisten zu einem immer weiter fortgeschrittenen Stand des Materials vordringen und ein neues Kapitel in der Musikgeschichte aufschlagen. In den fünfziger Jahren führte dieses Avantgardedenken dazu, dass Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen die Werke ihrer seriellen Hochphase lediglich als Etappen dieses zwanghaften Fortschritts- und Selbstüberbietungsprozesses begriffen. Sie sahen zeitweilig weniger den kompositorischen Eigenwert ihrer Musik, sondern verstanden ihre Kompositionen primär als Mittel zum Zweck der Fortentwicklung der seriellen Organisation und Erweiterung des Materials. Statt einfach nur ein Teil der Musikgeschichte zu sein, sollten die Werke selbst aktiv Musikgeschichte vorantreiben. Für die Metaphorik des „Schlüsselwerks“ heißt das: Jedes Werk ist nur Schlüssel zu einer einzigen Tür, die sich ihrerseits nur zu einer einzigen Tür öffnet, hinter der sich abermals nur wieder Tür an Tür reiht. So käme ein Schlüsselbund mit unübersehbar vielen Schlüsseln zusammen, die statt eines echten Durchgangs nur eine endlose Flucht von Türen öffneten.

Paradoxien des Neuen

An Adornos kritische Materialtheorie knüpfte später auch Mathias Spahlinger an. Schon Adornos radikaler Nominalismus gipfelt in der paradoxen Feststellung, die seine „Ästhetische Theorie“ (posthum 1970) eröffnet: „Zur Selbstverständlichkeit wurde, dass nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht.“9 Spahlinger konkretisierte die zur Selbstverständlichkeit gewordene totale Auflösung aller Selbstverständlichkeiten, indem er Adornos nominalistische Forderung zuspitzte, das avancierte Kunstwerk müsse sich aus allen überlieferten Konventionen und übergeordneten gattungsgeschichtlichen Formen und Normen lösen. Für Spahlinger hat Musik nur noch ein Daseinsrecht, „wo sie gegen ihren eigenen begriff geht, vor die frage stellt, ob das noch musik sei“.10 Musik hat demnach nicht weniger zu leisten, als den Musikbegriff von Werk zu Werk insgesamt zur Disposition zu stellen. In Anlehnung an Heinz-Klaus Metzger formulierte Spahlinger: „Heute ist nur noch Musik, was keine Musik mehr ist, während Musik, die noch Musik ist, bestimmt keine Musik mehr ist.“11 Der Komponist hat demnach auf alle Voraussetzungen und Konventionen zu verzichten, die von vornherein Einheit garantieren und ein Werk a priori als Musik beziehungsweise gemäß Adornos Diktum vom Zerfall der Musik in Kitsch und Avantgarde unweigerlich zum Kitsch beziehungsweise als Nicht-Kunst ausweisen.

Stattdessen soll der Komponist in jedem Werk den Musikbegriff von Grund auf neu bestimmen: „Aber streng genommen ist es so, dass jeder Komponist mit jedem neuen Stück gefordert ist, die Musik neu zu erfinden, weil nicht definiert ist, was Musik ist ... Und in diesem Sinne ist zum Gattungsbegriff, wie über alle anderen vereinheitlichenden Ideen, zu sagen: Wir sind in der absurden Situation (die jedes Lehrbuch ausschließt), mit jedem Stück eine neue Gattung erfinden zu müssen. Wer die Musik neu erfindet, erfindet auch die Gattung neu – was unter ordnungspolitischen oder ordnungskategorialen Bedingungen eine Absurdität ist. Wir müssen lauter individuelle Gebilde erfinden, die ihre eigene Gattung sind.“12 Damit stellt die neue Musik für Spahlinger idealerweise in jedem Werk erneut die alte Frage: „Was ist Musik?“ Und beantwortet wird diese Frage nicht voreilig mit unhinterfragt getroffenen Voraussetzungen, sondern einzig durch das Herbeiführen einer Situation, bei der sich erst in der Durchführung der kompositorischen Idee erweist, ob das Resultat noch Musik ist und um welche Art von Musik es sich gegebenenfalls handelt.13

An die Komponisten stellt das immense, kaum einzulösende Ansprüche. Zudem hat diese Forderung für Interpreten und Hörer tiefgreifende Folgen. So wie jeder Komponist radikal auf sich allein gestellt ist, kann sich kein Interpret und Hörer mehr auf aufführungspraktische Konventionen, allgemeine Normen und Erwartungshaltungen stützen. Die neue Musik entzieht sich eingespielten Mechanismen des Hörens und Verstehens, sodass bei jedem ausschließlich aus sich selbst heraus begründeten Werk die spezifischen Kategorien des von ihm neu abgesteckten Musikbegriffs immer wieder von Neuem zu erschließen sind. Das ist ebenso anspruchsvoll wie reizvoll und trägt sicherlich mit zur Faszination bei, welche die neue Musik ausübt. Zugleich liegen hier aber auch die Frustrationen, Ängste und Vorbehalte begründet, die viele Menschen mit neuer Musik verbinden, weil sie deren radikalen Individualismus als schwierig, hermetisch, spröde und unzugänglich empfinden.

Der Nominalismus der Werke hat auch Auswirkungen für das Verständnis musikhistorischer Prozesse und die Musikgeschichtsschreibung insgesamt. Denn wenn jedes Werk seine eigene Gattung begründet und nur für sich selbst steht, dann wird jeder Versuch hinfällig, Veränderungen von Werk zu Werk, von Komponist zu Komponist, von Epoche zu Epoche beschreiben zu wollen, weil alle Werke, Komponisten und Epochen singulär und nicht miteinander vergleichbar sind. Obsolet wird damit verständlicherweise auch der Begriff „Schlüsselwerk“, denn jedes Werk kann nur noch isoliert für sich betrachtet werden und nicht mehr exemplarisch als „Schlüssel“ im Hinblick auf die neuen Weisen des Komponierens, Aufführens und Hörens von Musik, die es für andere Komponisten und Werke aufgeschlossen hat. Ohne ein gemeinsames Kategoriensystem, wie es beispielsweise ein gattungs- und problemgeschichtlicher Diskursrahmen darstellt, gibt es keine verbindlichen Maßstäbe mehr, um an bestimmten Werken Schlüsselfunktionen im Hinblick auf andere Werke zu beschreiben. Und ohne diese Funktion sind die Schlüssel nicht mehr Teil eines übergreifenden historischen Prozesses, sondern nur noch ausstellbare Objekte. Statt sich im Rahmen einer Kausalkette gegenseitig aufzuschließen, sind die als eigenständige Entitäten miteinander konkurrierenden Werke nur noch Schlüssel zu sich selbst, wie beziehungslose, inkompatible, fensterlose Monaden.

So gesehen wären Schlüsselwerke gerade nicht Türenöffner, die neue Richtungen einzuschlagen erlauben, sondern strenggenommen genau das Gegenteil, nämlich „Verschlusswerke“, die einmal geöffnete Türen gerade umgekehrt wieder zustoßen und bereits eingeschlagene Richtungen wieder verschließen, damit ja kein zweiter durch dieselbe Tür gehen und bereits entdeckten Boden erneut betreten kann. In diesem Sinne sah auch Adorno die Kunstwerke nicht durch die historische Kontinuität ihrer Abhängigkeiten miteinander verbunden, sondern in erster Linie durch die Kritik, die sie aneinander üben. Eben dies meint auch der berühmte Satz aus seiner unvollendet gebliebenen „Ästhetischen Theorie“: „Ein Kunstwerk ist der Todfeind des anderen.“14 Folgt man diesem Theorem, so braucht man überhaupt nicht mehr nach positiven Einflüssen oder Fortschreibungen von einem Kunstwerk zum anderen zu suchen, weil an die Stelle positiver Abfolgen negative Abstoßungs- und Fliehkräfte treten. Wie gleichgepolte Elementarteilchen oder flüchtige Gase verteilen sich die Kunstwerke infolge ihres Abstoßungseffekts gleichmäßig in alle Himmelsrichtungen so weit wie möglich voneinander weg in Raum und Zeit. An die Stelle von Kontinuität tritt totale Dissoziation in alle Richtungen. Der Zeitstrahl einer idealisierten linearen Entwicklung von hier nach dort in eine bestimmte Richtung explodiert zu einem Bündel an Richtungspfeilen, die sich kugelförmig nach allen Seiten mit zunehmender Ausdehnung immer weiter voneinander entfernen.

Der Diskussion über „Schlüsselwerke“ wäre damit von vornherein die Grundlage entzogen und dieser Aufsatz am Ende, bevor er noch richtig begonnen hat. Übrig bliebe ein totaler Pluralismus und Relativismus aller Werke und Werte, mit lauter beziehungslosen Kategoriensystemen und völlig inkompatiblen Maßstäben. Musikgeschichtsschreibung könnte unter diesen Umständen nur noch eine zusammenhangslose Aufzählung inkommensurabler Werke liefern – eine historiographisch wenig verlockende Konsequenz. Doch dies folgt nicht zwangsläufig aus Adornos und Spahlingers Überlegungen. Denn so plausibel diese scheinen, so sind sie zugleich abwegig, wie Spahlinger selbst andeutet. Schließlich konnten die musikalischen Gattungen nur entstehen, weil mehrere Komponisten im Wissen um die Werke anderer Komponisten ebenfalls in derselben Besetzung, Form und Satztechnik Opern, Kantaten, Streichquartette, Klaviersonaten, Sinfonien, et cetera komponierten, bis sich die damit gesetzten und befolgten Rahmenbedingungen irgendwann als gattungstypisch verbindlich durchsetzten. Für die Herausbildung einer Gattung braucht es ja gerade die interaktive Folge vieler verschiedener Werke. Ein Werk allein macht ebenso wenig eine Gattung wie eine Schwalbe den Sommer. Gibt es aber viele Komponisten und Werke, die an derselben oder einer ähnlichen Sache weiterarbeiten, so macht die Kategorie des „Schlüsselwerks“ wieder Sinn.

Außerdem wird mit der von Adorno und Spahlinger zur Bestimmung des Verhältnisses der Kunstwerke zuein­ander in Anwendung gebrachten Hegelschen Kategorie der „bestimmten Negation“ nicht grundsätzlich in Frage gestellt, dass sich die Werke weiterhin in Aktions- und Reaktionsverhältnissen als Antworten aufeinander verstehen lassen. So beschrieb etwa Hans Heinrich Eggebrecht das Verstehen von Musik als ein „Verstehen von Musik durch Musik“. Denn um ein Musikwerk verstehen zu können, müssen wir es in seiner historischen Abfolge mit anderen Werken kontextualisieren. Ebenso begriff Spahlinger im Gespräch mit Eggebrecht das „Verstehen“ von Musik als Antwort auf die Antwort auf eine Antwort: „dass also zum Beispiel eine Beethoven-Sonate dadurch adäquat verstanden wird, dass ich verstehe, inwieweit Beethoven auf Haydn oder auf Mozart antwortet, und dass die eigentlich musikalische Information die De­struktion und Rekonstruktion dessen ist, was bereits zur Tradition verfestigt ist, und dass anders musikalische Information gar nicht zu fassen ist als eben als Antwort auf Antwort auf Antwort bis ins Unendliche.“15

Damit relativiert sich auch der immense Anspruch, mit jedem neuen Werk zugleich eine neue Gattung begründen zu müssen. Und tatsächlich kommen derartig singuläre Einmalsetzungen in der Praxis kaum jemals vor, selbst wenn ein Komponist wie Spahlinger versucht, Besetzung, Material, Struktur und Form jedes neuen Werks auf einem eigenen Kategoriensystem aufzubauen. Vielmehr ist es so, dass ein Komponist oft in mehreren Werken an ähnlichen Problem- oder Fragestellungen weiterarbeitet, bis ihm irgendwann der Durchbruch zu etwas Neuem gelingt. In gleicher Weise ändert sich auch die Musikgeschichte nicht ständig von Werk zu Werk – was allein schon die Masse an Uraufführungen innerhalb eines Jahres zeigt –, sondern nur im Zuge der beharrlichen Arbeit vieler Komponisten und Interpreten über Jahre oder Jahrzehnte hinweg. Lässt sich ein Werk also als Antwort auf ein voriges Werk begreifen, das seinerseits einem vorherigen Werk antwortete, und so weiter, so lässt sich das skeptische Fragezeichen hinter dem Titel dieses Beitrags auch durch ein vorsichtiges Ausrufezeichen ersetzen: „Werke als Schlüssel zu Werken!“

Stille und Umkehr

Ob und wie ein Werk tatsächlich seine Schlüsselfunktion entfaltet oder nicht, hängt sowohl vom Werk selbst als auch vom Kontext der Zeit ab, in dem es entstand und rezipiert wurde. Im Folgenden wird die Kategorie des „Schlüsselwerks“ anhand von paarweise betrachteten Werken praktisch auf die Probe gestellt, um zu zeigen, warum die Verwendung desselben Materials im einen Fall als Türen- und Ohrenöffner wirkte, im anderen dagegen nicht. Gegenübergestellt werden Werke von Erwin Schulhoff und John Cage sowie von Michael von Biel und Helmut Lachenmann, anhand deren Faktur und Rezep­tion zu klären ist, warum sie sich als „Schlüsselwerke“ erwiesen haben beziehungsweise nicht. Den Abschluss bildet dann die Besprechung einer Klanginstallation von Christina Kubisch als Beispiel für eine nicht im traditionellen Sinne werkhafte Arbeit.

Den Anfang machen zwei Werke, die den Vorstoß in einen Bereich wagten, nämlich Pause und Stille, die bis dato in der Musik nur relational im Verhältnis zu Tönen komponiert wurden, die in beiden Werken aber – was sie gleichermaßen zu Schlüsselwerken machen müsste – zum eigentlichen Gegenstand der Musik verabsolutiert sind. Erwin Schulhoff (1894–1942) komponierte im Rahmen seiner „Fünf Pittoresken“ opus 31 (1919) einen dritten Satz mit dem verheißungsvollen Titel „In futurum“. Dieser besteht ausschließlich aus Pausen ohne Noten. Es ist ein Stück Musik ohne Musik. Das ist in der Tat „pittoresk“. Zugleich gehören Pausen nicht minder zur Musik, nur dass sie hier eben gänzlich ohne irgendwelche Töne auftreten, durch die Pausen normalerweise überhaupt erst als Pausen erfahrbar werden. Zudem zeigen Schulhoffs Pausen eine äußerst lebendige rhythmische Varianz und Differenzierung sowie eine intrikate Polymetrik von 3/5 zu 7/10, deren Zähler nicht ineinander aufgehen, so dass beide Systeme zeitlich auseinanderlaufen. Hören lässt sich das freilich nicht, weil das Stück ja letztlich bloß ein „tacet“ ist, das bei Aufführungen in der Regel einfach übersprungen und bei Einspielungen allenfalls einen separaten Track erhält, der anstandshalber zehn Sekunden Nichts hören lässt. Offenbar ist das Stück kein Hörerlebnis für das Publikum. Vielmehr bietet es in erster Linie eine Leseerfahrung für den Pianisten. Es ist Augenmusik und ein dadaistischer Scherz. Bezeichnenderweise widmete Schulhoff seine „Fünf Pittoresken“ „dem Maler und Dadaisten George Grosz“, den er kurz zuvor bei einer „Dada-Soirée“ in Berlin kennengelernt hatte. Dadaistischer Ulk sind auch weitere Elemente seines „In futurum“: das Zeitmaß „zeitlos“, die Vertauschung von Violin- und Bassschlüssel, die seltsam gespiegelten Fermaten und Riesennoten mit eigenartig lächelnden oder schmollenden Gesichtern, und an Stelle einer Generalpause die noch gewichtigere „Marschall Pause“, versehen mit Fermaten und vier Ausrufezeichen wie mit vier Orden am Bande, vor der ein ganzes Bataillon Zweiunddreißigstelpausen in Reih und Glied strammsteht.

All das macht „In futurum“ zu einer heiteren Persiflage der von Richard Wagner in den 1850er Jahren formulierten Idee einer „Zukunftsmusik“. Schulhoffs Pausenstück stellt klar, dass sich weder die Zukunft der Musik vorwegnehmen noch über die Musik der Zukunft irgendetwas sagen lässt, weil alles nur Spekulation und Hirngespinst wäre. Im Grunde gibt es nur Gegenwart und ist auch jede Zukunft nur eine Projektion der Gegenwart, die selbst dann, wenn sie tatsächlich einmal eintreffen sollte, keine Zukunft mehr ist, sondern ebenfalls wieder nur Gegenwart zu späterem Zeitpunkt. Schulhoffs Pausenscherz ist ein Lehrstück wie Hans Christian Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ (1837). Wie hier ein Kind die nackte Tatsache beim Wort nennt: „Aber er hat ja nichts an!“ ließe sich in ähnlicher Weise bei Schulhoff rufen: „Aber er lässt ja nichts hören!“ Nein, natürlich nicht! Wie auch? Wie sollte sich hier und jetzt in der Gegenwart eine Musik der Zukunft komponieren lassen? „In futurum“ erfindet die Musik nicht neu, sondern schweigt sich vielmehr demonstrativ über die Zukunft aus, um die Hohlheit solcher Zukunftserwartungen vorzuführen und die Zukunftsverliebtheit manch avantgardistischer Komponisten – und mehr noch mancher Musikjournalisten – zu ironisieren, die meinen, auf jedem Musikfestival einen unerhört neuen Trend, das Neueste vom Neuen der neuen Musik erwarten zu dürfen.

Doch das alles macht „In futurum“ nicht zu einem Schlüsselwerk. Eher handelt es sich um ein satirisches „Anti-Schlüsselwerk“. Das zeigt auch der Zusammenhang mit den anderen vier „Pittoresken“, die sich an der vom Jazz beeinflussten amerikanischen Tanz- und Unterhaltungsmusik orientieren, die nach dem Ersten Weltkrieg das europäische Publikum und die jungen Komponisten elektrisierte. Der erste Satz ist ein „Foxtrott“, der zweite ein „Ragtime“. Auf den schweigsamen dritten folgt nicht etwa eine bis dato ungehörte „Zukunftsmusik“, sondern lediglich die Fortsetzung der Tanzsuite mit anderen zeittypischen Modetänzen „One-step“ und „Maxixe“. Das ist schwungvolle Musik, deren leichte Umgänglichkeit und Gebrauchsfähigkeit demonstrativ mit dem hehren klassisch-romantischen Kunstideal des neunzehnten Jahrhunderts bricht, durch das die Kunstmusik in eine ebenso weltferne wie metaphysisch aufgeladene, kunstreligiöse Sondersphäre entrückt wurde. Schulhoffs „Pittoresken“ sind typisch für die junge Komponistengeneration nach dem Ersten Weltkrieg mit Paul Hindemith, Kurt Weill, Hanns Eisler und Ernst Krenek. Aber auch das macht sie weder zu einem „Schlüsselwerk“ noch zu besonders „neuer“ Musik. Denn zuvor hatten schon Igor Strawinsky und Hindemith – von führenden Unterhaltungsmusikern der Zeit ganz zu schweigen – unter den Vorzeichen von „Neuer Sachlichkeit“ Ragtimes komponiert.

Ganz anders liegt der Fall bei einem der am häufigsten diskutierten Stücke der jüngeren Musikgeschichte. John Cages (1912–1992) berühmtes stilles Stück 433 for any instruments or combination of instruments“ (1952) basiert zwar auf demselben Material wie Schulhoffs stilles Stück, doch handelt es sich im Unterschied zu diesem um ein Schlüsselwerk par excellence. Salopp gesagt ist 433 geradezu der „Dietrich“ unter den Schlüsselwerken, ein Stück, das mit einem Mal sämtliche bis dato verschlossene Türen und Fenster sowie sämtliche Luken und Ritzen im Haus der Musik geöffnet hat. Seit 1950 erfand Cage Prozesse, die ihm erlaubten, Tonhöhen und Dauern unabhängig von eigenen Vorstellungen, Vorlieben und Abneigungen festzulegen. In „Imaginary Land­scape No. 4“ für zwölf Radios und vierundzwanzig Spieler (1951) lässt er an jedem Radiogerät zwei Spieler nach einem zuvor per Zufallsverfahren genau festgelegten Zeitplan agieren: ein Spieler regelt die Lautstärke, der andere unabhängig davon die Sendefrequenz. Aufgrund des strikten Zeitschemas haben die Spieler keine Möglichkeit, auf zufällig empfangene Radioereignisse zu reagieren, also beispielsweise je nach Vorliebe oder Abneigung bei diesem oder jenem Klang entsprechend länger oder kürzer zu verweilen. Stattdessen soll ohne willent­lichen Akt ein unvorhersehbares Gesamtresultat entstehen, bei dem die unterschiedlich langen Fragmente aus Stille, Rauschen, Pfeifen, Sprache und Musik aller Art eine völlig diskontinuierliche Abfolge bilden, in der jedes Ereignis nur als es selbst erscheint, ohne irgendeine Kausalität zu den anderen Ereignissen davor, danach oder daneben. Es handelt sich um lebensweltliche Fundstücke wie bei den Ready-mades des mit Cage befreundeten Künstlers Marcel Duchamp, der bereits in den 1910er Jahren seriengefertigte Massenprodukte des Alltags – einen Flaschentrockner oder ein Urinal – persönlich signierte, neu betitelte und als Objets trouvés in Kunstgale­rien ausstellte.

Eine radikalisierte Fortsetzung fand Cages strikt determinierter Zeitplan für indeterminierte Radioereignisse kurz darauf in 433. Wie bei Schulhoff besteht das Stück aus Pausen, deren Dauern Cage mittels Zufallsverfahren exakt bestimmte. Doch im Gegensatz zu Schulhoff notierte Cage die Pausen nicht alle im Detail aus, sondern fasste deren sowieso unhörbare Dauersumme – Pragmatiker der er war – einfach zu drei Sätzen „tacet“ zusammen, deren Dauern von 033, 240 und 120 Minuten er ihrerseits zu jenen vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden addierte, die dem Stück dann den Namen gaben. Das Material – also Pausen – ist mit Schulhoffs Stück identisch. Der historische, aufführungspraktische und ästhetische Zusammenhang hatte jedoch eine völlig andere Dimension und ungleich stärkere Wirkung als der musikalische Scherz des heute weithin vergessenen Schulhoff.

Entscheidend bei 433 ist die aufführungsrelevante Binnenstrukturierung durch drei Einzelsätze. Bei der Uraufführung 1952 realisierte der Pianist David Tudor diese, indem er zu Beginn den Klavierdeckel demonstrativ schloss, um ihn nach dem ersten Satz kurz wieder zu öffnen, für den zweiten Satz erneut zu schließen, für die Zäsur vor dem dritten Satz abermals aufzuklappen und für dessen Beginn wieder zu schließen, um endlich nach vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden das Ende der Aufführung durch ein letztes Öffnen zu markieren. Das Publikum konnte folglich nicht nur hören, sondern auch sehen, dass der Interpret offenbar nicht vorhatte, die Tastatur seines Instruments zu bespielen. Die drei Sätze ließen sich als drei zeitlich strukturierte Generalpausen erleben, die letztlich zeigten, dass es so etwas wie Stille überhaupt nicht gibt, weil trotzdem – obwohl kein einziger Ton gespielt wird – ständig etwas zu hören ist: Lüftung, Scheinwerfer, Stühleknarren, Atmen, Husten, Magenknurren, knisterndes Bonbonpapier, der eigene Herz­schlag, das Pulsieren in den eigenen Ohren, oder was sonst sich gerade akustisch ereignet. Das Stück ist ein Paradebeispiel für Cages experimentelle Musikauffassung, mittels Zufall und Indetermination zu unvorhersehbaren Ergebnissen zu gelangen, mithin also eine non-intentionale Musik hervorzubringen, die sich seinem kompositorischen Willen und subjektiven Vorstellungsvermögen so weit wie möglich entzieht, um auch den Hörern eine von ihren subjektiven Vorlieben und Abneigungen befreite Wahrnehmung der Klangereignisse zu ermöglichen. Bis heute gibt es keine radikalere Negation aller bisher gültigen ästhetischen Kategorien von Genie, Einfall, Zusammenhang, Werk und insgesamt des abendländischen Konzepts von Kunst als individuellem Ausdruck. Nie zuvor und auch nie mehr danach wurde auf so einfache, stille, zurückhaltende und zugleich so revolu­tio­näre Weise klar, dass fortan – wie Spahlinger schrieb – nicht mehr „definiert ist, was Musik ist“ und folglich „jeder Komponist mit jedem neuen Stück gefordert ist, die Musik neu zu erfinden“.16

Cages Tacet-Stück ist für die Musik, was Duchamps Ready-mades für die Kunst bedeuten: Ein Fanal der historischen Avantgarde, die „Institution Kunst“ mit ihrer Gesamtheit an Produktions-, Vermittlungs- und Rezeptions­mechanismen zu negieren, um die in der bürgerlichen Gesellschaft fetischisierte, vom praktischen Leben abgeschnittene und deswegen zu Folgenlosigkeit verdammte ästhetische Sondersphäre wieder in Lebenspraxis zurückzuführen.17 Cage unternimmt mit der Umwidmung von Alltagsmaterial zu Musik nichts Geringeres als eine solche Verwandlung von Kunst in Lebenspraxis. Seine „Nicht-Musik“ lässt den Hörer einen fundamentalen Perspektivwechsel vollziehen, weg vom Kunstobjekt, das sich im Fall von 433 komplett ausschweigt, hin zur eigenen Selbst- und Weltbeobachtung der Hörer. An die Stelle eingespielter Rezeptionsrituale tritt die Selbstreflexion der mit der Aufführung von Musik verbundenen Rezep­tionskategorien.

Für Cage kann alles bis dato Nicht-Musikalische zu Musik werden. Voraussetzung dafür ist lediglich, dass das Hören einen Rahmen erhält, in dem es nicht-musikalische akustische Ereignisse als Musik erleben kann – zum Beispiel durch die Rahmensituation im Konzertsaal mit nachvollziehbarer Umsetzung der zeitlichen Strukturierung der drei Tacet-Sätze. Wie Du­champ für die bildende Kunst vollzieht Cage für die Musik eine radikale rezeptionsästhetische Wende, weg von der traditionellen Fixierung auf Autor, Werk, Instrumente und Interpreta­tion, hin zum Rezipienten, der als Betrachter-Hörer letztlich selbst bestimmt, ob er etwas als Kunst und Musik wahrnimmt oder nicht. Cages vielzitiertes „Credo“ lautete folglich: „If you celebrate it, it’s art: if you don’t, it isn’t.“ Dieser Paradigmenwechsel macht 433 zu einem Schlüsselwerk par excellence, selbst wenn­
Cage eine solche Bezeichnung vermutlich von sich gewiesen hätte. Im Gegensatz zu Schulhoffs folgenlos gebliebenem Pausenscherz öffnet sein stilles Stück den Musikbegriffs durch die prinzipielle Ausdehnung auf die Umwelt in einer Weise, die weltweite Resonanz fand. Ganze Richtungen erfuhren hierdurch ihre Initialzündung, nicht zuletzt Klangkunst, Environment und Soundscape. Indes ließe sich auch umgekehrt argumentieren, dass überall dort, wo Cage die Musik so radikal geöffnet hat, gerade nicht mehr weiter zu gehen ist, denn: „Das ist eine Sackgasse in einem ganz positiven Sinn. Cage ist so radikal, da kann man nicht weitermachen. Man muss woanders suchen.“18

Quartette gestrichen

Die im Folgenden besprochenen Streichquartette von Michael von Biel und Helmut Lachenmann sind typische Beispiele für die Materialerweiterung der sechziger Jahre. Sie stehen in direktem Bezug zueinander und verwenden dieselben erweiterten Spieltechniken und geräuschhaften Klangresultate, aber – und das gibt den Ausschlag – auf verschiedene Weise, so dass sie auch entsprechend unterschiedlich wirkungsmächtig wurden. Das Zweite Streichquartett (1963) von Michael von Biel war eines der ersten Quartette, das dem Ideal des schönen, innigen, seelenvollen Streicherklangs eine gänzlich andere Welt aus erstickten, perforierten, hauchenden und forcierten Press-, Schlag-, Schab- und Kratzgeräuschen entgegensetzte. Die Streicher haben mit den Bögen auf die Saiten und den Korpus zu schlagen, diagonal oder im Kreis rotierend über die Saiten zu streichen, mit übermäßigem Bogendruck zu quetschen, am, auf und hinter dem Steg sowie auf dem Saitenhalter zu streichen. Das Violoncello ist zudem stellenweise mit einem Kontrabassdämpfer zu präparieren.

Weil inmitten der Fülle verschiedenster geräuschhafter Aktionen jenseits des temperierten Systems klare Tonhöhen nur als Sonderfälle erscheinen, verzichtet die Partitur weitgehend auf das traditionelle Fünfliniensystem, was sie unübersichtlich macht. Obwohl nicht leicht auseinanderzuhalten, sind die vier Stimmen in der gewohnten Reihenfolge von Violine I und II, Viola und Violoncello von oben nach unten sowie im Zeitverlauf von links nach rechts notiert. Auf der abgedruckten Beispielseite beginnen alle mit Angaben zur Dynamik fp, f, f und ff sowie zur Lokalisation der jeweils folgenden Aktion auf der vierten Saite. Ferner verzichtet von Biel – der Schüler von Feldman in New York und von Stockhausen bei den Darmstädter Ferienkursen war – auf ein Metrum. Stattdessen notiert er Einsatzabstände, Rhythmen und Dauern nach dem Vorbild von Feldman und Cage nur annäherungsweise in Space Notation und Time Brackets. Die Koordination der lose verbundenen Partien erfolgt im Wesentlichen durch markante vertikale Achsen, an denen ein bestimmter Musiker für alle anderen sicht- und hörbar einen neuen Zeitblock einwinkt, dem alle folgen müssen, auch wenn sie ihre Partie des vorherigen Zeitblocks noch nicht beendet haben. Am häufigsten gibt diese Kommandos das Violoncello, was seine pragmatische Erklärung wohl darin findet, dass der Komponist diese Partie – um bei aller Offenheit dennoch das Geschehens zu kontrollieren – für sich selbst schrieb und auch bei der Uraufführung gespielt hat.

Die Fülle unterschiedlicher Ereignisse auf kleinstem Raum und ihre lediglich lose Beziehung in einer überwie­gend punktuellen Textur erwecken den Eindruck, von Biel liefere mehr so etwas wie eine Sammlung neuer Klangmaterialien, als dass er damit wirklich komponiert. Die ungewohnten Spiel- und Klangtechniken erscheinen eher gereiht denn in logische, interaktive, kommunikative und den Materialien adäquate Aktionsfolgen gebracht. Wenig Stringenz zeigt auch die unbeholfene Notation. Die vom ordinario abweichenden Stricharten und Aktionsorte erhalten alle eigene Sonderzeichen, die nur teilweise mit den realen Bauteilen und Aktionsweisen sinnfällig übereinstimmen sowie in ihrer Gesamtheit zu wenig Systematik erkennen lassen. So erhalten auch verschiedene Spielwei­sen auf demselben Bauteil – zum Beispiel auf, vor und hinter dem Steg – verschiedene Schriftzeichen, deren symbolische Verwandtschaft wenig zwingend erscheint.

Die Uraufführung des Quartetts bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt führte 1963 zu einem veritablen Skandal. Selbst das dort versammelte Fachpublikum erlebte das vom Komponisten später überarbeitete Werk als einen radikalen Bruch mit der exponierten Gattung Streichquartett, in dessen Tradi­tion sich von Biels Stück trotz aggressiven Wütens gleichwohl einreiht. Wegen der losen Faktur und unübersichtlichen Notation blieb es nach der spektakulären Premiere weitgehend folgenlos. Es erfuhr kaum weitere Aufführungen und zunächst auch keine Fortsetzung durch andere Komponisten. Insofern ist von Biels Zweites Streichquartett ein Schlüsselwerk, das der Gattung zwar das Tor zu neuen Spiel- und Klangpraktiken aufstieß, damals aber von kaum jemanden fortgesetzt wurde. Nicht einmal von Biel selbst ging den von ihm eröffneten Weg weiter. Stattdessen verabschiedete er sich überhaupt von der Musik. 1968/1969 studierte er bei Josef Beuys an der Düsseldorfer Kunstakademie und betätigt sich seither vor allem als bildender Künstler.

Erst knapp zehn Jahre später knüpfte Helmut Lachenmann an von Biels Zweites Streichquartett an. Den dort erweiterten Spieltechniken räumte Lachenmann im Gespräch mit Heinz-Klaus Metzger rückwirkend so etwas wie eine Schlüsselwirkung ein: „... ich hatte dieser Tat vom Aspekt der gewaltsamen Brechung des Streichquartett-Tabus nichts weiter hinzuzufügen, als dem eine auf sich selbst bezogene logische Funktion zu geben. Wo Michael von Biel den Zaun eingerissen hatte, ging es darum, sich auf der ganzen Breite der so erweiterten Fläche ernsthaft anzusiedeln.“19 Wie von Biels Zweites Streichquartett ist Lachenmanns Erstes Streichquartett „Gran Torso. Musik für Streichquartett“ (1971/1972, revidiert 1976 und 1988) ein weiterer Schritt auf dem Weg der kompositorischen Emanzipation des Klangs beziehungsweise Geräuschs. Dennoch geht es Lachenmann nicht primär um die Erweiterung des Klangspektrums durch geräuschhafte Ereignisse. Ihn interessieren nicht einfach die neuen Klänge selbst, die eine ganz eigene Körperlichkeit und sinnliche Schönheit entfalten. Vielmehr wollte er in erster Linie die mechanisch-energetischen Voraussetzungen freilegen, die zur instrumentalen Hervorbringung von Klang nötig sind. Lachenmann komponiert daher nicht einfach „fertige“ Klänge, sondern deren Erzeugung unter den spezifischen baulichen Bedingungen der traditionellen Instrumente. Neben eigenen Erfindungen bedient er sich dabei auch der verfremdeten Spieltechniken, die zuvor bereits von Biel erkundet hatte. Auch Lachenmann wandelt die Bogenführung ab und überträgt Spielweisen auf Bauteile, die sonst nicht direkt bespielt werden. Der vertraute Apparat des Streichquartetts erscheint so völlig umgebaut, getreu Lachenmanns Maxime: „Komponieren heißt: ein Instrument bauen.“20

Ein „Schlüsselwerk“ ist „Gran Torso“ gleich in mehrfacher Hinsicht:

Erstens, weil der Komponist hier einen Paradigmenwechsel vollzieht, weg vom klingenden Resultat hin zu den konkreten instrumentalen Bedingungen der Klangproduktion, auf deren Ebene er strukturell arbeitet, sprich komponiert, und zwar mit Techniken, die man durchaus als „klassisch“ bezeichnen könnte. Denn auch hier finden sich Kontrapunkt, Polyphonie, Durchführung, motivische Arbeit und durchbrochener Satz.

Zweitens ist „Gran Torso“ ein „Schlüsselwerk“ wegen des Perspektivwechsels des Hörens, weg vom gewohnten „fertigen“ philharmonischen Ton hin zu den „metamor
phen Prozessen“,21 die sich hinter den Klängen auf der Ebene der konkreten instrumentalen, baulichen und mechanisch-energetischen Voraussetzungen ihrer Hervorbringung ereignen. Eben hierauf bezog Lachenmann seinen Definitionsversuch von Schönheit als „Verweigerung des Gewohnheit und Verdinglichten“.22 Man sieht auf dem Podium das altvertraute Quartett, hört aber so gut wie nichts von dessen gewohntem Streicherklang. Im Idealfall führt diese Diskrepanz dazu, dass die Hörer sich mit dem neuen Ordnungssystem der schattenhaften Klangwelt zugleich auch das Kategoriensystem ihres eigenen Musikhörens bewusst zu machen versuchen. Eben dieses selbstreflexive Moment beim Hören von Musik – wie es auf gänzlich andere Weise auch Cages 433 auslöst – ist Lachenmanns zentrale ästhetische Wirkungsabsicht: „Der Gegenstand von Musik ist das Hören, die sich selbst wahrnehmende Wahr­nehmung.“23 Indem das Erleben von Musik gleichzeitig zur Selbsterfahrung des Hörers wird, mithin also zu einer „existentiellen Erfahrung“, gibt Musik den Hörern einen Schlüssel zum eigenen Selbst- und Weltverständnis an die Hand, denn: „Musik hat Sinn doch nur, insofern sie über die eigene Struktur hinausweist auf Strukturen, Zusammenhänge, das heißt: auf Wirklichkeiten und Möglichkeiten um uns und in uns selbst.“24

Drittens ist „Gran Torso“ ein Schlüsselwerk, weil sich Lachenmann hier nach einer Phase des möglichst radikalen Neuanfangs der seriellen Musik wieder bewusst mit einer der am stärksten durch die Tradition geprägten Gattung auseinandersetzt. Die erste Nachkriegsgenera­tion hatte dies damals (noch) strikt abgelehnt. Luigi Nono und Karlheinz Stockhausen schrieben ihre einzigen Streichquartette erst Jahrzehnte später und Pierre Boulez hielt sich nach seinem frühen „Livre pour quatuor“ (1948/ 1949) von der Gattung fern. Erst die nächst jüngere Generation, die Mitte der siebziger Jahre mit dem Schlagwort „Neue Einfachheit“ etikettiert wurde, knüpfte umso reger wieder an den Ausdrucks-, Formen- und Gattungskanon der musiksprachliche Tradition an. Unter dem Aspekt des Traditionsbezugs klassifizierte Lachenmann „Gran Torso“ selbst als eine Art „Schlüsselwerk“ für das eigene Schaffen, insofern sein in „Air“ (1968/1969), „Pression“ (1969/1970) und „Kontrakadenz“ (1970/1971) erprobter Ansatz der „musique concrète instrumentale“ hier „zum erstenmal mit einem so traditionell besetzten, in seiner Vertrautheit weithin tabuisierten Klangapparat wie dem des Streichquartetts konfrontiert worden“ sei.25

In gleicher Weise suchte Lachenmann in vielen nachfolgenden Werken die Auseinandersetzung mit traditionellen Besetzungstypen, mit Streich- und Sinfonieorchester, Klarinettenkonzert, Gitarrenduo, Suite, Oper und Klavierlied. In seinem Streichquartett schreibt er die Tradition der Gattung gerade in dem Maße fort, in dem er mit ihr bricht und sie – wie der Untertitel „Musik für Streichquartett“ signalisiert – zur bloßen Besetzungsangabe neutralisiert. Der Obertitel „Gran Torso“ zielt dabei sowohl auf die zu Bruch komponierte Gattung, die selbst noch als Ruine Größe ausstrahlt und als „Trümmerfeld und Kraftfeld in einem“26 wirkt, als auch auf den auskomponierten Fragmentcharakter einzelner Werkabschnitte, die sich an der unteren Hörschwelle bewegen oder – im Sinne offener Formkonzeption – sich noch in andere Bereiche hätten entwickeln können, wie es Lachenmann mit dem Aufgreifen der erstickten Bartók-Pizzikati aus der Schlusspassage später im Gitarrenduo „Salut für Caudwell“ getan hat.27

Viertens ist „Gran Torso“ hinsichtlich der Notation ein Schlüsselwerk. Wie von Biel benötigt Lachenmann neue Symbole, um alle neuen Spieltechniken adäquat fixieren zu können. Dazu erfindet er sinnfällige Schlüssel und Zeichen, die klar erkennen lassen, wann ein Musiker welche Aktion wie auf welchem Bauteil seines Instruments auszuführen hat. Statt der üblichen Violin- , Bratschen- und Bassschlüssel notiert er stellenweise „Instrumentenschüssel“, die graphisch aus der Perspektive der Spieler die zu bespielenden Bauteile beziehungsweise Saitenabschnitte angeben: hinter dem Steg, auf dem Steg, vor dem Steg, auf dem Griffbrett. Lachenmann vollzieht damit zumindest partiell einen weiteren Paradigmenwechsel, nämlich weg von der herkömmlichen Resultatnota­tion, hin zu einer partiellen Aktionsschrift, die das tradi­tionelle Fünfliniensystem so weit als möglich beibehält, den Spielern aber ansonsten genaue Handlungsanweisungen gibt, wann sie wo, was und wie auszuführen haben, ohne die aus diesen Aktionen resultierenden Klänge selbst zu verzeichnen. Indem Lachenmann seine neuen Schriftzeichen und Schlüssel systematisierte und nach Möglichkeit bei anderen Instrumentenfamilien und Werken beibehielt, standardisierte er seine Notation in solcher Weise, dass sie sich auch über den Kreis seiner zahllosen Schüler und Schüler-Schüler hinaus durchsetzte.28

Schlüssel ohne Werk

Die Klangkünstlerin Christina Kubisch realisierte eine Arbeit ihrer audiovisuellen Werkserie „Clouds“ 2011 für das Museum Ostwall in Dortmund, wo es heute im Dortmunder U zu sehen und zu hören ist. Durch eine im Raum plazierte Kabelskulptur fließt Strom, dessen elektromagnetische Wellen durch spezielle Kopfhörer mit Induktionsspulen in akustische Schallwellen umgewandelt werden. Aufnahmen solcher Induktionsklänge legte Kubisch auch ihrem gleichnamigen Stück „Cloud“ (2010/ 2011) auf der CD „Dichte Wolken“ (CD Edition Museum Ostwall 03, Dortmund, 2012) zugrunde. Statt der Kabel­skulpturen wurden dort elektromagnetische Felder technischer Anlagen hörbar gemacht: Stromzentralen, Server, Festplatten, Navigationssysteme, Internetsignale und anderen digitale Quellen. Aus Strom- und Datenwolken werden Klangwolken, die sich wie die Dampfgebilde am Himmel ständig wandeln, an- und abschwellen, ihre Konturen verändern, hinter vordergründigem Dröhnen feine Melodien erkennen lassen, sich intern umbauen, Frequenzen abstoßen und neue Substanzen aufnehmen.

Ursprünglich hatte Kubisch ihre Induktionskopfhörer für ihr Projekt „Electrical Walks“ entwickelt, das nach seiner Premiere beim vierten Kölner Klangkunst-Festival „perSON“ 2004 zahlreiche Adaptionen in anderen Städten und Räumen erfahren hat. Die Teilnehmer dieser „Elektrischen Spaziergänge“ erhalten einen Induk­tionskopfhörer, mit dem sie eigenständig oder nach einem von der Künstlerin zuvor festgelegten Weg durch eine Stadt oder einen Raum wandern. Die Kopfhörer machen den Spaziergängern dann sämtliche unter- und oberirdischen elektrischen Systeme hörbar, die im urbanen Raum nahezu allgegenwärtig sind: elektrische Leitungen, Kabel, Trafostationen, Lampen, Lüftungen, Klimaanlagen, Rolltreppen, Türenöffner, Leuchtreklamen, Züge, U-Bahnen, et cetera. Was den menschlichen Ohren sonst unzugänglich bleibt, machen die Induktionskopfhörer als vielstimmiges Sirren, Schwirren und Summen hörbar. Insofern wirken Kubischs Hörspaziergänge als Ohrenöffner, mithin wie „Schlüssel“, die Zugänge zu einer geheimen Welt eröffnen, die uns tagtäglich umgibt, ohne dass wir sie wahrnehmen.

Um ein „Werk“ im eigentlichen Sinne handelt es sich dabei jedoch nicht. Denn die Hörer erschließen sich die elektromagnetischen Felder auf individuell verschiedenen Spaziergängen beziehungsweise indem sie sich den Kabelskulpturen auf je eigene Weise nähern, sie umkreisen, ihre Köpfe in sie hineinstecken, den Kabeln folgen oder sich von diesen entfernen, so dass jeder sein eigenes elektronisches Konzert „komponiert“. An die Stelle von Einmaligkeit, Unveränderbarkeit und Identität eines „Werks“ treten Offenheit, Mobilität, Variabilität und die Prozesshaftigkeit vieler möglicher Umgangsweisen mit den Kopfhörern beim Erschließen der elektromagnetischen Skulpturen beziehungsweise Stadtlandschaften. Kubischs „Clouds“ und „Electrical Walks“ stehen damit stellvertretend für Arbeiten, die zwar durchaus „Schlüsselfunktion“ haben, ohne im traditionellen Sinne „Werk“ zu sein.

Das Kompositum „Schlüssel-Werk“ ist folglich nicht nur kritisch auf den Begriff „Schlüssel“ zu befragen, sondern in gleicher Weise auf „Werk“. Schließlich gibt es außerhalb des auf der Fortschrittsidee von einem Werk zum nächsten basierenden westlichen Kulturraums auch Musikkulturen, die ohne die Kategorien Werk und Fortschritt auskommen. Außerdem bestanden einige der folgenreichsten Ansätze der neuen Musik nach 1950 gerade darin, die romantische Kategorie des von einem bestimmten Autor ein für alle Mal fixierten Werks – des opus perfectum et absolutum – aufzulösen zugunsten offener, integrativer, ortsbezogener, mobiler, flexibler, interaktiver, partizipativer Erscheinungsformen. Deren veränderte Konzeptionen prägten neue Verhältnisse von Komponist, Interpret, Raum und Publikum mit neuen Aufführungspraktiken und neuen Wahrnehmungsweisen. Das sind zwar keine Werke mehr, aber deswegen nicht weniger Schlüssel, sprich Türen- und Ohrenöffner für neue Formen von Musik und Musikhören.

1Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe, Tabulae votivae, in: Schiller, Gedichte/Dramen I (= Sämtliche Werke, Band 1), München: Hanser, achte Auflage, 1987, 303.

2Vergleiche Gisela Gronemeyer, „,No Entry to the Lions Club‘. Zur „Kölner Schlüsselwerksliste“, in: MusikTexte 120, Köln, Februar 2009, 79–81.

3Vergleiche Rainer Nonnenmann, „Sesam öffne Dich! Die neue ON-Konzertreihe mit Schlüsselwerken der neuen Musik“, in: MusikTexte 120, Köln, Februar 2009, 78–79.

4Andreas Ballstaedt, Wege zur Neuen Musik. Über einige Grundlagen der Musikgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, in: Neue Studien zur Musikwissenschaft, herausgegeben von der Kommission für Musikwissenschaft der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz Band 8, Mainz: Schott, 2003, 198.

5Arnold Schönberg, „Neue Musik, veraltete Musik, Stil und Gedanke“ (1930/1946), in: Derselbe, Stil und Gedanke, herausgegeben von Ivan Vojtech, Frankfurt am Main:
Fischer, 1992, 41 und 42.

6Willi Reich, Arnold Schönberg, oder: Der konservative Revolutionär, Wien: Molden, 1968.

7Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik (1948), Frankfurt am Main: Suhrkamp, vierte Auflage, 1969, 19.

8Ebenda.

9Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie (posthum 1970), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973, 9.

10Mathias Spahlinger, „vorläufiges zu theodor w. adorno“, in: Theodor W. Adorno. Der Komponist ( = Musik-Konzepte Band 63/64), herausgegeben von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München: (edition text + kritik), 1989, 34.

11Heinz-Klaus Metzger, zitiert nach „Konstellationen 2010: Musik und Sprache. Isabel Mundry und Mathias Spahlinger im Gespräch mit Stefan Fricke“, in: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, Band 21, herausgegeben von Michael Rebhahn und Thomas Schäfer, Mainz: Schott, 2012, 55.

12Mathias Spahlinger, zitiert nach Armin Köhler: „Aus der Höhle des Löwen. Gedanken zur Streichquartettdiskussion am Beginn des 21. Jahrhunderts“, in: Programmheft der Donaueschinger Musiktage 2010, Saarbrücken: Pfau, 2010, 17.

13Vergleiche Geschichte der Musik als Gegenwart. Hans Heinrich Eggebrecht und Mathias Spahlinger im Gespräch (= Musik-Konzepte Sonderband), herausgegeben von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München: edition text + kritik, 2000, 15.

14Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, herausgegeben von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973, 59.

15Mathias Spahlinger, siehe Anmerkung 13, 24.

16Mathias Spahlinger, zitiert nach Armin Köhler, „Aus der Höhle des Löwen“, siehe Anmerkung 12, 17.

17Vergleiche Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1974, 108.

18„Konstellationen 2010: Musik und Sprache. Isabel Mundry und Mathias Spahlinger im Gespräch mit Stefan Fricke“, siehe Anmerkung 11, 55.

19Helmut Lachenmann, „Fragen – Antworten. Gespräch mit Heinz-Klaus Metzger“ (1988), in: Derselbe, Musik als exis­ten­tielle Erfahrung. Schriften 1966–1995, herausgegeben von Josef Häusler, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 1996, 199.

20Lachenmann, „Über das Komponieren“ (1986), ebenda, 77.

21Hans-Peter Jahn, Metamorphe Prozesse in den Komposi­tionen von Helmut Lachenmann. Bemerkungen zu „Gran Torso“ für Streichquartett und „Salut für Caudwell“, in: Helmut Lachenmann, Beiheft zur CD, col legno 1988..

22Lachenmann, „Zum Problem des musikalisch Schönen heute“ (1976), siehe Anmerkung 19, 109.

23Lachenmann, „Hören ist wehrlos – ohne Hören. Über Möglichkeiten und Schwierigkeiten“ (1985), ebenda, 117.

24Lachenmann, „Vier Grundbestimmungen des ­Musikhörens“ (1979), ebenda, 62.

25Lachenmann, „Über mein Zweites Streichquartett (,Reigen seliger Geister‘)“ (1994/1995), ebenda, 227.

26Lachenmann, Werkkommentar zu „Fassade“ (1973), ­ebenda, 388.

27Vergleiche Rainer Nonnenmann, „Ästhetische Neuorien­tierung und die Beschränkung auf den konventionellen Klangapparat – ,Gran Torso. Musik für Streichquartett‘“, in: Derselbe, Angebot durch Verweigerung. Die Ästhetik des instrumentalkonkreten Klangkomponierens in Helmut Lachenmanns frühen Orchesterwerken (= Kölner Schriften zur Neuen Musik Band 8), Mainz: Schott, 2000, 157–160.

28Matthias Hermann und Maciej Walczak, Erweiterte Spieltechniken in der Musik von Helmut Lachenmann, CD-ROM, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 2013.