MusikTexte 152 – Februar 2017, 99–100

Der bunte Hund unter den Festivals

Die November Music im südniederländischen ’s-Hertogenbosch

von Rainer Nonnenmann

Im Jahreslauf ist der November der Schwerenöter: Die Bäume verlieren das Laub, die Tage werden dunkler, trüber und verheißen Allerheiligen, Allerseelen, Buß- und Bettag, Volkstrauertag und Totensonntag. Manchen hilft gegen Spätherbstdepression Prinz Karneval. Wer am 11. 11. der kalendarisch verordneten Serotoninspritze durch Flucht in die calvinistisch geprägten Niederlande zu entkommen sucht, gerät in ’s-Hertogenbosch unversehens vom Regen in die Traufe. In der traditionell katholisch geprägten Provinzhauptstadt von Nordbrabant machen zehntausende Jecken aus dem karnevalistischen Sessionsbeginn gleich drei Tage. Sie ziehen mit Blaskapellen singend und tanzend durch Gassen, Kneipen, Festzelte. Gleichzeitig erreicht das seit 1993 bestehende zehntägige Festival November Music seinen Schluss- und Höhepunkt. Dessen finales Wochenende bot allein über fünfzig gut bis sehr gut besuchte Konzerte, Performances, Installationen, Filme und Tanzprojekte verteilt auf mehr als zwanzig Spielstätten. Und die von den Leitern Bert Palinckx und Theo van Dooremalen ausgewählte „Musik von jetzt von den Machern von jetzt“ war so buntscheckig wie das Treiben draußen, mit dem sie wahlweise koexistierte, kollidierte, kommunizierte und kooperierte.

Der 1972 geborene Janco Verduin – Schüler von Louis Andriessen und Richard Ayres – schrieb „Distortion“ für je zwei Hammonorgeln, E-Gitarren und Schlagzeuger sowie die Laienblaskapelle Orkest de Ereprijs. Nach ebenso minimalistisch wie rhythmisch komplex überlagerten Wiederholungsmustern rauschten Blechbläser und Saxophonisten ähnlich klangvoll auf wie die Faschings-Bandas. Von repetitivem Minimalismus geprägt zeigte sich auch das Konzert der Bow Hammer Connection, einem Duo von Geigerin Isa Goldschmeding und Drummer Brendan Faegre. Neben Werken von Faegre selbst sowie von John Adams, Molly Joyce, David Lang und einer Coverversion von „Bull in the Heater“ der New Yorker Band Sonic Youth schlug der düstere Marsch „Hammerhead“ des niederländisch-amerikanischen Komponisten David Dramm eine weitere Brücke zu den lautstarken Umzügen. Und während am Abschlusstag die Jecken durch die Stadt defilierten, gaben Dutzende von Ensembles und Bands von Mittag bis Abend im Rahmen einer großen Kunst Muziek Route eine Serie vielfältiger Konzerte mit Jazz, Weltmusik, Performance, Dance, Folklore, Rock, Noise und neuer Musik. Stil- und spartenübergreifende Buntheit ließen auch viele weitere Konzerte erkennen.

Der kollektiven Ekstase stemmten sich einige spirituelle Werke entgegen. Im für Kammermusik bestens geeigneten Toonzaal, einer säkularisierten Kirche von dezent mitatmender Akustik, spielte das Streicherconsort Holland Baroque neben Arvo Pärts Evergreen „Fratres“ die Uraufführung von Theo Loevendies „Nachklang“. Der heute sechsundachtzigjährige Altmeister bezieht sich darin auf Bachs Drittes Brandenburgisches Konzert. Und tatsächlich gibt es neobarocke Figuren, konzertierende Dialoge und fugierte Passagen. Als Solist spielte Blockflötenstar Erik Bosgraaf, der mit Berios „Gesti“ auch eine Inkunabel neuer Blockflötenmusik präsentierte. Neunzig Minuten klösterliche Weltabgewandtheit bereitete dagegen Pärts „Kanon Pokajanen“, aufgeführt von der exzellenten Cappella Amsterdam unter Leitung von Daniel Reuss in einer zum Hieronymus Bosch Art Center umfunktionierten Kirche. Während tonale Dreiklänge göttliche Harmonie symbolisieren, sind Sekundreibungen Ausdruck der in Sünde gefallenden Seele, deren Dissonanz zur göttlichen Vorsehung nur durch die Gnade der Auflösung zur Konsonanz abgeholfen werden kann. Weichem Wohlklang verpflichtet ist auch – wenngleich nicht derart ideologisch aufgeladen – Wolfgang Rihms 2009 entstandenes Requiem „Et Lux“, dessen querständige Klauseln an die Vokalpolyphonie von Carlo Gesualdo erinnern. Irdische Kon­traste erfuhr die intensive Aufführung des Huelgas Ensembles mit Dirigent Paul van Nevel durch das stellenweise perkussiv agierende Minguet Quartett sowie von draußen in die Grote Kerk dringendes Faschingsgetrommel.

Die Überakustik der Kirche erwies sich für Rihms Totenfeier als geeignet, war dem Orchesterkonzert der Philharmonie Zuidnederland unter Leitung von Jamie Philips jedoch abträglich. Auf dem Programm standen Werke, die sich anlässlich des fünfhundertsten Todesjahrs von Hieronymus Bosch auf Gemälde des berühmten Genius Loci bezogen. Neben Werken von Wim Hendrickx und Detlev Glanert – dem diesjährigen Festivalkomponisten – gab es zwei Stücke von Willem Jeths. Sein „Quale Coniugium“ bezieht sich auf Boschs berühmtes Triptychon „Garten der Freuden“ und sein „Monument to a Universal Marriage“ auf den zehnten Jahrestag der weltweit ersten Eheschließung eines gleichgeschlechtlichen Paars 2001 zwanzig Kilometer südlich in Best. Statt freudiger Bewegung schrieb der 1959 geborene Komponist jedoch salbungsvoll-nostalgische Wagnerismen und eindimensional kreisende Lamenti für Sopran und Mezzosopran in melancholisch umflortem Mollgewand. Ganz anders Jeths ungestümes Drittes Streichquartett, 2004 für das Kronos Quartet entstanden und nun vom Arditti Quartet wiederaufgeführt. Die Charaktere wechseln sprunghaft, sind geräuschhaft, furios, mikrotonal, zart, oder zitieren Bergs „Lyrische Suite“. Die belgische Komponistin Annelies van Parys zeigte in ihrem Quartett „Come fiume Incessante“ – ihrem Lehrer Luc Brewaeys gewidmet – impulsive Gesten und Wechsel zwischen vielstimmigen und akkordischen Passagen. Durch konsequent durchbrochene Arbeit ließ sie aus polyphonen Gewirken unversehens wie bei einer Zauberharfe eine von Instrument zu Instrument wandernde Melodie emporsteigen.

In der zentralen Spielstätte Verkadefabriek – einem umgebauten Industriekomplex mit Gastronomie und mehreren Sälen – widmete sich eine Podiumsdiskussion der Frage nach der Existenz eines niederländischen Komponierstils. Moderator Lex Bohlmeijer befeuerte die Debatte mit der These, vor zwanzig Jahren sei noch klar gewesen, dass niederländische Musik diejenige von Louis Andriessen sei, während heute stilistischer Pluralismus herrsche. Junge Komponisten stammen aus verschiedenen Herkunftsländern und interessieren sich – wie andernorts – immer stärker für popkulturelle Erscheinungen. Diskussionen über nationale Ästhetiken speisen sich zumeist aus zweierlei: der Angst vor Identitätsverlust und globalem Einheitsbrei sowie aus der Hoffnung auf international verschiedene Erscheinungsformen von Musik, von denen dann allerdings egal sein sollte, ob sich die Besonderheit einer Musik spezifisch nationaler Prägung verdankt oder einfach den persönlichen Eigenheiten des jeweiligen Künstlers. Der mit mehreren Werken im Festival vertretene Willem Jeths hatte als erster „Komponist des Vaterlands“ ein Jahr lang die niederländische Musik im In- und Ausland vertreten. Jetzt outete er sich als Internationalist und zugleich Antimodernist. Obwohl im Festival auch Werke von Glanert, Henze, Rihm und Poppe gespielt wurden und er es eigentlich hätte besser wissen können, identifizierte Jeths die „deutsche Musik“ mit dem bei der November Music 2015 vorgestellten Lachenmann: „We are fed up with these avantgardistic things like Lachenmann.“ Jeths lieferte so ein Beispiel dafür, dass trotz der allseits beschworenen globalen Reise-, Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten die Unkenntnis über die Musik jenseits der eigenen Landes-, Sprach- und Kulturgrenzen weiterhin eben das bleibt, was sie immer schon war: grenzenlos. Umgekehrt wirkte auf ausländische Beobachter der Einfluss des Minimalismus nach wie vor ungebrochen auf viele niederländische Komponisten, etwa auf Janco Verduin, David Dramm, Brendan Faegre, Anthony Fiumara, Joey Roukens, Pouwe Eisenga und Rob Vermeulen, die teils wie An­driessen vom selben Verlag Donemus vertreten werden.

Anlass zur Podiumsdiskussion gab ein internationales Besucherprogramm, das ausländische Kuratoren zum Abschlusswochenende der November Music eingeladen hatte. Angereist waren Festivalleiter und Ensemblemanager aus Berlin, Helsinki, Huddersfield, Leuven, Paris, Vilnius und Zagreb, um nach Möglichkeit neue Kooperationen anzubahnen und niederländische Komponisten kennenzulernen. Demselben Zweck dienten auch Präsentationen von niederländischen Verlagen und ein Spin Dating im Zehnminutentakt mit niederländischen Komponisten. Immerhin per Video lernten die Veranstalter so einen Ausschnitt aus der beeindruckenden Aktions-Text-Klang-Komposition „I Delayed People’s Flights By Walking Slowly In Narrow Hallways“ der 1972 geborenen Mayke Nas kennen, der aktuellen „Komponistin des Vaterlands“. Von ihr war als Uraufführung das Ensemblewerk „Unraveled“ zu erleben. Zwischen sicht- und hörbar agierende Cellistinnen mischten sich zunächst ähnliche, dann zunehmend verschiedene Klänge des hinter einem Vorhang verdeckt spielenden Slagwerk Den Haag. Internationale Kooperationen waren die Gastspiele von Quatuor Diotima und Arditti Quartet. Ersteres bot die niederländische Erstaufführung von Enno Poppes „Buch“, letzteres die von Jennifer Walshes „Every­thing is important“. Walshe überfordert darin sich und ihr Publikum mit einer Überfülle an Textschnipseln, Videosequenzen, Tabellen, Graphiken, Bildern, Klängen. Um was es geht, bleibt allerdings vage. Immerhin zu ahnen sind das Sterben der Autostadt Detroit, Großstadtalltag, Kulturmüll, Internettrash, Krisen, Kriege, Umweltzerstörung … Die Ardittis agieren bloß im Hintergrund als Backstage Boys, die minutenlang auf dieselbe Weise ihre Instrumente schaben, monoton mit Plektren schlagen oder sirrender Elektronik eine weitere Farbe hinzufügen, während die Composer-Performerin vorn einen nicht enden wollenden Wort- und Lautschwall von sich gibt, schnattert, faucht, heult, hechelt, schreit, zischt, fuchtelt. Schließlich ist es Auge in Auge mit dem Untergang der Menschheit wirklich zum Hysterischwerden. Walshes Exzentrik entfaltet durchaus expressive Qualitäten. Doch wo alles gleich wichtig ist, wird letztlich alles irrelevant. Das Streichquartett spielt sowieso keine Rolle. Die Totalität „Everything“ ist kein künstlerisches Konzept, und gespielte Hysterie kein Rezept zur Rettung der Welt.