MusikTexte 154 – August 2017, 40–46

Austausch zwischen den Sphären

Nicolaus A. Huber bei den Darmstädter Ferienkursen

von Rainer Nonnenmann

Die Bildung der fünf Sinne ist eine Arbeit der ganzen Weltgeschichte. Karl Marx1

Seine Besuche der Internationalen Ferienkurse für Neue Musik Darmstadt ab 1966 bezeichnete Nicolaus A. Huber rückblickend als etwas „Unverzichtbares“ in seinem Leben. Geradezu als „umwerfend“ erlebte er dort 1967 Karlheinz Stockhausens Kompositionskurs „Ensemble“. Im Herbst desselben Jahres ging er mit einem DAAD-Stipendium nach Venedig zu Luigi Nono, der damals längst mit Darmstadt gebrochen hatte und seinen Schüler nun als „deutschen Ersatzmann“ stellvertretend für alles beschimpfte, was ihn an den Ferienkursen und der Bundesrepublik störte. Dennoch besuchte Huber die Kurse weiterhin. 1970 erhielt er dort den Kranichsteiner Musikpreis für „Versuch über Sprache“. Bei den Ferienkursen wurden auch andere seiner Werke uraufgeführt, etwa „Parusie“ und das skandalträchtige „Harakiri“. Als Referent sprach Huber bei den Darmstädter Ferienkursen nur ein einziges Mal: 1988 über „Konzeptionelle Rhythmuskomposition“.

Seitdem glänzt Huber bei den Ferienkursen durch Abwesenheit, obwohl dort seit etwa 2008 jüngere Komponisten – auch ehemalige Schüler – teils ganz ähnliche Anliegen wie einst er vertreten. Unter mehr oder minder griffigen Selbstverschlagwortungen wie „Diesseitigkeit“ (Martin Schüttler), „Neuer Konzeptualismus“ (Johannes Kreidler), „Diskurskomposition“ (Patrick Frank), „Extended Music“ (Simon Steen-Andersen), „New Discipline“ (Jennifer Walshe), „Contextual Composing“ (Michael Maierhof) oder „Social Composing“ (Brigitta Muntendorf) zielen diese und andere Komponisten der gegenwärtig jüngeren und mittleren Generation – wie Huber ab Ende der Sechzigerjahre – darauf, verschiedene institutionell getrennte Sphären des Denkens, Fühlens, Wissens und Handelns der komplex ausdifferenzierten Gesellschaft zusammenzubringen und die Verhältnisse der künst­­lerischen Produktion, medialen Distribution und gesellschaftlichen Rezeption von Musik kritisch zu befragen. Auch wenn sich von den Jüngeren gegenwärtig kaum jemand ausdrücklich auf Hubers „kritisches Komponieren“ beruft, wirkt dessen bald fünfzig Jahre alter Denkansatz virulenter denn je: Unter den spezifischen Bedingungen der Musik solche Probleme behandeln, „die den Menschen betreffen, aber sich in Musik widerspiegeln“.2

Waldkirchen, Passau, München, Darmstadt

Im Gegensatz zu seinem später reichen Erfahrungsschatz und weiten Horizont erlebte Nicolaus A[nton] Huber die Umgebung seiner Kindheit und Jugend zunächst als musikalisch defizitär. 1939 in Passau geboren und in Waldkirchen – dreißig Kilometer nordöstlich davon – aufgewachsen, konnte er neue Musik zunächst nur im Radio erleben. In seinem Heimatort kannten derartige Musik weder der Organist noch der Musik- und Klavierlehrer. Kaum besser erging es Huber am Humanistischen Gymnasium in Passau. Erst als er nach dem Abitur an der Münchner Musikhochschule Schulmusik studierte, war er von neuer Musik umgeben und nahm alles begierig auf: Konzerte der von Karl Amadeus Hartmann geleiteten Reihe „musica viva“ des Bayerischen Rundfunks, Veranstaltungen des von Fritz Büchtger organisierten „Studio für Neue Musik“ sowie der von Josef Anton Riedl 1960 initiierten Reihe „Neue Musik München / Klang-Aktionen“ und des ebenfalls von Riedl 1967 gegründeten Ensembles „Musik/Film/Dia/Licht-Galerie“, in dem Huber auch selbst mitwirkte. Er erlebte Aufführungen der damals neuesten Werke von Nono, Stockhausen, Ligeti, Schnebel, Kagel und anderen. Zudem studierte er die Hefte der von Herbert Eimert und Stockhausen herausgegebenen Zeitschrift „die Reihe“ sowie die Bände der „Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik“, in denen ausgewählte Vorträge der jeweils vorjährigen Ferienkurse erschienen. Schließlich erhielt er Gelegenheit, einige Monate in dem von Riedl geleiteten Elektronischen Studio der Firma Siemens zu arbeiten.

Noch während seines anschließenden Referendariats im Schuldienst begann Huber an der Münchner Hochschule ein Kompositionsstudium bei Franz Xaver Lehner und Günter Bialas, das er 1967 abschloss. Die Darmstädter Ferienkurse besuchte er erstmalig 1966, erst relativ spät im Alter von sechsundzwanzig Jahren, als er mit seinem gerade vollendeten Streichquartett „Informationen über die Töne e-f“ bereits eine eigenständige Richtung eingeschlagen hatte, während viele andere Komponisten an den Sommerkursen schon mit Anfang zwanzig teilnahmen. Dennoch kam für ihn dieser erste Besuch der Darmstädter Ferienkurse nicht zu spät. Während andere Teilnehmer die dort diskutierten seriellen, aleatorischen und informellen Ideen und Werke als Schock erlebten, zeigte sich Huber vom künstlerischen Geist der Dozenten fasziniert. Vor allem begeisterte ihn das Musikdenken Stockhausens, während ihn das Desinteresse vieler Studenten schockierte.

1966 war eigentlich nicht spät, für mich persönlich war es eher mitten drin, weil es für mich immer noch in die Zeit der Defizite fiel. Ich habe in Darmstadt natürlich alles aufgesogen, und war zugleich darüber erschrocken, wie konservativ die Kursteilnehmer waren. Mit vielen habe ich diskutiert und einfach festgestellt: Die wenigsten waren an Musik interessiert, die meisten wollten nur gucken, was da so los ist, als ob es eine musikalische Modenschau wäre. Ich kann mich noch erinnern, wie in Darmstadt „In C“ von Terry Riley aufgeführt worden ist. Am Schluss war da nur noch Siegfried Palm auf der Bühne, um auf dem Cello seine letzten Module zu spielen, wie ein Wahnsinniger, weil er alleine war, und im Publikumsraum war nur noch ich. Meiner Ansicht nach waren über neunzig Prozent der Teilnehmer borniert. Schulmusiklehrer kamen mit Vorurteilen, weil sie dachten, Krawall muss es geben. Für mich waren das Entscheidende die Komponisten, wie sie über ihre eigenen Werke, eigenen Erfindungen und Verknüpfungen gesprochen haben, und welche Ausstrahlung das hatte, welcher künstlerische Geist davon ausging.3

Durch Klingen verwandelt: „Ensemble“ 1967

Als Huber nach seinem ersten Besuch der Ferienkurse die Absicht hatte, bei Luigi Nono zu studieren, stand ihm der damals in München lebende Helmut Lachenmann, der schon 1958 bis 1960 als Schüler zu Nono nach Venedig gegangen war, beratend zur Seite. Nono hatte sich bereits 1960 von Darmstadt und insbesondere dem dort als Komponist und Dozent dominierenden Karlheinz Stockhausen im Streit getrennt. Doch bevor Huber im Winterhalbjahr 1967/68 seine Absicht dank eines DAAD-Stipendiums wahrmachte, nahm er im Sommer 1967 erneut an den Ferienkursen und dem dort von Stockhausen geleiteten Kompositionsstudio „Ensemble“ teil.

Wer so defizitär aufgewachsen ist wie ich, musste schon ein gewisses Selbstbewusstsein aufbringen, um zu sagen: Gut, da mache ich mit. Aber ich fühlte mich schon stark genug. Zwar waren das Niveau, die Ästhetik und das Können sehr unterschiedlich, aber das war teilweise auch fruchtbar. Ich glaube, es war Bialas, der mir dringend geraten hat, dahin zu gehen. Denn sein System war: Wer bei mir fertig ist, soll noch ins Ausland. Wir haben lange diskutiert, zu wem ich gehen soll, und das wurde dann Nono, was schon vor „Ensemble“ feststand und damit nichts zu tun hatte. Eher habe ich mit Bialas noch diskutiert, ob ich vor Nono wirklich noch zu Stockhausens „Ensemble“ gehen soll, und er hat gesagt: Unbedingt! „Ensemble“ war dann wirklich eine umwerfende Erfahrung. Wir hatten Partituren eingeschickt, wurden dann ausgewählt und in einem Brief informiert, dass wir Zuspielungen auf Tonband vorbereiten sollten. Ich habe alle meine Beispiele in Waldkirchen auf der Orgel eingespielt. Immer wenn etwas zu lange hoch war, habe ich etwas Tiefes, und wenn sich nichts bewegte, Bewegungen dagegengesetzt, immer anders regis­triert mit anderen Farben. Das ganze Projekt „Ensemble“ war für eine vierstündige Aufführung geplant, und wir hatten dafür vierzehn Tage Zeit. Die ersten acht Tage saßen wir mit Stockhausen nur im Carré und haben uns gegenseitig unsere Pläne und Takes vorgeführt. Stockhausen war von meinem Material gleich begeistert, sonst hätte er mir für die Aufführung nicht dreißig Minuten Zeit gegeben, denn meine Aufnahmen waren amalgamierbar, man konnte da andere Sounds, Strukturen oder was auch immer hineinbringen.

Neben Huber nahmen an Stockhausens Darmstädter Gruppenprojekt elf weitere Komponisten teil, darunter John McGuire und Rolf Gehlhaar, Mesías Maiguashca und Johannes Fritsch. Alle zwölf Komponisten sollten auf der Grundlage der von ihnen mitgebrachten Tonaufnahmen je ein Stück für einen Instrumentalisten mit Tonband oder Kurzwellenempfänger entwickeln. Huber er­­arbeitete dafür eine halbe Stunde Musik, wobei er einen Klarinettisten über weite Strecken Oktaven blasen und dazu per Tonband Orgel-, Radio- und Sprachklänge zuspielen ließ. Zudem markierte er Stellen, an denen die Musiker der anderen elf Soli auf die von ihm konzipierte Musik reagieren sollten. Zum Abschluss des Komposi­tionsseminars wurden schließlich alle zwölf Stücke der beteiligten zwölf Komponisten nach einem von Stockhausen entwickelten vierstündigen Gesamtkonzept in der Aula des Ludwig-Georg-Gymnasiums aufgeführt. Dazu wurde das Ensemble Hudba dneska aus Bratislava im Raum verteilt, während vier weitere Musiker und vor allem Stockhausen selbst an Mischpulten die Lautstärke und Projektion der Klänge über die im Saal verteilten Lautsprecher steuerten. Zwischen den changierenden Klängen konnte das Publikum sich frei bewegen und jeweils andere Perspektiven auf die zwölf Stücke wählen, die mit überleitenden Einschüben sowohl nacheinander als auch synchron aufgeführt wurden.

Für diese vier Stunden gab es ein festes Gerüst mit komponierten und geprobten Soli und dazwischen Duos und Trios. Jeder Instrumentalist und jeder Komponist hatte sozusagen ein „Häuschen“, wie das hieß, doch darüber hinaus gab es sozusagen die totale Freiheit. Im Laufe der ersten acht Tage haben wir neben unseren jeweiligen Soli auch Blätter mit Material angefertigt – Stockhausen nannte das „Nester“ –, mit Angaben darüber, wie etwas zu spielen ist, mit welchen Möglichkeiten und Varianten. Zudem hatte jeder von uns – vor allem ich habe das benützt, wahrscheinlich war ich der Einzige – auch leere Notenblätter, so dass man dem Instrumentalisten falls nötig aufschreiben konnte, was er zu spielen hatte. Wir konnten den Instrumentalisten auch dirigieren, also höher, tiefer, lauter, leise spielen heißen, weil jeder Komponist mit „seinem“ Musiker immer zusammen als Duo auf einem Podest saß. Und rechts vom Musiker, links vom Komponisten war das Tonbandgerät, das man einschalten konnte. Die Mikros vor der Schallquelle und die Abstrahlungen über die Lautsprecher waren dabei sehr komplex verzweigt, teils total gegensätzlich und im Raum gemischt.

„Ensemble“ wurde für die Teilnehmer zu einer tiefgreifenden Erfahrung. Statt wie sonst üblich jeder für sich alleine zu Hause am Schreibtisch zu komponieren, machten alle zusammen in der Gruppe direkte praktische Erfahrungen mit den von ihnen selber gestalteten Klängen. Der improvisatorische und kollektive Charakter wendete sich dabei bewusst ab von individuell gedachter und schriftlich notierter Musik, die im Zuge der Kritik tradi­tioneller Kategorien (Autorschaft, Festlegung, Identität, Objekthaftigkeit, Notation, Werkbegriff) zunehmend als autoritär empfunden wurde. Über die Ferienkurse hinaus traf Stockhausens Kompositionsstudio damit auch ein im unmittelbaren Vorfeld der achtundsechziger Studentenbewegung verbreitetes soziales Bedürfnis.

Die zweiten acht Tage, nachdem die Soli fertig und auch schon einstudiert waren, bestanden aus jeweils vier Stunden Probe mit allen Musikern. Diese Proben waren einfach Klang. Und wir haben innerhalb dieses Klangs versucht, das, was die Musiker vorgetragen haben, durchzusetzen, so dass jeder seinen Abschnitt auch wirklich verantwortlich gestalten konnte. Stockhausen war schließlich auch von meinen Oktaven überzeugt, dass diese wirklich etwas für die Gesamtheit bringen, nachdem er zuerst gedacht hatte, das wäre ganz primitiv. Es erinnerte ihn an die damals neue Strömung der „ABC-Kunst“ in den USA, wo ein Gegenstand nicht als bearbeiteter oder künstlich strukturierter das Interessante war, sondern als unbearbeiteter, zum Beispiel nur ein Balken. Und genau das wollte ich damals auch, denn ich fand, dass dieses Elementare zwar elementar ist, aber zugleich auch äußerst komplex. Und das Umwerfende an „Ensemble“ war eben dieser ununterbrochene Klang. Das war nicht wie ein Radio, aus dem einfach etwas klingt, sondern man konnte das beeinflussen. Und es war auch noch nicht so vorstrukturiert wie ein Stück, das man in der Sendung hört.

Das Ganze war eine Improvisation, die auf Reaktion zielte, also auf Verknüpfungen, wo man ununterbrochen zuhörte und werten musste: Ist es jetzt zu hoch oder zu lang, spielt der zu laut oder der zu leise, und was mache ich? Wenn ich den Oboisten unterstützen soll, was muss ich dann spielen? Und was mache ich, wenn ich ähnlich spielen soll? Ist ähnlich auch unterstützend oder nicht? Es gab Verknüpfungen, die unglaublich an die Wurzel der Struktur gingen, und zwar viel weitgehender, als das im Kompositionsunterricht möglich ist, weil der Klang immer da war. Ich glaube, dass alle von uns durch dieses Klingen wirklich verwandelt waren. Wie bei Archetypen kam man da in Bereiche der Seele hinein, die man dann Gott sei Dank wieder vergisst, denn das ist nicht so einfach. Ich kann mich an einige Leute erinnern, die dachten, sie müssten ihr Leben verändern. Danach war es zunächst einmal eher wie ein Weiterleben auf Stotter-Basis.

Was mit dem Menschen zu tun hat: „Parusie“

An Stockhausens Kompositionsstudio „Musik für ein Haus“ 1968 nahm Huber nicht teil, da ihm die Erfahrung mit „Ensemble“ gereicht hatte. Aber sein erstes Orchesterstück kam zur Uraufführung: Unter Leitung von Hermann Michael spielte das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks „Parusie“ für großes Orchester und Lautsprecher. Wie „von … bis …“ für Kammerensemble (1966) und „Traummechanik“ für Schlagzeug und Klavier (1967) gehört das noch in München bei Bia­las geschriebene Werk zu Hubers „Prinzipien“-Stücken.

Huber ist zu dieser Zeit bereits politisiert und folgt der wenig später durch die Studentenbewegung beförderten linkspolitischen Idee einer Veränderung des Seins durch Veränderung des Bewusstseins. Eben dies meint auch der altgriechische Titel seines Orchesterstücks „Parusie“, der in der platonischen Philosophie so viel wie die Gegenwart der Ideen in den Dingen bedeutet und von Huber durch verschiedene Annäherungen an und Entfernungen von bestimmten Topoi, Spiel- und Instrumentationstypen umgesetzt wurde. Triller, Arpeggien, Tutti­schläge, Kanon­strukturen und konkrete Zitate aus der Musikgeschichte werden dabei als raum-zeitliche Bewegungen in nicht nur klanglichen, sondern auch historischen, physischen, psychischen und sozialen Verhältnissen zu bestimmten Bezugspunkten begriffen.

Ich habe viele historische Instrumentationen gemacht, angefangen bei Haydn jede Woche von einem anderen Komponisten jede Menge Partituren durchgeguckt und selber ein Stück in diesem Stil, in dieser Klanglichkeit instrumentiert. „Parusie“ war sozusagen das kompositorische Ergebnis nach dieser Tour de force des Instrumentierens, also die Folge aus der Erkenntnis, dass Orchestrieren nicht einfach nur eine Sache des Klangs ist, sondern dass Klang historisch bedingt ist. Das war auch eine gute Vorbereitung für Nono, weil der immer historische Analysen gemacht hat. Nono hatte eher historische Weitsichten, während Stockhausen immer elementare Weitsichten hatte. Zu „Ensemble“ hat das sehr gut gepasst, weil ich damals eigentlich alles, was mit Reihe zu tun hat, schon längst aufgegeben hatte, um stattdessen nach Prinzi­pien zu arbeiten, also nach Verhältnissen von etwas, bei „Parusie“ zum Beispiel „Annäherung und Entfernung“ oder das Verhältnis „von – bis“ bei „Informationen über die Töne e-f“ oder bei „Traummechanik“. Diese Verhältnisse waren nie genuin musikalisch, sondern immer auch etwas, was mit dem Menschen zu tun hat, und in die Musik kam. Bei „Parusie“ beziehungsweise Platon ist die Idee unveränderlich, aber alles, was wir sehen, hören, fühlen und so weiter sind keine unend­lichen Dinge, sondern bloß Akzidenzien, weniger vollkommen, nur abgeleitet und von kurzer Lebenszeit. Eben das hat mich damals interessiert. Ein Kanon ist dann nicht bloß eine Satztechnik, sondern eine Entfernung von Stimmen. Und ebenso ist eine Spielweise wie der Triller eine Art der Entfernung von einem Hauptton. Dasselbe gilt auch für Zitate.

Je kahler desto echter: „Versuch über Sprache“

Befördert durch seinen Studienaufenthalt bei Nono in Venedig 1967/68 gelangte Huber zu einer radikal erweiterten Tonalitätskritik. Angeregt durch Nonos Materialkritik vertrat er die Auffassung, dass es nicht wie bisher im Serialismus nur darauf ankomme, das musikalische Material möglichst rigoros von tonalen Besetzungen zu befreien. Stattdessen seien die eingespielten tonalen Reaktionsweisen der Hörer zu überwinden, um letztlich – auch im Sinne von Hubers sozialistischer Politisierung – insgesamt den Menschen zu verändern. Während sein Orchesterstück „Parusie“ bei den Konzerten in Frankfurt und München vom Publikum und der Presse gut aufgenommen wurde, verliefen zwei Jahre später die Reaktionen auf seine Komposition „Versuch über Sprache“ ganz anders, auch wenn er 1970 dafür den Darmstädter Kompositionspreis erhielt. Anlässlich des fünfundzwanzigjährigen Bestehens der Ferienkurse wurde dieser Preis damals erstmalig verliehen, und zwar durch den Oberbürgermeister Ludwig Engel:

Die Bedingungen des Wettbewerbs begrenzen bewusst das Alter der Teilnehmer auf maximal dreißig Jahre, während heute bei anderen Wettbewerben die Altersgrenze meist höher angesetzt wird. Damit und mit den weiteren Bedingungen, dass die eingereichten Kompositionen nicht älter als zwei Jahre und weder veröffentlicht noch aufgeführt sein dürfen, sollte der Wettbewerb in erster Linie sich an junge, noch wenig oder gar nicht bekannte Talente richten. Es sind insgesamt hundertzwei Kompositionen von sechsundfünfzig Komponisten aus fünfundzwanzig Nationen eingereicht worden. Sieben Kompositionen wurden ausgeschieden, da sie die Bedingungen nicht erfüllten. Fünfundneunzig lagen der Jury vor, und zwar den Herren Günter Becker, Heinz Enke, Aloys Kontarsky, Bruno Maderna und Otto Tomek, denen hier der Dank der Stadt Darmstadt für ihre Tätigkeit ausgesprochen werden soll. Die Jury hat einen sehr strengen Maßstab angelegt, wie mir glaubhaft versichert wurde. Sie glaubte, dies der Institution und der Vergangenheit der Ferienkurse schuldig zu sein. In ihrer Resolution, das heißt, in der Resolution der Jury heißt es daher: Angesichts der besonderen Anforderungen, die ein Darmstädter Komposi­tionspreis stellt, sieht sich die Jury außerstande, erste Preise zu nominieren. Sie erkennt den zweiten Preis der Kategorie Eins dem Komponisten Nicolaus A. Huber für seine Komposition „Versuch über Sprache“ zu.4

Während der Preisverleihung gibt es Buhrufe. Mancher im Publikum scheint dem damals dreißigjährigen Huber den Erfolg zu missgönnen. Immerhin ist der Komponist schon beim renommierten Kasseler Bärenreiter-Verlag und zudem Dozent für Musiktheorie und Analyse an der Folkwang Hochschule in Essen. Vor allem motiviert sind die Buhrufe aber durch die vorhergegangene Skandalaufführung des preisgekrönten Stücks. Huber verwendet in „Versuch über Sprache“ an zwei Stellen ex­trem lange ­Töne. Gleich zu Beginn erklingt vom Tonband sechs ­Minuten lang eine pfeifend hohe Sinuston-Oktave. Nur vereinzelt treten Kontrabass, chinesisches Becken, Hammondorgel und der sechzehnstimmige Chor hinzu, die bei der Darmstädter Aufführung jedoch allesamt nur von Tonband abgespielt werden. Da folglich kein Musiker leibhaftig auf der Bühne agiert, benehmen sich Teile des Publikums umso ungenierter. „Versuch über Sprache“ unterläuft radikal sämtliche verinnerlichten Erwartungen an ausgewogene Proportionen, Ereignisdichten, Formverläufe und Satztechniken. Die systematische Entreizung der Musik ist als „Provokation“ gemeint, und wirkt auch so. Als bei der Darmstädter Aufführung der erste lange Pfeifton endlich abbricht, wirkt dies so stark und entlastend wie ein Schluss, so dass Teile des Publikums erleichtert zu applaudieren beginnen, obwohl das Stück noch längst nicht zu Ende ist. Neben wenigen Einsätzen des Beckens bestimmt ein hoher Sinuston auch das letzte Drittel des Stücks. Als dieser pene­trante Ton in der Darmstädter Stadthalle immer lauter und quälender wird, erhebt sich Unruhe und schließlich lautes Lachen, als ein wegen des vermeintlichen Alarmsignals herbeigeeilter Feuerwehrmann die Bühne zu inspizieren beginnt. Im Publikum wird gerufen, geklatscht, gepfiffen und immer ungenierter Krach gemacht, geredet, gesungen, gejohlt. Auf das Ende des Stücks folgte schließlich ein wütendes Buhkonzert, bei dem sich einige Hörer als besonders politisch „links“ hervortun wollten, indem sie Huber als „Reaktionär“ beschimpften.5

Ein Teil der Ideologie der Studentenbewegung war es, nichts auszunützen, was es schon gibt. Ich wollte daher auf keinen Fall zum Beispiel die Möglichkeiten des Elektronischen Studios ausnützen und mit dem, was ich vorher bei Riedl gelernt hatte, sozusagen ein normales Stück machen, wo viel los ist, sondern es sollte kahl sein. Für mich galt: je kahler desto echter. Das war einfach so, egal ob das stimmt oder nicht. Das Ganze war ein Abtastprozess. Ich habe alles genau in der Partitur notiert und die Zuspielungen – glaube ich – im Studio für Sonologie in Utrecht gemacht. Der lange Sinuston ist in Wirklichkeit eine Oktave, eine Frequenz, die aus dem ­S-Klang herausgenommen wurde, also aus einem Klang, den man zuvor schon vom Chor gehört hat. Dann aber bleibt alles stehen. Ich habe es immer als eine Abhängigkeit empfunden, dass wir beim Erfassen von Informationen und Texten periodisch veranlagt sind, und warum soll ich mich in diese Abhängigkeit begeben? Mit dem Sinuston am Ende von Versuch über Sprache“ lasse ich dann alle Texte und das Abtasten der Texte hinter mir, um sozusagen ganz in der Freiheit zu sein. Aber das war natürlich nichts für diese Hörer in Darmstadt, denn die wollten sich ja gar nicht selber verändern, die wollten nur kleine Wohlfühl-Skandälchen haben, und deswegen waren diese langen Töne für sie natürlich umwerfend aggressiv.

Sich selber an der Wurzel fassen: „Harakiri“

Vier Monate nach der Darmstädter Skandalaufführung von „Versuch über Sprache“ erhält Huber vom Süddeutschen Rundfunk Stuttgart einen neuen Kompositionsauftrag. Als das Stück fertig ist, setzt es der dortige Redakteur für Neue Musik, Clytus Gottwald, vom geplanten Programm jedoch kurzerhand ab. Die Partitur erscheint ihm mangelhaft und nicht wirklich komponiert zu sein.6 Tatsächlich versteht Huber sein Stück als ein „Provoka­tionsmodell“. Statt kompositorische Probleme innermusikalisch zu lösen, sollen im Sinne seines Ansatzes „kritisches Komponieren“ allgemein menschliche und gesellschaftliche Probleme an die Hörer weitergegeben werden. Der Titel „Harakiri“ benennt dabei programmatisch die Idee, den expressiven Subjektivismus von Musik „Selbstmord“ begehen zu lassen.

Das Stück beginnt – ähnlich den langen Sinustönen von „Versuch über Sprache“ – mit einem zehn Minuten dauernden Unisono im dreifachen Piano. Gespielt wird dieses von dreizehn Geigen auf der jeweils um 21/4-Oktaven auf Ges tiefer gestimmten A-Saite, die folglich stark erschlafft und kaum mehr wirklich zum Klingen zu bringen ist. Von fünf kurzen Einsätzen anderer Instrumente abgesehen, ist daher die ganze Zeit über statt eines Tons eher diffuses Rauschen zu hören. Das Publikum hört keine luxurierende Musik, sondern wird auf sich selbst und die eigenen musikalischen Erwartungen und ästhetischen Vorstellungen zurückgeworfen. Die Uraufführung von „Hara­kiri“ ermöglichte schließlich der Redakteur für Neue Musik beim Hessischen Rundfunk, Ernstalbrecht Stiebler, während der Ferienkurse 1972, mit einem Ad-hoc-Ensemble unter Leitung von Bernhard Kontarsky. Die Konzertaufzeichnung dokumentiert das Unverständnis des Publikums. Als nach etwa acht Minuten jemand im Publikum aufsteht und polternd den Saal verlässt, erhält er dafür spontanen Applaus.7

Das quälende musikalische „Nichts“ verändert sich erst nach zehn Minuten, indem das Unisono der Geigen langsam zu crescendieren beginnt, so gut dies eben auf den extrem skordatierten Saiten möglich ist. Die sich dabei aufbauende Spannung löst sich plötzlich in einem per Tonband zugespielten Donnerschlag samt nachfolgendem Platzregen und endlich in einem Vortrag über die musikalischen, psychischen und gesellschaftlichen Dimensionen von Crescendo- und Decrescendo-Praxis. Dieser in das Stück integrierte Vortrag unterstreicht – beispielhaft für Hubers damaligen Ansatz des „kritischen Komponierens“ – die elementare Verbindung von Musik mit der davon üblicherweise getrennt wahrgenommenen Lebenswelt. Neue Musik, die nicht mehr primär Musik sein will, sondern über Musik und den Menschen nachdenkt, musste fast zwangsläufig auch zu Missverständnissen führen.

Vor allem hat man das Politische des Stücks nicht so verstanden, dass es radikal in den gesamten Vorstellungsapparat eines Menschen eingreifen kann, denn diese Radikalität betrifft ein Ich. Crescendo ist nicht ein Ding an sich, sondern ein Verhalten zwischen Menschen. Das wollte ich, nachdem ich Lukács gelesen hatte, damals darstellen. Gleichzeitig sollte „Harakiri“ wie ein Lehrstück sein, das heißt, die Ausführenden haben mehr davon als die Zuhörer oder Zuschauer, gemäß der Brechtschen Lehrstück-Theorie. Aber das hat gar nicht funktioniert, weil die Studentenbewegung zwar sehr politisch war und alles verändern wollte, nur keiner wollte sich selbst verändern. Das waren richtige Ego-Naturalisten mit ihrem aufmüpfigen, antiautoritären Sich-nichts-gefallen-Lassen und „ich muss nichts lernen, ich muss nicht üben“, denn es reicht schon, wenn ich Marx lese oder einen scharfen Blick auf irgendetwas habe. Der Aufbau von Gedankengängen war relativ schmal, natürlich nicht bei allen, nicht bei Bernd Rabehl oder Rudi Dutschke. Doch das Gros dieser Bewegung wollte einfach irgendwie ein chaotisches Freiheitsgefühl leben. Und dann kam noch das Antiautoritäre dazu. Deswegen war „Hararkiri“ ganz schlimm: Welcher Komponist nimmt denn sich selber schon freiwillig das Crescendo weg? Das muss ja ein Trottel per se sein! Radikal ist, wenn man etwas in sich selber an der Wurzel fasst, und dass die Sinne wie Philosophen sein sollen.

Konzeptionelle Rhythmuskomposition

Nach der Darmstädter Uraufführung von „Harakiri“ 1972 besuchte Nicolaus A. Huber die Ferienkurse wieder. Auch die Studenten seiner Kompositionsklasse an der Essener Folkwang-Hochschule schickte er immer wieder nach Darmstadt. Ende 1980 geht die Leitung der Ferienkurse von Ernst Thomas auf Friedrich Hommel über, der nicht an Ansätzen interessiert ist, die wie Hubers „kritisches Komponieren“ oder „konzeptionelle Rhythmuskomposition“ das Ideologische, Soziale und Politische im musikalischen Material selbst freizulegen versuchen. Erst 1988 wird Huber zu einer Lecture eingeladen und hält in der Georg-Büchner-Schule einen Vortrag über seine „konzeptionelle Rhythmuskomposition“.

Rhythmuskomposition meint nicht bloßes Vorkommen von Rhythmus und dessen eventuell genau komponierte Gestalt, bezeichnet vielmehr eine Kompositions- und Kommunikationstechnik, die seit meinem Klavierstück „Darabukka“ von 1976 in verschiedensten Ausformungen für mich maßgebend ist und mir die Möglichkeit bietet, meine Musik einer Vielzahl kultureller, auch politischer Erscheinungsformen zu öffnen und weiterzuentwickeln. Was ist – statement­artig zusammengefasst – unter Rhythmuskomposition zu verstehen? Dazu einige Punkte: Tonhöhen werden primär zu Rhythmusträgern. Die Emanzipation des Tons und seiner naturwüchsig erscheinenden harmonischen und melodischen Gestaltbildungsfunktion geben auch Harmonik und Melodik neue Ausdrucksperspektiven. Die Bildung des musikalischen Zusammenhangs ist verständlich durch die Veränderbarkeit dreier Teilaspekte: Länge des Grundmodells, Zahl der Anschläge innerhalb des Modells, Proportionen und Pausen im Modell. Die Anwendung dieser Technik ermöglicht ein ununterbrochenes Changieren zwischen verschiedenen Material- und Ausdruckssphären sowie die Integration wichtiger Elemente der Arbeiterkultur in spezifischer und verallgemeinerter Form. Die Rhythmuskomposition geht von einem dialektisch ganzheitlichen Weltbild aus, Kopf und Körper sind oder sollen nicht getrennt sein. Zum aktivierten Körperrhythmus gehört ein bestimmter Tempobereich etwa von zweiundneunzig bis hundertvierundachtzig Schlägen pro Minute. Die Ränder nach beiden Seiten sind unscharf. Unterkühlung beziehungsweise Überhitzen oder das einfache Herausziehen der rhythmischen Gestaltung aus dem muskulär aktiven Zeitbereich kann im Sinne der Stufenleiter Wahrnehmen-Erkennen-Werten kompositorisch spezifischer gehandhabt werden.

Nach grundsätzlichen Überlegungen bringt Huber in diesem Vortrag auch Hörbeispiele für konzeptionelle Rhythmuskomposition. Um zu belegen, dass Rhythmus ein körperliches und kollektives Phänomen ist, spielt er unter anderem Volksmusiken aus Kasachstan und Schottland vor. Bei letzterer wird eine Maultrommel mit Löffeln begleitet, die wie Kastagnetten virtuos gegeneinander geschlagen werden. Huber geht es dabei vor allem um die Demonstration des Tempos, das fließend zu- und wieder abnimmt.

Die Rhythmuskomposition bezieht kollektive, mit körperlichen Bewegungen verbundene Sprachelemente, sogenannte „Intonationen“ mit ein. Intonationen meint also nicht sauber intonieren, sondern das ist ein Begriff des russischen Musikwissenschaftlers Boris Assawjef, und der meint unter Intonation eine Art kollektives Sprachelement. Das ist also nicht erfunden, sondern es liegt sozusagen auf der Straße in ganz bestimmten sozialen Gruppen oder in bestimmten his­torischen Situationen, zum Beispiel der punktierte Rhythmus. Eine Intonation ist auch der Kirchenton, wenn Sie an „Der Tod und das Mädchen“ von Schubert denken, diese Rezitation auf einem Ton ist sozusagen eine Intonation im Kirchenton. […] Rhythmus- und Protestkomposition in solchem Umfeld ist nicht nur bewegliche Form und dauernd sich in Bewegung befindliches musikalisches Material, sondern das Bild eines in seiner dialektischen Ganzheit alles voll und entwickelt zur Verfügung habenden Menschen, soweit es auf einer bestimmten historischen Stufe realistisch, oder ich würde auch sagen, realisierbar ist.

Als Beispiel für konzeptionelle Rhythmuskom­po­sition nennt Huber sein 1980 geschriebenes Orches­ter­stück „Morgenlied“. Dieses basiert auf dem Rhythmus­modell des aus Spanien nach Kuba eingewanderten Volkslieds „La Guaracha“, das sechzehn Sechzehntel mit elf Anschlägen umfasst. Ferner erwähnt er sein Klavierstück „Darabukka“ von 1976, in dem das Klavier wie die gleichnamige arabische Vasentrommel behandelt wird. Der Pianist spielt lediglich auf einer einzigen Taste unterschiedliche Finger- und Handkombinationen. Ein weiteres Beispiel ist „presente“ für Posaune solo von 1979. Einem fanfarenartigen Beginn folgen drei weitere Formteile, die gemäß Hubers konzeptueller Rhythmuskomposition verschiedene Intonationen demonstrieren, also charakteristische historische, soziale und politische Sprechweisen: Jazzfloskeln, eine Melodie in der Tradition der bürgerlichen Musik, und schließlich zitiert er das politische Lied „Die Moorsoldaten“, das politische Gefangene des Nazi-Regimes ab 1933 im Konzentrationslager Börgermoor bei Papenburg im Emsland sangen. In „presente“ spielt der Posaunist das Lied zweistimmig durch gleichzeitiges Blasen und Singen. Wie diese Stelle erfordert das gesamte Stück vom Posaunisten – der durch Drehungen sein Instrument auch unterschiedlich in den Saal abstrahlen lässt – höchste Anstrengung und vollen Körpereinsatz. Auch das ist – wie Huber in seiner Darmstadt-Lecture ausführte – ein Aspekt „konzeptioneller Rhythmuskomposition“.

Körperrhythmus kann auch die körperliche Bewegung und Anstrengung des Interpreten selbst in verschiedener Ausdruckshaftigkeit erfassen und über deren Auswirkungen auf Atem und Hand dem Ton eine einmalig individuelle Menschenklangfarbe aufmodulieren. In unserer vorwiegend stillsitzend organisierten Hörkultur kann Körperrhythmus nicht Entladung durch Körperbewegung, soll auch nicht stellvertretend Entladung in und durch Musik bedeuten. Seine kompositorische Einbeziehung ist eher Ausdruck eines Menschenbilds, Vorschein und Anstoß, Feuer und Disziplin als zurückspiegelnde Impulse. Die Integration überindividueller, kollektiver Intonationen hat nur dann realistischen Sinn, wenn das bürgerliche Erbe des Ausdrucksreichtums der individuell-subjektiven Innenwelt voll entfaltet und weiterentwickelt zur Geltung gebracht wird. Jedes soll dem jeweils anderen die besten Bedingungen für dessen Entwicklung und Ausbildung schaffen. Die dialektische Einheit dieser verschiedenen Sphären drückt die Technik der rhythmischen Modulation aus. Ihr Verfahren der kontinuierlichen, quantitativen Veränderung bestimmter musikalischer Größen und der Umschlag in eine andere Qualität ist aufklärende Dekompositionszeitspanne, in der sozusagen vor den Ohren des Hörers aus einem Ding die verschiedenen Seiten gleichsam herausgedreht werden und nicht als unversöhnliche Gegensätze erscheinen. Die rhythmische Modulation ist demnach nicht die in der bürgerlichen Musikkultur häufig anzutreffende Technik des Übergangs und der Überleitung, eher ein musikalisches Drehen.

Die Sache möglichst breit auffassen: Ein Ratschlag

Nach Hubers Präsenz bei den Ferienkursen 1988 kühlt sich die Beziehung zu Darmstadt merklich ab. Auf sein Angebot, erneut zu referieren, erhält er von Kursleiter Hommel keine Antwort. Und als ihn dessen Nachfolger Solf Schaefer Jahre später einlädt, lehnt er seinerseits ab. Huber hält nichts davon, dass bei den Kursen irgendwelche Altmeister auftreten, ihn mittlerweile eingeschlossen. Wichtiger findet er den Austausch und Diskurs der jungen Komponisten und Interpreten untereinander, da diese andere Fragen beschäftigen und sie andere Ansätze und Lösungen versuchen als noch die Musiker in den Sechziger-, Siebziger- oder Achtzigerjahren. Allerdings werden bei den Ferienkursen noch einzelne Stücke von ihm aufgeführt: „Trio mit Stabpandeira“ (1983) und „Beds and Brackets“ für Klavier mit zu öffnenden Türen und Fenstern oder Tonband (1990) unter – wie dem Komponisten später berichtet wurde – „die Musik zurückweisendem demonstrativem Gestöhn von Ferney­hough“.8 Wenn Huber den Darmstädter Ferienkursen heute etwas raten könnte, so würde er weniger für bestimmte Kompositionskurse plädieren als vielmehr dafür, Fachleute ganz anderer Disziplinen einzuladen: Philosophen, Neurologen, Internetspezialisten, Werbefachleute oder Klangdesigner, deren Vorträge die Kursteilnehmer dann selbständig auf ihre eigene Arbeit und Musik zu beziehen hätten.

Der Ratschlag wäre, zu versuchen, den Begriff der Entfremdung in Bezug auf die verschiedenen Sphären, die den Menschen betreffen, ernstzunehmen. Dass man also sagt, die Komponisten komponieren schon ganz gut und kennen sich in der Musik aus, die brauchen dazu keine Ratschläge oder haben eben eigene Kurse dafür, wo sie noch Ratschläge bekommen. Damit aber die Musik und das Denken über Musik interessanter wird, laden wir Fachleute aus ganz anderen Sphären ein, die den Menschen betreffen und zum Beispiel über die Geschwindigkeit von Neuronenbewegung sprechen und darüber, wie daraus Bewusstsein entsteht. Ist das mit Quantengeschwindigkeit zu berechnen oder genügt dazu die klassische Physik? Und was hat das mit harmonischem Denken zu tun? Das zu beantworten, wäre die Aufgabe der Komponisten. Oder es werden String-Theoretiker eingeladen. In jedem Fall spricht der Vortragende nur über sein Gebiet, denn dieses hat ja auch etwas mit Auffassung zu tun, und ich habe ja auch ein Gehirn und Bewusstsein, sodass etwas in mir entsteht und ich mich fragen kann: Wie ist es denn mit der Harmonik? Wie läuft die Dur-Moll-Tonalität? Wie ist es in seriellen Stücken? Beim Hören der Vorträge kommt man als Komponist plötzlich auf musikalische Gedankengänge, die man studieren und bewältigen muss. Eine große Rolle würde natürlich auch die Philosophie spielen, weil sie etwas Allgemeineres ist, vom Denken und vom allgemeineren Beobachten ausgeht. Und je interessanter ein Vortragender ist und je weniger wissenschaftlich er sprechen kann, also ohne Formeln, desto besser, so dass man ihn versteht, er aber trotzdem fachlich richtig bleibt und es nicht primitiv wird. Solche Vorträge müssen ja nicht massenweise stattfinden, weil das wahrscheinlich sehr anstrengend ist. Vielleicht gibt es auch mal eine Fragestunde, so dass man tiefer in die eigenen Bedürfnisse fragend einsteigen kann. Dadurch könnte vielleicht wieder ein größerer Austausch zwischen den Sphären stattfinden, weil die Gesellschaft die Sphären immer fremd organisiert, in ein Institut an der Universität, eine Kompositionsklasse an der Musikhochschule, die Darmstädter Ferienkurse und so weiter. Das sind alles so schön getrennte Einheiten. Doch der Künstler ist ja jemand, der die Sache möglichst breit auffassen soll.

1 Karl Marx, „Privateigentum und Kommunismus“, in: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), MEW Ergänzungsband, erster Teil, 541–542.

2 Nicolaus A. Huber, „Kritisches Komponieren“ (1972) , in: Derselbe, Durchleuchtungen. Texte zur Musik 1964–1999, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 2000, 41.

3 Diese und alle weiteren kursiv gesetzten Äußerungen Hubers entstammen einem Interview, das der Autor am 20. Februar 2014 in Köln geführt hat.

4 Ausschnitt aus der Ansprache von Ludwig Engel am 30. August 1972 (Mitschnitt im IMD).

5 Live-Mitschnitt des Hessischen ­Rundfunks vom 27. August 1970 (Mitschnitt im IMD).

6 Vergleiche „Auseinandersetzung um ,Harakiri‘“, in: Huber, Durchleuchtungen, siehe Anmerkung 2, 387–401.

7 Mitschnitt des Hessischen Rundfunks“ vom am 27. Juli 1972 (Mitschnitt im IMD).

8 Nicolaus A. Huber in einer Email an den Verfasser vom ­17. Juni 2017.