MusikTexte 154 – August 2017, 99–100

Viel Mache, wenig zur Sache

Die siebte Ausgabe des Kölner Festivals Acht Brücken

von Rainer Nonnenmann

„Ach ja, Acht Brücken! War das jetzt auch wieder?“ Angesprochen auf das Kölner Festival, reagierten die meisten nationalen und internationalen Journalisten, Redakteure, Intendanten und Manager, die sich bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik eingefunden hatten, mit wenig Interesse. Einige kannten das Festival immerhin und hatten teilweise sogar das Programm überflogen, dann aber vorgezogen, lieber drei Tage nach Witten zu kommen statt das zehntägige Festival in der Domstadt zu besuchen, obwohl beide Veranstaltungen direkt anschließend, ein Wochenende sogar gleichzeitig stattfanden und also terminlich und reisetechnisch bequem zu verbinden gewesen wären. Die auf der Wittener Kammermusikmesse versammelten Fachleute bestätigten damit den Eindruck, den man auch vor Ort bei Acht Brücken gewinnen konnte: Das Kölner Festival ist lediglich die lokal begrenzte „Musik für Köln“, als die es sich selber bezeichnet. Zwar gastieren hier renommierte Solisten und Spitzenensembles mit durchaus exzellenten Aufführungen, die hier und da auch Neues bieten, doch zwischen reichlich Repertoirepflege und unspezifischem Programm-Mix gibt es zu wenig Einmaliges und Herausragendes. Als Aushängeschild für Köln als internationales Zentrum der neuen Musik taugt dieses größte und teuerste Musikfestival der Stadt nicht, denn es findet kaum überregionale Aufmerksamkeit und schafft folglich auch für die beteiligte Kölner Musikszene keinen Mehrwert in Gestalt von auswärtigen Berichterstattungen und Einladungen in andere Städte und Länder.

Mit einem Etat von jährlich anderthalb Millionen Euro, langfristiger städtischer Förderung, großem Werbeaufwand und dem WDR als Mitveranstalter geht das Nachfolgefestival der einstigen Musik­Triennale Köln auch im siebten Jahr seines Bestehens noch auf Krücken, statt end­lich zu laufen, zu springen, zu tanzen, zu fliegen. Es mangelt an Profil, Ideen, Perspektiven, Alleinstellungsmerkmalen, Wagemut, Kooperationsbereitschaft und Synergien, etwa mit der Oper Köln, und an Sensibilität für aktuelle Themen und Diskurse. Diese hätten sich gerade dieses Jahr an das Motto „Ton.Satz.Laut.“ zum Komplex „Musik und Sprache“ besonders gut anschließen lassen. Doch Fehlanzeige. Es gab keine künstlerischen und theoretischen Auseinandersetzungen mit dem durch Internet und Social Media gewandelten Medien- und Kommunika­tionsverhalten oder konkreten Phänomenen wie Shitstorm, Fake News, Autokratismus, Meinungsfreiheit, Journalisten-Verhaftungen und twitterndem US-Präsidenten. Ohne Reflexe auf die gegenwärtigen Veränderungen in Gesellschaft und politischer Sprache wirkte das Festival irrelevant und vorgestrig. Im Gegensatz zum letztjährigen Festival „Musik und Glaube“ waren etliche Konzerte schlecht besucht, darunter vor allem die der Festivalkomponistin Unsuk Chin mit dem Ensemble Intercontemporain und dem SWR-Sinfonieorchester. Zudem hatte die 1961 geborene und seit 1985 in Deutschland lebende Koreanerin und ehemalige Ligeti-Schülerin wenig zum Komplex „Musik und Sprache“ beizutragen.

Im 2002 für das Ensemble Intercontemporain geschriebenen und nun erneut von diesem aufgeführten „Doppelkonzert“ für Klavier, Schlagzeug und Ensemble verbindet sich das präparierte Soloklavier mit Glockenspiel, Marimba- und Xylophon des Perkussionisten sowie flirrendem Ensemble zu einem dem balinesi­schen Gamelan nachempfundenen Klangbild. Die Musik ist virtuos, brillant, sinnlich, farbig, doch in ihrer Machart, Textur und Form konventionell und oft gerade­zu langweilig: Viele Töne, wenig originäre Einfälle; reichlich Aktionismus ohne packende Momente. Die imaginären Stra­ßen­theaterszenen „Gougalān“ und die musikalische Pantomime „cosmigimmicks“ lassen die Instrumentalisten immerhin wie Schausteller oder Gaukler verschiedene Sprechweisen imitieren, schnattern, klappern und quasi folkloristisch tanzen. In den Vokalwerken „Akrostichon“, „Cantatrix Sopranica“ und der Konzertsuite nach der Oper „Alice im Wunderland“ dienen die verwendeten Texte lediglich als Materialgrundlage für virtuose Gesangs- und Vokalartistik. Dass Sprache auch zentrales Medium des menschlichen Bewusstseins, Kommunizierens und Handelns ist, spielt für Chin ebenso wenig eine Rolle wie der Anspruch vieler zentraler Werke des zwanzigsten Jahrhunderts, die Wechselbeziehung von Musik und Sprache grundsätzlich neu zu befragen, zu reflektieren und zu gestalten. Für das Festivalthema war Chin schlicht eine Fehlbesetzung.

Wenig bis gar nichts zum Thema steuerte auch das Gastspiel der Bamberger Symphoniker unter Leitung von Jakub Hru°sa bei. Nachdem bereits 2016 drei Werke von Toshio Hosokawa uraufgeführt worden waren, fand sich der Hauskomponist des Festivals nun erneut mit einem Konzert für Orgel (Christian Schmitt) und Orchester im Programm. Seine uraufgeführte „Umarmung“ entpuppte sich als x-beliebige Variation der von ihm seit dreißig Jahren praktizierten Rezeptur: Ein wechselnde Dichte- und Aggregatzustände durchlaufendes Klangband baut sich in Wellen auf und ab, wird durch Triller und Tremoli gekräuselt, um endlich sanft zu verebben und dafür Ying und Yang, Natur und Universum zu beschwören. Verglichen mit Debussys ozeanischem „La Mer“ ist diese prätentiöse Preziose nur ein schwacher Sturm im Goldfischglas.

Tönend bewegte Oberflächenkunst ist auch Chins 2009 für den Solisten Wu Wei geschriebenes Konzert „Šu“ für Sheng und Orchester. Die chinesische Mundorgel spielt sanft ein- und ausschwingende Akkorde sowie gleichsam elektronisches Sirren und gleißende Akzente. Der strahlende Klang des Instruments verbreitet sich in alle Register des großbesetzen Orchesters bis hin zu räumlich getrennt spielenden Violinen und vier Mundharmonikas. Das hat zweifellos seinen Reiz. Doch bleibt das repetitive Ein- und Ausatmen letztlich kurzatmig, weil erwartbar. Ungetrübten Schönklang zauberten auch die Sopranistinnen Sarah Arisidou und Elsa Benoit in Man­fred Trojahns neuer Kantate „Les dentelles de Montmirail“ nach René Char, deren hohe Liegetöne die im Saal verteilten Kölner Vokalsolisten mit silberhellem Klanghof umgaben. Dem Opern- und Liederkomponisten diente dabei Sprache einmal mehr bloß als Mittel zum Zweck von Gesang, wie bei Chin ohne Spur des alt-avantgardistischen Anliegens, durch kompositorische Neugestaltung des anthropologischen Universalzentrums Sprache auch Kommunikations-, Ideologie- und Gesellschaftskritik zu üben.

Andere Programmpunkte passten indes exakt zu „Musik und Sprache“, etwa das Konzert des Ensemble Modern mit Helmut Lachenmann als Sprecher seines Stücks „… zwei Gefühle …“ sowie die Aufführung von Ligetis beiden „Aventures“ durch die exzellenten Vokalisten Alice Rossi (Sopran), Kai Wessel (Countertenor) und Peter Schöne (Bariton) mit „Das Neue Ensemble“ aus Hannover unter steifer Leitung von Stephan Meier. Entgegen sonst häufig theatralisch überzeichneten Interpretationen standen hier Musikalität und Hören im Zentrum. Rossis Darstellung von Luciano Berios „Sequenza III“ für Frauenstimme ging im Foyer der Philharmonie leider zwischen Gerede und Türenschlagen unter. Das Ensemble Experimental und Freiburger Experimentalstudio des SWR präsentierten unter Leitung von Detlef Heusinger ältere live-elektronische Stücke von Nono, Chin und Žuraj sowie als Novität Ying Wangs „ROBOTICtack“. Die Maschinisierung des Menschen mittels elektronischer Zuspielungen und automatenhafter Handbewegungen der ebenso stimm- wie ausstrahlungsstarken Altistin Noa Frenkel wurde darin zwar angerissen, aber zu keinem kritischen Stadium forciert. Zum Thema Sprache passten ferner Arbeiten von Studierenden des Studios für Elektronische Musik der Kölner Musikhochschule, ein Trommelprojekt der Hochschule, das Kölner Sprachkunsttrio sprechbohrer, Blixa Bargelds kryptische Lyrik mit den Einstürzenden Neubauten, das Pop- und Rap-Kollektiv stargaze, die Vokalartistin Hannah Silva, der Slampoet Saul Williams und einige Jazzkonzerte, etwa der David Kweksilber Bigband.

Kristallisations- und Höhepunkt des Festivalthemas war die intensive Aufführung von „Das Glashaus“ des Schweizer Komponisten Hans Wüthrich. Das 1974/ 1975 im politisch sensibilisierten Nachgang der Studentenbewegung entstandene Musiktheaterwerk zeigt Sprache nicht als Medium eines „herrschaftsfreien Diskurses“ (Habermas), sondern im Gegenteil als offensiv oder perfide eingesetztes Machtinstrument und Kampfmittel. Sieben Akteuren – eine Sopranistin, ein Sprecher und fünf Sprecherinnen – haben auf der Bühne des Kölner Theaters im Bauturm lediglich sechs Sitzgelegenheiten zur Verfügung, vom prächtigen Sessel auf dem höchsten Podest bis zum kleinen Hocker ganz unten. Das schwächste Glied geht folglich leer aus und Verteilungskämpfe sind vorprogrammiert. Mit rein phonetischem Lautmaterial, aber intonatorisch eindeutiger Botschaft treten die Protagonisten in Dialog, keifend, weinend, bittend, fragend, trotzend, balzend, befehlend. „Das Glashaus“ erscheint als Voliere exotisch schnatternder Vögel, die nach ganz eigener Rang- und Hackordnung ihre Positionen neu verhandeln. Hinzu kommen affektive Lautgebung, Mimik, Gestik und Körpersprache einschließlich erotischer Signale. In der Regie von Pierre Sublet agierten Studierende des weithin einzigartigen Studiengangs Théatre Musical an der Hochschule der Künste Bern ebenso automaten- wie modellhaft in situativ sprechenden Front-, Paar-, Partei- und Koalitionsbildungen. Alle Blicke, Laute und Gesten waren präzise gesetzt. Am Ende hatte das Personal dann schließlich seine anfängliche Rangfolge gewechselt. Doch die neue Konstellation bekräftigte nur die hierarchischen Verhältnisse von Macht und Ohnmacht statt sie zu revolutionieren: Anstelle des Manns saß nun einfach eine Frau auf dem Thron. Herrschaft aber blieb Herrschaft, Unterdrückung blieb Unterdrückung und Sprache das Vademekum des (a)sozialen Gefüges.