MusikTexte 154 – August 2017, 3–5

Neuer Streit um des Kaisers Bart

von Bernd Künzig

Ein Gespenst geht um in der Neue-Musik-Szene – das Gespenst heißt Streitkultur. Oder sollten wir von einer Unkultur sprechen? Vereinfacht gesagt, ist der Gegenstand des Streits der sogenannte Neue Konzeptualismus. Andere sprechen von Diesseitigkeit oder einem Neuen Realismus. Am Ausgangspunkt der Debatte steht wohl die Bedeutung, die der sogenannten Digitalen Revolution für das gegenwärtige Komponieren beigemessen wird. Die Propagandisten sprechen gerne von einem Paradigmenwechsel, der sich hier ereignen würde, angesichts der vielfältigen Möglichkeiten, die die gespeicherten Musikdaten, jederzeit und an jedem Ort abrufbar, bieten würden. Der überlieferte Materialbegriff der Neuen Musik sei obsolet und hinfällig geworden – was er spätestens schon seit den Siebzigerjahren ist –, vor allem im Hinblick auf seine fortschrittliche Dynamik. Oder wie es Johannes Kreidler, einer der Protagonisten dieser Richtung, salopp formuliert hat: „Wer für Geige schreibt, schreibt ab.“ Solcher Tonfall mag provokativ wirken, man kann das so empfinden, muss es aber nicht. Dies kann einige der heftigen Gegenreaktionen erklären, die solche Standpunkte hervorrufen.

Die andere Seite der Medaille ist die Dominanz der Bewegung im Kontext neuer Konzeptionen, die Festivalleiter den hohepriesterlichen Treffen der Szene in letzter Zeit gerne verpasst haben. Auch die Darmstädter Ferienkurse haben den Neuen Konzeptualismus zu einer Art Leitdiskussion erhoben, mit diversen Plattformen, Vorträgen und Konzertereignissen. Man kann sich nicht ganz des Eindrucks erwehren, hier würde von den Veranstaltern noch einmal jener Avantgardetraum der Fünfziger- und Sechzigerjahre geträumt, der damals schon nach zehn Jahren ausgeträumt war. Wie einst wird auch heute die polemische Keule nicht gescheut. Wie damals geht es auch gegenwärtig um einen scheinbaren Generationenkonflikt – scheinbar deshalb, weil diesem Konflikt zwischen den Generationen eigentlich jene politische Sprengkraft fehlt, die er nach dem Ende der nationalsozia­listischen Diktatur berechtigterweise hatte. Der stalinis­tische Tonfall, der Pierre Boulez noch in den frühen Siebzigerjahren von Rotgardisten schwärmen ließ, die doch endlich mal in den Tempeln der Tradition auskehren sollten, dieser Tonfall geht nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus nicht mehr. Und so wird es denn auch eher deutsch-bürokratisch: Michael Rebhahn kündigt seinen Austritt aus der Neuen Musik an, weil deren Szene in kompositorischen Manieriertheiten erstarren würde, als sei diese ein eingetragener Verein mit Beiträgen zahlenden Mitgliedern. Solche manifest­artigen Bekundungen rufen naturgemäß Widerspruch hervor. Und diese verhalten sich ganz entsprechend den Formatvorgaben der digitalen Revolution, indem sie sich vor allem in den sozialen Netzwerken, in Blogs und auf Facebook entfalten.

Und so macht sich Trumpismus avant la lettre bereits seit einiger Zeit in der Neuen Musik breit. Wie beim ach so spontan twitternden Präsidenten geht es auch auf diesen Seiten der Neuen Musik schnell und rasch zur Sache. Das große Ich verhält sich zum großen N des Richtungsstreits. Es wird sich erregt, man beleidigt und ist beleidigt, man teilt aus, aber steckt nicht ein – und kündigt die Freundschaft, die Mitgliedschaft, die Mitarbeit oder was auch immer. Die Neue Musik also doch ein Kleintonzüchterverein?

Besonders drastisch: die Folgen der Darmstädter Frühjahrstagung. Sie war ganz zeitgemäß dem „CLASH“ gewidmet. Man hat mit großen Buchstaben geschrieben und wollte auch noch einmal an Samuel Huntingtons 1996 veröffentlichte provozierende These des „Clash of Civilizations“ erinnern und einen Kulturkampf behaupten (eingedeutscht wurde Huntingtons Buch irreführend zum „Kampf der Kulturen“). Eingeladen war auch der Komponist Johannes Kreidler, der sich in seinem „Vortrag“ mit Formen der Musikkritik auseinandersetzen wollte – selbstverständlich vor allem mit jener, die an seinen Werken geübt wird. Und in der Tat hat Kreidler in der Vergangenheit auch einiges an Kritik und Schmähungen einstecken müssen. Die empfindliche Haut kann man verstehen. Auch die Tirade gegen die Zunft. Die hat immerhin Tradition bei komponierenden Genies. Man denke an Wagners Auseinandersetzung mit Eduard Hanslick, dem er mit der Figur des Beckmesser in den „Meistersingern von Nürnberg“ eine boshaft-gemeine Abrechnung auf der Bühne seines Musiktheaters bereitete. Dass einige Passagen dieser Kritik der Kritik von Johannes Kreidler aus dem Zusammenhang gerissen und sachlich nicht unbedingt richtig waren, tut dabei wenig zur Sache. Die Frage geht eher an den Veranstalter einer sich wissenschaftlich gerierenden Fachtagung, ob Derartiges nun wirklich in den Rahmen der Wissenschaft passt und das Begriffsthema „CLASH“ überhaupt in irgendeiner Form tauglich sein könnte, oder ob es sich nicht doch eher um das Erheischen von Aufmerksamkeit für eine Zunft handelt, der es an gesellschaftspolitischer Relevanz zu mangeln scheint. Auch dies wirft ein bemerkenswert bedenkliches Licht auf den Stand der deutschen Musikwissenschaft, wenn es ums Gegenwärtige geht.

Doch daraufhin folgte die veritable Vereinsposse. Eine von Kreidlers nicht ganz den Tatsachen entsprechende Kritik der Kritik bezog sich auf die „Beckmesser“-Kolumne über eine 2010 erschienene Publikation zum Neuen Konzeptualismus. Die nmz stellte daraufhin in ihrem Blog erst einmal richtig, wie’s wirklich war. Um dann nochmals nachzulegen, indem der richtigstellende Redakteur Martin Hufner dem kritisierten Kollegen Max Nyffeler, den er zuvor noch in Schutz nehmen zu müssen meinte, vorhielt, dass seine von Kreidler zwar nicht sachlich richtig kritisierte Kritik aber dennoch nicht wirklich gute Kritik sei. Woraufhin sich das übliche Beleidigungsspiel in Netzaufzeichnungen und Gesichtsbüchern abspielte: vom Vertrauensverlust war die Rede, unausgesprochene Anstandsregeln des redaktionellen Miteinanders missachtet zu haben, bis hin zur natürlich kaum vermeidbaren Aufkündigung der Mitarbeit durch den Kolumnisten. Irgendwie erinnert das an die innerpartei­lichen Personalquerelen der AfD, die außer Schadenfrohen niemand interessieren. Ein veritables Possenspiel, das selbstredend weniger über den Zustand der Neuen Musik aussagt als vielmehr einiges über die erbärmliche Befindlichkeit der Musikkritik im deutschen Feuilleton. Man wundert sich kaum mehr über den Hang einer solchen Kritik zu adjektivischer Aufzählung und blühender Metaphernlandschaft, wenn unterm Strich in einer deutschen Tageszeitung eben kein Platz mehr bleibt für eine Analyse neuer Partituren, bevor zu deren Kritik – nach dem Motto Daumen rauf, Daumen runter – geschritten wird. Jedenfalls: Abgesehen von oben erwähnter Posse gibt es im deutschen Musikfeuilleton wenig Streitkultur, wenn nur noch Raum zur affirmativen Berichterstattung bleibt. Und überhaupt haben sich alle lieb, denn es ist schon ein merkwürdiges Phänomen der Zeitläufte, wenn Kritiker verstärkt zu Biographen und Laudatoren von Komponisten werden – und schlimmer noch, wenn Komponisten dann Kritiker für ihre preisgekrönten Verdienste um die Neue Musik loben, wie es der Fall war bei der wechselseitigen Lobhudelei von Eleonore Büning und Jörg Widmann beim Musikpreis des Heidelberger Frühlings. Früher soll es sogar Kritiker gegeben haben, die sich aus guten Gründen den Premierenfeiern verweigert haben. Aber damals wurde im deutschen Feuilleton auch noch gestritten.

Doch zurück zur Streitkultur der Neuen Musik. An Vorschlägen mangelt es nun nicht, wie den Missständen der Zunft Abhilfe geschaffen werden könnte. Johannes Kreidler empfahl in seinem Darmstädter Vortrag eine Schonfrist von zwei Jahren für die neuen Klangtriebe, damit sie nicht vorzeitig weggeschnitten würden. Ein anderer Vorschlag bezieht sich nicht weniger absurd darauf, neue Nischen für die Nische zu bilden. Das innovativ Neue würde demnach auf den einschlägigen Festivals verortet, die Manierismen dagegen in einer Sparte mit dem Titel „Contemporary Classical Music“ im Rahmen der üblichen Abo-Reihen unserer Konzerthäuser. (Dachte sich so etwas nicht auch schon Arnold Schönberg mit seinem „Verein für musikalische Privataufführungen“ aus? Doch Vorsicht: Damals war dieser Verein eine Konsequenz aus dem berühmt-berüchtigten Wiener Watschenkonzert. Ach, wenn sich doch heute mal wieder um die Neue Musik geprügelt würde! „Tempi passati“, seufzen die Streithähne, nicht ganz nostalgiefrei. „Das waren eben noch Zeiten, als die Avantgarde“ und so weiter ... ). Das passt gut zum jüngsten Vorschlag eines früheren Vereinsmitglieds. Hans Peter Jahn, ehemaliger künstle­rischer Leiter von Neue-Musik-Events im deutschen Südwesten, kommentierte in der letzten Ausgabe dieser Zeitschrift die angebliche „Traditionslosigkeit“ der Neue-Musik-Szene. Der Kommentarplatz bietet natürlich die Möglichkeit unzensierter und nicht von redaktionellen Vorgaben eingeschränkter Schonungslosigkeit. Heraus kam eine Jeremiade über den missbräuchlichen Umgang mit der großen Tradition der Musikgeschichte und ihrer Meisterwerke, von denen ohnehin heute zu wenige produziert würden. Als abschreckendes Beispiel unter anderen musste mal wieder herhalten: Johannes Kreidler und sein „Minusbolero“. Da geht es dann wieder mit den Beschimpfungen und Invektiven zur Sache. Vom „phantasielosen Fließbandprovokateur der Extraklasse“ ist da die Rede. Das Stück selbst wird nur in seiner Radiopräsenz zur Kenntnis genommen, obwohl es auch um die Differenz oder Kongruenz von Hören und Sehen im Konzertsaal ging. Ein Blick in die radierte Partitur hat genügt, was kümmert schon das Konzept, es ist eh dürftig. Außerdem wurde sich an einem Meisterwerk vergangen – durch einen Kleinmeister. Aber auch da gibt es Abhilfe: die konzertante Konfrontation des konzeptuell Neuen mit eben diesen Meisterwerken des klassischen Repertoires. Da trenne sich die Spreu vom Weizen, oder die Funken sprühen im konfrontierenden Gegen- und Miteinander. An den Meisterwerken der Alten würde sich dann der erbärmliche Zustand des Komponierens der Jungen erweisen.

Warum erinnert ein solcher Vorschlag nur an die landauf, landab geübte, sich beim Publikum doch nie bewährende Praxis der bemüht wirkenden Einbringung des Gegenwärtigen ins Vergangene? Natürlich gewinnt Beethoven mit seinen Meisterwerken immer. Allein die Frage, gar Sehnsucht nach ihnen mutet irgendwie merkwürdig geschichtslos an. Das Wiener Publikum des frühen neunzehnten Jahrhunderts hat Beethovens „Große Fuge“ als nicht weniger konzeptuell verblasen empfunden wie heute ein solches vielleicht den „Minusbolero“ Kreidlers. Und der Vergleich zielt nicht auf die Komponisten, sondern auf das Musikpublikum, bei dem sich der Haltung gemäß nicht allzu viel entwickelt hat zwischen dem Einst und Jetzt (die Programmatiken der Konzerthäuser und großen Klangkörper geben ein eindringliches Bild davon wieder). Und wen mochten die Zeitgenossen des Bonner Meisterkomponisten lieber? All jene vergessenen Kleinmeister, die Beethoven mit Variationen über ihre Themen unsterblich machte. Und das Gezeter über die „Traditionslosigkeit der neuen Musik“ – siehe als Replik darauf auch den „offenen Brief“ von Johannes Schöllhorn in diesem Heft – hört sich an wie eine wetterleuchtende Erinnerung an den Streit zwischen Monteverdi und Giovanni Artusi. Allerdings fand der auf einem analytisch-verbal anderen Niveau statt. Aber die Ablehnung der Jungen durch die Alten hat eine noch längere Tradition als umgekehrt: Wir können sie schon bis zu den Griechen des klassischen Altertums zurückführen.

Worum geht es nun eigentlich bei diesem Streit? Ein gemeinsames Anliegen scheint den Kombattanten die gesellschaftspolitische Relevanz der Neuen Musik zu sein. Daraufhin zielen wohl die unterschiedlichen Lösungsvorschläge. Am deutlichsten sagen dies wohl Martin Schüttler mit seiner „Diesseitigkeit“ und Johannes Kreidler mit seiner „Musik mit Musik“. Ihr Anliegen befindet sich in bester Tradition der Avantgarde, Kunst und Leben zusammenzudenken. Die Frage stellt sich nur, ob daran dann doch wieder alte Denkmuster der Exklusion angeschlossen werden müssten. Denn die Ausschließlichkeitsbehauptung über die Nützlichkeit des Komponierten in diesem Zusammenhang ist so alt und auch eigentlich schon so vergangen wie die wohl letzte Avantgardebewegung der Fünfzigerjahre in der Musik. Wenig daran ändert auch die scheinbar neuartige Rezeption tradierter Konzeptkunst, wie sie auch im gegenwärtigen Ausstellungsbetrieb statthat, durch die sich als neue Avantgarde verstehenden Vertreter des Neuen Konzeptualismus. Schon früher galt: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Nur aufrechterhalten ließ sich diese Haltung nie, und die ästhetischen Konsequenzen derartiger Exklusion waren von jeher dürftig. Und die merkwürdige Vereinsmeierei mit Austritten und Ausschlüssen kennt man schon vom selbsternannten Surrealistenführer André Breton. Auch ihm gelang es letztlich nicht, die Gesellschaft durch Kunst zu heilen. Solch messianischen Anspruch sollte man vielleicht endgültig am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts begraben und nicht auf seine Auferstehung hoffen.

Merkwürdig ist nur, dass sich die Gegner derartiger Tendenzen wie falsche Apostel gerieren. Ihre Glaubensbekenntnisse und die oft vertretene Haltung, man müsse ihre Kontrahenten vor sich selbst schützen, haben etwas merkwürdig Sektiererisches. Dazu gehört auch ihre Überzeugung, im Sinne der Allgemeinheit zu sprechen. Aber das haben sie mit ihren Kontrahenten wenigstens gemeinsam.

Das alles weiß man oder könnte es wissen, und doch verläuft die Streitbahn auf alten Schienen. Ohne nun allzu sehr den Kulturpessimisten hervorzukehren, lässt sich die eigentümliche Geschichtslosigkeit der ganzen Streiterei kaum leugnen. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass die sozialen Netzwerke, in denen sich dieser Diskurs zu einem großen Teil entfaltet, vor allem Medien des Gegenwärtigen, der Plötzlichkeit sind, die eben keine Vergangenheit haben, aber vielleicht auch keine Zukunft besitzen (aber das ist ein fragwürdiger Blick in die Glaskugel). Jedenfalls ist es nicht grundlos, dass sich in ihnen die vollkommen unsinnige Kategorie des „Postfaktischen“ entfalten konnte. Wenn sich in einem Medium die Vorstellung eines derartig naiven Realismus verbreiten kann, dann hinterlässt er seine Spuren wohl auch in den Diskussionen, die sich derartiger Medien affirmativ bedienen. Denn noch immer gilt Marshall McLuhans eindringliche Erkenntnis: „Das Medium ist die Botschaft.“ Und wer einmal reflektiert über den Zustand unserer gegenwärtigen Kommunikationsmedien nachdenkt, dem schwant nichts Gutes über den Zustand der darin stattfindenden Kommunikation und Streiterei.