MusikTexte 154 – August 2017, 110

Klang des Kreises

Stefan Schöneggs Debütalbum „Enso“

von Gerardo Scheige

Sie scheinen aus allen Richtungen zu kommen, um sofort wieder in selbige zu entschwinden: langsame Glissandi, fragile Obertöne, schnörkellose Pizzikati. Unterbrochen wird diese elastische Textur vom trockenen Wischgeräusch, das eine mit Schwämmen bearbeitete Snare Drum erzeugt. Nahezu unmerklich entspringt daraus ein zwischen Leichtigkeit und Entrücktheit changierender Groove. Schmetterlingshaft flattern Saxophonlinien über Wiesen surrender Streichersaiten. Ebenso unmerklich aber beginnen die Farbschichten des leuchtenden Klangbilds zu bröckeln, offenbaren die glänzenden Flügel kleinste Löcher und Risse, bis schließlich alles wieder in Auflösung begriffen ist. Zurück bleiben lediglich flüchtige, von einem perkussiven Knistern und Knacken begleitete Naturtöne – eine „fast niedliche“ Szenerie, wie der Titel „Almost cute“ andeutet.

Knapp fünf Minuten dauert das erste von insgesamt acht Abenteuern, in denen Kontrabassist Stefan Schönegg, Leonhard Huhn (Saxophone, Bassklarinette), Nathan Bontrager (Violoncello) und Etienne Nillesen (präparierte Snare Drum) die Grenzen zwischen freier Improvisation und neuer Musik einfallsreich ausloten. Notiertes Material von Schönegg trifft auf ausgiebigen Raum für freies Spiel. Ausgangspunkt sind stets einzelne, teilweise fragmentarische Ideen oder Konzepte, die unterschiedliche künstlerische Fragestellungen in den Blick nehmen. So zum Beispiel „Hellblau“, dessen Fundament Luft- und Atemgeräusche von Schlagzeug beziehungsweise Saxophon bilden, auf dem Quart-Flageoletts des Cellos melodisch tänzeln. Geerdet und gleichsam veredelt wird die ephemere Klangwolke durch eine schlichte, perlende Basslinie. Konsequent agiert das Quartett getreu dem Motto: „Weniger ist mehr.“ Reduktion wirkt hier aber nie manieristisch, sondern strahlt eine dem musikalischen Resultat immer dienende Natürlichkeit aus. Trotz oder gerade wegen dieser Zurücknahme können sich die Klangvorstellungen der vier Instrumentalisten ideal entfalten.

Verwundern mag zunächst vielleicht der Umstand, dass dem Aufnahmetermin am 22. April 2016 nur drei Proben und kein einziges Konzert – wie in der Improv-Szene üblich – vorausgingen. Neben einem auf Spontaneität hin ausgerichteten Ansatz dürfte dafür auch die Mitwirkung aller Akteure an IMPAKT Köln | Improvisation & aktuelle Musik eine entscheidende Rolle gespielt haben. Zwar feiert die ungewöhnlich besetzte Formation mit „Enso“ ihren Einstand, Schönegg, Huhn, Bontrager und Nillesen kennen sich indes sehr gut. Regelmäßig arbeiten sie nicht nur im Rahmen des 2014 gegründeten Kollektivs IMPAKT in verschiedenen Konstellationen zusammen. Dieses versteht sich dezidiert als offene Plattform für Musikerinnen und Musiker, die im Gruppenverband Neues ausprobieren möchten. Ausschlaggebend sind zwei Aspekte: Gemeinschaft und Aktualität. Fünfzehn Mitglieder zählt IMPAKT bislang, je nach Projekt wird der feste Kern erweitert. Gemeinsamer Nenner aller Beteiligten ist und bleibt aber das beständige Interesse an freier Improvisation, am Experiment, an „Musik, die aus der stilistischen und klanglichen Vielfalt der heutigen Zeit erwächst“, wie die eigene Website verspricht – in dieser Form und Größenordnung sicherlich ein begrüßenswertes Novum für die Domstadt. Gegenüber KLAENG Jazzkollektiv Köln oder dem Jazzkollektiv Berlin etwa liegt der Fokus von IMPAKT noch stärker in der zeitgenössischen Musik samt ihren Randbereichen.

Auf „Enso“ zeigt sich das beispielsweise im rätselhaften „Peaceful multidimensionality“, dessen erste Hälfte an das mikrotonale Irisieren der Kompositionen Giacinto Scelsis erinnert. Zeit wird hier zu Raum: Weiträumige Flächen der Bassklarinette und der Streicher liefern gewissermaßen das Material, den punktuelle Klacker-Sounds Schlag für Schlag zu einem Klangteppich weben. Nach einer abrupt einsetzenden Generalpause in der Mitte des Stücks beginnt das Quartett das soeben Geschaffene mit voller Kraft zu entflechten. Raum wird letztlich wieder zu Zeit: Nicht das Produkt, sondern der Herstellungsprozess steht im Vordergrund. Auch das ruhig schillernde „Tha­ha“, das exaltierte „The more you hurry the slower you go“ und das minimalistisch schöne „Enso“ zeugen davon – so als hätte Konfuzius’ inflationär zitierter Ausspruch „Der Weg ist das Ziel“ die ideelle Blaupause geliefert.

Fernöstliches spricht bereits aus den drei Titeln, sei es konkret durch den Namen der nepalesischen Stadt Thaha oder abstrakt durch Anschauungen und Begriffe des Zen-Buddhismus: „Je mehr du dich beeilst, desto langsamer kommst du voran“ appelliert an eine heutzutage in jeglicher Lebenslage weitgehend fehlende Ruhe. Eine musikalische Entsprechung findet Schönegg in der ungemein wirkungsvollen Gegenüberstellung unabhängiger, andauernd wechselnder Rhythmen und langer Töne. Bei Ensō handelt es sich um ein Symbol der japanischen Kalligraphie, das entweder als vollständig geschlossener oder noch geringfügig geöffneter Kreis gezeichnet wird. Im Zen verkörpert Ensō den wertfreien Ausdruck des Augenblicks, der zugleich alles und nichts umfasst. Obwohl dies geradezu einer exakten Definition freier Improvisation entspricht, wollte Schönegg – sich der Gefahr einer allzu plakativen musikalischen Umsetzung durchaus bewusst – das Konzept nicht überstrapazieren. Der Gedanke zum Titel- und Schlusstrack „Enso“ ist allerdings tatsächlich einer konkreten Situation im direkten Kontext von Zen geschuldet: Während eines Sommeraufenthalts in seiner Heimatstadt Konstanz fuhr der 1986 geborene Bassist jeden Morgen um sechs Uhr mit dem Rad entlang des Bodensees zum Dojo, um die Sitzmeditation Zazen auszuüben. Und jeden Morgen fand Schönegg dieselbe ruhige, idyllische Stimmung des Vollkommenen vor, die er in eine faszinierend karge Klangsprache übertrug.

Ebendiese Ästhetik nimmt auch das von Christoph Balduin Stroppel gestaltete Cover auf. Aus schwarzem Hintergrund dringt in Blau angedeutetes Wasser hervor; als Kontrast zur horizontalen Teilung des Bilds erstreckt sich eine senkrecht gewundene weiße Linie, die entfernt an den Umriss eines Ufers denken lässt. Beinahe unsichtbar bleibt ein einsamer dunkelblauer Punkt. Kreisrund. Mit Leere gefüllt. Im Hier und Jetzt.

Stefan Schönegg, Enso; Leonhard Huhn, Alt- und Sopransaxophon, Bassklarinette; Nathan Bontrager, Violoncello; Stefan Schönegg, Kontrabass; Etienne Nillesen, präparierte Snare Drum; Köln: IMPAKT, 2016.