MusikTexte 155 – November 2017, 25–29

Abwärtsspirale im Aufstieg

Doppelbegabungen im arbeitsteiligen Musikleben: Jan Esra Kuhl

von Rainer Nonnenmann

Die Erfindung der Notenschrift fällt sicher nicht zufällig in die gleiche Zeit, in der das Individuum im neuzeitlichen Sinne geboren wurde, und so ahnen wir, dass wir in der Musikentwicklung den gleichen Sinnverschiebungen von der „imitatio“ hin zur „productio“ begegnen werden. – Hans Zender1

Wie die gesamte Arbeitswelt ist das Musikleben von Professionalisierung und Spezialisierung bestimmt. Musiker sind entweder Instrumentalisten, Sänger, Dirigenten oder Komponisten. Selten sind sie mehreres auf gleich hohem Niveau. Das war in früheren Epochen anders. Komponisten waren selbstverständlich auch Interpreten, Instrumentalisten, Chorleiter und Dirigenten. Johann Se­bastian Bach betätigte sich auch als ausgezeichneter Cembalist, Organist, Geiger und Dirigent. Ähnliches gilt von Haydn, Mozart und Beethoven, sowie von Liszt, Bruckner, Brahms, Mahler und Richard Strauss. Später jedoch trennte sich die schöpferische Kreation von Musik zunehmend von deren nachschöpferischer Interpreta­tion. An die Stelle musikalischer Universalisten traten Spezialisten.

Heute komponieren Interpreten in der Regel keine Musik, sondern konzentrieren sich auf die Aufführung bestimmter Besetzungen und Gattungen alter oder neuer Musik. Das hat Folgen für die Konzertprogramme, die homogener, beziehungsloser und blinder für Traditionszusammenhänge werden. Da hohe Professionalisierung zumeist auch mit gesteigerter Effizienz und Durchökonomisierung einhergeht, sinken Probenzeiten bei gleichzeitig steigender Zahl an Konzertterminen. Intensives Durchdringen von Partituren wird immer seltener. Umgekehrt beschränken sich die meisten Komponisten auf das Schreiben neuer Stücke, ohne sich als Interpreten eigener und auch fremder Werke zu betätigen. Fehlende praktische Erfahrung bei der Hervorbringung von Klang geht oft einher mit mangelnder Sensibilität für körper­liche Anstrengungen, Energien, akustische Besonderheiten, instrumentale Widerstände, Rauhheiten, Zeitebenen, Dramaturgien, Präsenzen, Wirkungen …

Doch es gab und gibt immer wieder auch Ausnahmen von der grassierenden Spezialisierung und Separierung. Herausragende Doppelbegabungen nach 1950 waren ­Pierre Boulez, Bruno Maderna, Hans Werner Henze, Mauricio Kagel, Friedrich Goldmann, Friedrich Schenker und andere. In der gegenwärtig älteren Generation zu nennen wären Heinz Holliger, Frederic Rzewski, Hans Zender, Peter Eötvös oder Johannes Kalitzke, und in der gegenwärtig mittleren Generation Komponisten wie Jörg Widmann, der zugleich auch als Klarinettist international konzertiert, sowie Enno Poppe und Matthias Pintscher, die auch sehr erfolgreich als Dirigenten mit Orchestern und Ensembles arbeiten. Unter den jungen Komponisten bis Mitte dreißig sind es momentan neben etlichen anderen der Organist Jan Esra Kuhl, dessen Schaffen im Folgenden exemplarisch beleuchtet werden soll, sowie der Gitarrist Vladimir Guicheff Bogacz und der Oboist Maxim Kolomiiets, deren Musik in nachfolgenden Ausgaben der MusikTexte vorgestellt wird. Alle drei Komponisten-Interpreten haben eine andere Herkunft, doch alle studierten sie nach verschiedenen Werdegängen alle bei Johannes Schöllhorn an der Hochschule für Musik und Tanz Köln. Das ist vielleicht kein Zufall. Denn immerhin ist Schöllhorn als Komponist, Dirigent und Lehrer das lebende Vorbild einer Mehrfachkarriere.

Das Schaffen der jungen Komponisten-Interpreten ­berührt Fragen der Ästhetik ebenso wie Strukturen des Musiklebens: Wie beeinflussen sich die verschiedenen Professionen? Schreiben die Komponisten-Interpreten bevorzugt für das eigene Instrument oder meiden sie dieses eher? Fördert das Komponieren auch das praktische Musizieren, weil es eine Interpretation befruchtet und erhellt? Oder wirkt kompositorisches Mitdenken beim Interpretieren eher störend, weil es die Tendenz hat, sich zu verselbständigen? Welche Chancen und Probleme bergen Doppelbegabungen im arbeitsteilig organisierten Musikleben? Worin sehen die jungen Musiker ihre berufliche Zukunft? Welche Rolle spielen praktische, ökonomische und familiäre Umstände? Immerhin sind beide Tätigkeiten mit sehr verschiedenen Arbeitsweisen, So­zialstrukturen und Lebensformen verbunden: Komponisten arbeiten meist allein zu Haus, können jederzeit aufstehen, Kaffee kochen oder spazieren gehen; Interpreten dagegen sind viel auf Reisen, proben gemeinsam, interagieren und müssen bei Auftritten stets hundertprozentig konzentriert sein.

Komponisten-Interpreten sind von Composer-Performern zu unterscheiden, dem Musikertypus, der sich seit den Sechzigerjahren weltweit verbreitete, auch als Reak­tion auf den zunehmend spezialisierten Musikbetrieb. Denn im Gegensatz zu Composer-Performern, die kaum je Partituren anderer Komponisten interpretieren, sondern in erster Linie für sich selbst als Instrumentalisten, Vokalisten oder Elektroniker Stücke konzipieren, treten Komponisten-Interpreten auch ganz unabhängig vom eigenen Komponieren als Interpreten auf und spielen selbstverständlich auch Musik anderer Komponisten sowie zusammen mit anderen Interpreten und Ensembles.

Durchgedreht: „and again“

Unter den klassischen Instrumentalisten kommen Organisten dem Typus des Composer-Performer traditionellerweise am nächsten, da sie selbstverständlich immer auch auf der Orgel improvisieren und für ihr Instrument komponieren. Der 1988 in Trier geborene Jan Esra Kuhl ist Organist und Komponist, aber kein Orgel-Komponist. Er schreibt auch Musik für andere Besetzungen und spielt selbstverständlich auch traditionelle Orgelliteratur:

In meiner Kindheit war klassische Musik im weitesten Sinn immer präsent. Und soweit ich mich erinnern kann, war es für mich immer selbstverständlich, dass das Kennenlernen von Musik damit einherging, diese auch in irgendeiner Weise selber auszuprobieren, also etwa einzelne Stellen auf dem Klavier nachzuspielen. Mit zunehmender Entwicklung habe ich dann unter dem Eindruck verschiedener Komponisten, zum Beispiel Dvorˇák, ganz selbstverständlich auch versucht, selber einzelne Sinfoniesätze zu komponieren. Es hat mich auch beim Musizieren generell immer mehr gereizt, irgendwas zu machen, was noch nicht vorgegeben war, also selber wesentlich zu bestimmen, was passiert. In Phasen ist dann mal das eine, mal das andere in den Vordergrund getreten. Grundsätzlich lag meine Priorität aber immer eindeutig beim Komponieren. Ich habe mich nur nicht immer gleichermaßen stark getraut, das für mich auch so zu sagen.2

Jan Esra Kuhl absolvierte ein Tripelstudium. 2008 begann er zunächst mit Kirchenmusik in Köln, wo er neben Theorie und Geschichte selbstverständlich auch umfassend in Orgel, Gesang und Dirigieren ausgebildet wurde. Ab 2009 studierte er dann zusätzlich Tonsatz sowie ab 2010 Komposition bei Jörg Widmann und Brice Pauset an der Hochschule für Musik Freiburg. Den Master in Komposition absolvierte er schließlich bei Johannes Schöllhorn an der Hochschule für Musik und Tanz Köln. Bereits seit 2013 gibt Kuhl selber Seminare und Workshops zu Orgelimprovisation und experimentellem Musizieren. Und seit Oktober 2016 unterrichtet er Musiktheorie an der Musikhochschule Freiburg. Als Organist konzertiert und improvisiert er regelmäßig, auch auf internationalen Orgelfestivals, doch tritt diese Tätigkeit gegenwärtig angesichts sich häufender Kompositionsaufträge immer mehr zurück.

Beim Komponieren versucht Kuhl dem, was wirklich klingt, möglichst nahezukommen. Das betrifft insbesondere die Harmonik, die er zuvor an Orgel oder Computer ausprobiert. Dass ihm gerade Harmonik besonders wichtig ist, liegt nicht zuletzt an seiner Herkunft vom Harmonie-Instrument Orgel, selbst wenn er nicht für Orgel komponiert. Sein erstes Orchesterwerk „and again“ von 2015 wurde als Preiswerk eines Kompositions-Wettbewerbs im März 2016 vom Luzerner Sinfonieorchester uraufgeführt. Das viertelstündige Stück besteht aus permanent gleitenden Harmonien und überwiegend – wie bei der Orgel – abrupt wechselnden Klangregistern. Darin ähnelt es der Musik anderer Komponisten-Organisten, etwa Anton Bruckner, Max Reger oder Olivier Messiaen. Kuhls Orchesterwerk beginnt mit einem Cluster vielfach geteilter Streicher, die ihre Liegetöne permanent umschichten. Der an György Ligetis „Atmosphères“ (1961) erinnernde Farbklang dünnt aus und mündet endlich in strahlendes H-Dur (Takt 31). Die anschließende Kadenz zu e-Moll/E-Dur lässt dann abrupt die Bläser mit Umspielungen dieses Dreiklangs einsetzen, bis nach und nach das gesamte Orchester hinzutritt.

Während des ganzen Stücks passiert eigentlich immer dasselbe. Stets läuft die Akkordkette einer Quintfallsequenz ab, nur verschieden angeordnet. Auch der Anfangsklang besteht aus dieser Quintfallsequenz, allerdings nicht nur linear, sondern auch vertikal geschichtet. Die zwölf Schichten – von sehr hoch bis sehr tief – bewegen sich aber nicht gleich schnell, sondern in zwölf verschiedenen Geschwindigkeiten, einer fast schon natürlichen Ordnung folgend, ganz oben am schnellsten. Von einem total mehrdeutigen Status bewegen sich diese Schichten dann immer mehr auf das tonale Zentrum e-Moll zu, mit H-Dur als Dominante. Die dann folgende lineare Quintfallsequenz habe ich als einen Parameter genutzt, mit dem ich unterschiedliche Situationen gestalte. Mich hat sehr interessiert, dass diese Akkordfolge paradox ist. Denn sie tut so, als ginge es wohin, aber eigentlich ist der Quintenzirkel ein Tableau, bei dem man immer wieder genau da rauskommt, wo man begonnen hat. Ein Kreis hat das nun mal so an sich. Ich wollte das, was in dem Material steckt, auf unterschied­liche Arten herausarbeiten und dabei auch sehen, wie nah oder nackt oder weit weg das Material sein kann, so dass man es manchmal nur noch erahnt.

Über chromatisch ansteigenden Linien verläuft „and again“ in mehreren Akkordwellen, die sich mal langsamer, mal schneller zum fff -Tutti steigern. Wie der Werktitel schon sagt, verfängt sich das Stück dabei wieder und wieder in derselben Quintfallsequenz. Diese suggeriert dem Hörer, die Musik steige auf einer endlosen Stufenleiter in immer lichtere Höhen. Veranschaulichen lässt sich das harmonikale Geschehen anhand der Streicher ab Takt 95. Die Stimmen steigen hier versetzt in chromatischen Sekunden höher, indem sie ständig die Moll-Terz zur Dur-Terz aufhellen, diese dann zur Dominante umdeuten und folglich als Leitton chromatisch zum Grundton der nächsten Moll-Tonika weiterführen. Die resultierende Tonartenfolge f-Moll/F7-Dur, b-Moll/B7-Dur, es-Moll/Es-Dur et cetera erweckt so den Eindruck eines ständigen Aufwärtsdrängens sowie einer permanenten Aufhellung. Unterstützt wird diese Tendenz durch sowohl instrumentatorisch auskomponierte als auch reale Crescendi, die den gesamten Apparat zu fulminantem Rauschen und Orgeln bringen. Indem Kuhl das Modulations-Scharnier gleichsam als Pattern verselbständigt, verliert es seine ursprünglich tonale Funktion. Die permanente Reihung desselben Glieds zur fortlaufenden Kette nimmt ihm die tonale Funk­tion. Denn wo alles rotiert, da gibt es – trotz hörbar tonaler Wendungen – kein tonales Zentrum mehr.

Verstärkt wird die Sogwirkung durch einen Synthesizer, über den vorproduzierte Akkorde in mikrotonal anderer Stimmung und stark aufgespreizten Registern abgespielt werden. Ebenfalls bei e-Moll beginnend steigen die Synthesizer-Akkorde in mehreren Zyklen (beginnend in den Takten 277, 287, 297 und 301) über a-Moll, d-Moll, g-Moll und c-Moll den Quintenzirkel schrittweise abwärts bis f-Moll. Indem die Akkorde jedoch gleichzeitig kontinuierlich um einen Halbton tiefer glis­san­die­ren, erklingt anstelle von f-Moll in Wirklichkeit bereits wieder die Ausgangstonart e-Moll. Statt wie üblich nach zwölf Quintfällen wird der Ausgangspunkt also bereits nach nur fünf Quintschritten wieder erreicht, was die Dynamik des permanenten harmonikalen Gleitens potenziert. Für rhythmische Kontrapunkte im akkordisch konzipierten und herkömmlich besetzten Orchesterstück sorgen Pauken und zwei Drumsets.

Nach einer nächsten Akkordsequenz landen die Bläser in Takt 183 erneut bei e-Moll, das dann umgekehrt die Streicher mit absteigenden Sechzehntel-Dreiklangs­bre­chungen in der Art repetitiver Minimal Music fortsetzen, und zwar abermals gemäß dem Modulationsmodell e-Moll/E-Dur, a-Moll/A-Dur, d-Moll/D-Dur et cetera. Zugleich verdichtet sich der flatterhafte Satz zum voluminös stampfenden Tutti, das verschiedene Akkorde polytonal überlagert. Nach weiteren Akkordketten spielen die vielfach geteilten Streicher in den letzten Takten 333 bis 347 als verkürzte Reprise wieder den dichten Cluster des Anfangs, der über langsam sich umschichtenden Liegetönen erneut in strahlendes H-Dur mündet.

Aufgedreht: „Wendeltreppe“

Ein ähnliches Modulationsschema hatte Kuhl zuvor schon in „Wendeltreppe“ für gleichstufig gestimmte Orgel und Zuspielung (2015) genutzt.

Das Hauptmaterial von Wendeltreppe“ ist einem Orgelwerk von Johann Sebastian Bach entnommen, nämlich der „Fantasie“ g-Moll BWV 542, deren Kenntnis ich meiner Aktivität und meinen Repertoirekenntnissen als Organist verdanke. Es handelt sich um die sogenannte ewige Tonleiter. Im Bass haben wir eine nach unten schreitende Tonleiter und darüber Harmonien, die sich langsam nach oben schrauben. Mein Stück arbeitet ausschließlich mit diesem Modell und einem dazukommenden Grundgedanken.

Kuhl kombiniert Bachs Endlosmodulation mit Zuspielungen von Orgelsamples aus Unisoni und Akkorden in mehrfacher Oktavspreizung. Da die Mittellage dieser Samples dynamisch präsenter ist als die Randlagen in Höhe und Tiefe, sind die zugespielten Orgelklänge nur schwer einer bestimmten Oktavlage zuzuordnen. Bei entsprechenden Tonbewegungen nach oben oder unten entsteht daher der Eindruck eines – so Kuhl in der Partitur – „ewigen Nach-unten- beziehungsweise Nach-oben-Schreitens“. „Wendeltreppe“ beginnt mit elektronischen Zuspielungen einer im mehroktavigen Unisono absteigenden Skala, die in unregelmäßigen Abständen immer wieder neu ansetzt und dennoch eine kontinuierliche Abstiegsbewegung suggeriert. Außerdem sind die Tonhöhen gegenüber der herkömmlichen Stimmung um sechsundzwanzig Cent erhöht. Doch die intonatorische Differenz wird sukzessive abgebaut, bis in Takt 13 die übliche Stimmung erreicht ist und die Orgel hier mit Bachs Quintfallsequenz einsetzt. Der Organist spielt diese zuerst allein, dann auch parallel zu den elektronischen Skalen. Angefangen bei c-Moll geht es über C-Dur, f-Moll/F-Dur, b-Moll/ B-Dur immer weiter, bis nach zwölf Quinten beziehungsweise zwölf Takten in Takt 25 erneut c-Moll erreicht ist. Infolge der ständigen chromatischen Erhöhungen der Moll- zur Dur-Terz und weiter zum nächsten Grundton erlebt der Hörer – wie im Orchesterwerk – die harmonikale Abwärtsspirale als steten Aufstieg: Die biblische Jakobsleiter reckt sich als endlose „Wendeltreppe“ immer höher in den Himmel.

Ich habe mir beim Komponieren nicht gesagt: Okay, ich schreibe jetzt ein Stück, das theologisch dieses oder jenes bedeutet und durch das ewige Aufwärtsschreiten irgendwie auf Gott verweist. So direkt ist das für mich nicht verknüpft. Aber natürlich lässt das Stück eine solche Assoziation zu, und ich mag, dass es so etwas zulässt, weil ich sonst etwas anderes komponiert hätte. Ich denke nur, man muss einen bestimmten Begriff von solchen Dingen aufbrechen, um vielleicht einen Kern herauszufinden, der dann vielmehr das ist, was es zunächst nicht zu sein scheint. Insofern meine ich, ist Wendeltreppe“ erst einmal ein „gottloses“ Stück, dann aber auch gerade nicht. Das Stück verhält sich wie ein Auto, das von selbst gegen die Wand fährt, weil es von vornherein so gebaut wurde. Die schrittweisen Abweichungen der Samples um genau zwei Cent entsprechen exakt dem Unterschied zwischen einer temperierten Quinte des gleichschwebenden zwölfstufigen Systems und einer aus der Obertonreihe abgeleiteten reinen Quinte. Das ist ein Fünfzigstel Halbton, den man als Intervall nicht hören kann. Aber was man hört, ist sozusagen die Spur, die diese minimalen Tonschritte hinterlassen, wie bei einem Alterungsprozess: Wenn man sich jeden Tag im Spiegel sieht, erkennt man kaum einen Unterschied, doch wenn man eine Person ein, zwei Jahre nicht gesehen hat, sieht man den Unterschied. So ähnlich ist es in diesem Stück. Wenn ich zwölf rein gestimmte Quinten durchschreite, dann bin ich schon vierundzwanzig Cent tiefer als bei temperierten Quinten. Nach zwei Durchgängen durch den Quintenzirkel ist es bereits ein Viertelton. Und das hört man. Das berührt dann den Bereich, der mich besonders interessiert, dass nämlich nicht ganz klar ist, was man eigentlich hört, weil es sich genau auf der Schwelle bewegt zwischen dem, was man wahrnehmen kann und was man nicht ganz wahrnehmen kann. Die Wahrnehmung als solche zu wecken, passiert genau dann, wenn eben nicht mehr klar ist, was passiert. Wenn alles klar ist, dann macht man ein Häkchen dran und kann sich zurücklehnen. Man muss aber auf der Stuhlkante sitzen: Was genau passiert da?

In Takt 61 setzt der Organist aus und die Zuspielung er­neut ein. Deren Stimmung fällt mit jedem Quintschritt um zwei Cent. In Takt 73 wird daher ein um minus zwanzig Cent erniedrigter c-Moll-Akkord erreicht. Von hier aus kehrt sich der Prozess zunächst einmal um. Die Töne fallen plötzlich chromatisch ab und die Quinten steigen in entgegengesetzter Richtung mit umgekehrter Dur/Moll-Folge im Quintenzirkel von c-Moll über G-Dur/g-Moll, D-Dur/d-Moll immer weiter auf. Gleichzeitig nähert sich die Intonation von Quinte zu Quinte wieder der temperierten Stimmung der Orgel an, bis diese in Takt 85 nach abermals zwölf Quinten mit C-Dur/c-Moll erreicht ist und der Organist wieder einsetzt. Im Folgenden erklingen die auf- und absteigenden Quintfallsequenzen in Orgel und Samples abwechselnd sowie ineinander montiert und gleichzeitig. Dadurch kommt es zwischen der temperierten Orgel und den mikrotonal versetzten Samples zu intonatorischen Sprüngen und schrillen Reibungen. Zugleich lassen sich die Klänge von Orgel und Samples kaum mehr unterscheiden. Dem Hörer geht der Bezugspunkt verloren, der ihn sonst beurteilen lässt, welche Intonation stimmt oder falsch ist, welche künstlich oder natürlich ist.

Indem sich die Auf- und Abwärtslinien der temperierten Modulationsketten der Orgel und der rein intonierten Orgelsamples immer schneller durchkreuzen und überlagern, entsteht ein reißender Klangstrudel. Wie die ersten Zyklen bauen sich auch die weiteren Kulminationen zunächst kontinuierlich auf und wieder ab. Die vorerst maximale Stimmungsabweichung von zweiundsechzig Cent wird daher bis zum c-Moll-Einsatz der Orgel in Takt 170 ebenso vollständig wieder zurückgenommen wie das nach allmählichem Accelerando erreichte maximale Tempo Viertel = 77, 15 auf Viertel = 60. Auf der Grundlage der nahtlos verketteten Modulationsspiralen demon­striert Kuhl die Verflüssigung der traditionellen Koordinaten Tempo, Harmonik und Stimmung. Zudem macht er deutlich, dass das Koordinatensystem der Musik kein zyklisch geschlossenes mehr ist, sondern offen und wie eine endlose Wendeltreppe prinzipiell unabschließbar, plus ultra ad infinitum.

Die letzte Steigerungswelle des knapp zehnminütigen Stücks ist zugleich die längste und intensivste. Wie bei den Sequenzen zuvor werden ab Takt 170 zwei sich wechselseitig potenzierende Prozesse überlagert: Das Tempo acceleriert um ein Vielfaches bis Viertel = 283, 78, um dann in rein elektronischen Wiederholungssequenzen noch vier weitere Male gesteigert zu werden. Der Organist gerät dabei irgendwann an seine spieltechnischen Grenzen, so dass er in Takt 351 auf einem c-Moll-Akkord liegenbleibt und wenig später vollends aussetzt. Der immer schneller durchlaufene Quintenzirkel eskaliert zum Zirkeltraining beziehungsweise Folterinstrument: Der Organist wird von der Zentrifuge aus der Bahn geschleudert und der Hörer erlebt einen nicht enden wollenden Drehwurm bis zum Schwindelig- und Wahnsinnigwerden. Außerdem sinkt die Intonation der Zuspielungen kontinuierlich jede Viertelzählzeit um zwei Cent. Die Abweichung erreicht daher in Takt 222 bereits einen Halbton (100 Cent), in Takt 271 einen Ganzton (200 Cent), in Takt 321 eine kleine Terz (300 Cent) und in Takt 371 eine große Terz (400 Cent). In der finalen, rein elektronischen Wiederholungssequenz sacken die Sample-Zuspielungen bei jedem der vier Durchgänge noch einmal um weitere vierundzwanzig Cent ab. Das kontinuierliche Accelerando und Absinken der Stimmung bedingen sich insofern wechselseitig, als die zunehmende Beschleunigung die an sich minimalen Intonationswechsel immer hörbarer hervortreten lässt.

Die extreme Beschleunigung am Ende von Kuhls „Wendeltreppe“ wirkt wie eine pessimistische Allegorie des „rasenden Stillstands“, wie ihn Paul Virilio 1992 in seinem gleichnamigen Essay beschrieb. Das Stück besteht aus der immer gleichen Kadenzkette, die ständig hitziger auf der Stelle dreht, ohne in irgendeiner Richtung voran zu kommen. Das erinnert an die absurden Treppenkonstruktionen oder die gleichzeitig ab- und aufwärts fließenden Wasserfälle auf Zeichnungen des niederländischen Graphikers Maurits Cornelis Escher. Wie dessen in sich selbst rückläufige Treppen oder Kanäle ist Kuhls Musik paradox: Die Tonhöhen steigen chromatisch immer höher, die Harmonik fällt dagegen Quinte um Quinte, und auch die Intonation sackt immer weiter ab. Dem himmelstürmenden Aufstieg korrespondiert ein Fall in bodenlose Tiefen. Am Schluss werden die Orgelsamples im Zuge der extremen Beschleunigung so sehr ins Geräuschhafte verzerrt, dass das Stück endlich mit einem in rauhe Tiefen absackenden Glissando förmlich verröchelt. Nachdem Orgel und Organist bereits längst kapituliert haben, erleidet nun auch die Elektronik einen Kollaps. Die Königin der Instrumente wirkt wie durch den Fleischwolf gedreht, vom selbst entfachten Quintfall-Strudel verschluckt. Ähnliche Accelerando- und Ritardando-Linien überlagerte Kuhl später auch in seiner „Sammlung“ für Klavier (und Tonband) von 2016, vor allen in der kurzen „Taccata“ und – kombiniert mit auseinandergleitender Stimmung – der ebenso kurzen „Prozession“.

1 Hans Zender, „Interpretation – Schrift – Komposition“, in: Derselbe, Wir steigen niemals in denselben Fluss: Wie ­Musikhören sich wandelt, Freiburg: Herder, 1996, 63.

2 Die Zitate stammen aus einem Gespräch, das der Autor im Januar 2017 in Köln mit dem Komponisten geführt hat.