MusikTexte 155 – November 2017, 14–18

„low tech music for high tech people“

Chiptunes – der Punk der elektronischen Musik

von Julia Mihály

Computer-Freak-Kunst für Computer Freaks. So definiert sich eine Musikszene, deren Wurzeln in den Anfängen der Heimcomputer-Ära liegen. Die Rede ist von Chip­tunes, auch Chipmusic genannt. Der Terminus „Chip­tune“ geht zurück auf die Zeit, als Musik von Computern mittels sogenannter PSG-Soundchips generiert wurde. PSG steht für „programmable sound generator“. Diese Soundchips konnten Klänge mit einer Auflösung von maximal 8 Bit erzeugen. Man spricht daher auch von sogenannter 8-Bit-Musik.

Die PSG-Soundchips wurden ab Mitte der Siebzigerjahre in Arcade-Spielautomaten, Spielkonsolen wie Atari VCS und in Heimcomputern wie Atari 800 und Commodore 64 eingebaut. Gegen Ende der Achtzigerjahre wurden sie zunehmend durch Soundkarten ersetzt, die wesentlich erweiterte Kapazitäten für die Klangerzeugung boten. Musik für Computerspiele konnte somit aufwendiger und klanglich vielseitiger produziert werden, so dass die einst für Computerspiele typischen 8-Bit-Klänge mehr und mehr verschwanden.

Vom Cracktro zur musikalischen Emanzipation

Während der Blütezeit der 8-Bit-Systeme entwickelte sich ein immer größer werdender Markt für Computerspiele, die in der Regel mit einem softwarebasierten Kopierschutz versehen waren. Um diese Spiele unter Jugendlichen leichter austauschen und verbreiten zu können, fingen immer mehr Programmierer an, Techniken zu entwickeln, mit denen sie diesen Kopierschutz umgehen konnten. Es entstand eine Szene von Hacker-Gruppierungen, die sogenannte Demoszene. Deren Protagonisten, die Spiele­hacker, wurden Cracker genannt. Diese taten sich oftmals zu Crackerkollektiven zusammen, die sich darin zu überbieten suchten, die neu auf den Markt gekommenen Spiele am schnellsten zu knacken und in der Community zu verbreiten. Das geschah – lange vor der Kommerzia­lisierung des Internets – über selbstgebastelte Telefon-Netzwerkverbindungen. Auf diese Weise konnten die Spiele ungehindert von Zoll und Urheberschutz weltweit zur Verfügung gestellt werden.

Um eine Art Reviermarke zu setzen, die unter Eingeweihten Rückschlüsse darauf gab, von wem ein Spiel gehackt wurde, entstand der Brauch, ein gehacktes Spiel mit einem Intro, also einer zusätzlichen Animation, zu versehen, die an den Anfang des Spiels gestellt wurde. Solch ein Intro wurde unter Anhängern der Szene auch „Cracktro“ genannt. Und diese Cracktros wurden mit selbstkomponierter 8-Bit-Musik unterlegt. Die Entwicklung der Demoszene kann daher aus heutiger Sicht als treibendes Element bei der Entwicklung der Chiptune-Kultur betrachtet werden. Denn mit dem Wettbewerb um die aufwendig gestalteten Cracktros wuchs auch die Nachfrage nach speziell dafür komponierten 8-Bit-Musikstücken, die über die reine Spieluntermalung hinaus ein erweitertes musikalisch-kompositorisches Feld eröffnen sollten. Die Hacker fingen also an, zu komponieren.

Und auch die Computerspielhersteller erkannten das Potential dieser Bewegung und begannen, Titelmelodien bei Programmierern aus der Demoszene in Auftrag zu geben. Die Musik besonders erfolgreicher Spiele, wie zum Beispiel „The Legend of Zelda“, „Zack McKracken and the Alien Mindbenders“ oder „Donkey Kong“ haben bis heute in der Spieleszene Evergreenstatus. Ursprünglich als reine Gebrauchsmusik eingesetzt, um Spielverläufen eine Geräuschkulisse zu geben oder die emotionale Wahrnehmung situativer Atmosphären im Spiel zu verstärken, begann sich die 8-Bit-Musik allmählich als ein eigenständig rezipiertes Element der Computerspielkultur zu emanzipieren.

Kontrapunkt nach Rechenleistung

Die Kompositionstechniken der frühen 8-Bit-Musik waren, wie oft in der elektronischen Musik, eng an die technischen Bedingungen der damals gebräuchlichen Soundchips gekoppelt. Damit genügend Rechenleistung für ein Computerspiel zur Verfügung stand, konnten zur Erzeugung der dazugehörigen Musik nur geringe Datenmengen genutzt werden. Dies hatte zur Folge, dass die Musik strukturell sehr einfach gestaltet war. An erster Stelle stand der effiziente Umgang mit Speicherplatz und Rechenleistung zugunsten der Spielgestaltung. Eine kompositorisch vielfältige Ausdrucksweise war dagegen sekundär.

Bei den ersten programmierbaren Generatoren konnten musikalische Parameter wie Dynamik, Klangfarbe und Klangqualität kompositorisch noch nicht differenziert wer­den. Filter oder unterschiedliche Arten von Generatoren zur Klangmodulation waren nur äußerst selten implementiert. Der prägnante Klang der Rechteckschwingung dominierte lange Zeit die Computerspielmusik, wurde dadurch aber auch zum unverkennbaren Merkmal der späteren Chiptune-Musik. Ebenso konnten Techniken wie Frequenzmodulation oder Sampling zur Erweiterung der Klänge anfangs noch nicht angewendet werden – die erforderliche Rechenleistung wäre zu hoch gewesen. Die Klangqualität der 8-Bit-Musik wurde schon dadurch beeinträchtigt, dass sie für Computerlautsprecher komponiert war. Hinzu kam, dass die Soundchips wegen der unterschiedlichen Wechselstrom- und Zeilenwiederhol­frequenz in verschiedenen Systemen je nach Wiedergabe­modus anders gestimmt waren und unterschied­liche Laufzeiten hatten. Dies hatte zur Folge, dass eine Computerspielmusik an jedem Rechner anders klang. Sowohl die Stimmung als auch das Tempo variierten.

Der 1979 erschienene Atari Pokey Chip war der erste Soundchip, der vierstimmige Klangerzeugung ermöglichte. Er verfügte über vier 8-Bit-Monokanäle, Hochpassfilter, variable Hüllkurven und einen Zufallsgenerator, wobei Lautstärke und Frequenzen für jeden Kanal einzeln regelbar waren. Insgesamt umfasste er einen Tonumfang von dreieinhalb Oktaven. Die Modelle Atari 400 und 800 wurden mit diesem Chip ausgestattet. Mit den vier Monokanälen konnten vier Töne gleichzeitig erzeugt werden, so dass die Kompositionen nun vierstimmig wurden. Dies war eine deutliche Erweiterung, denn in den Jahren davor mussten Komponisten mit maximal drei Stimmen auskommen, da auf einen Soundchip meist nur zwei Impulsgeneratoren und ein Rauschgenerator passten. Traditionell wurden Lead- und Begleitstimme auf zwei getrennte Kanäle verteilt, Bass und Schlagzeug liefen über einen Kanal.

Für die Lead- und Begleitstimme wurde jeweils eine Rechteckschwingung verwendet, für die Basslinie eine Dreieckschwingung und für die perkussiven Sounds eine unregelmäßige Schwingung, also ein Rauschen. Fortschrittlichere Chips stellten zusätzlich noch einen Kanal für gesampelte Klänge zur Verfügung. Sofern ein Computer über ausreichend Rechenleistung verfügte, konnten damit auch fertige Samples integriert werden.

Um Mehrstimmigkeit und differenziertere Rhythmen und Tonverläufe in die drei- bis vierstimmigen Sätze zu bringen, mussten zugunsten der Rechenleistungseffizienz bestimmte Regeln streng befolgt werden. Mehrstimmige Akkorde konnten zur Begleitung einer Melodie zwar eingesetzt werden, aber man ließ sie aus den erwähnten Gründen nicht gleichzeitig, sondern als Arpeggios erklingen – ein bis heute charakteristisches Stilmittel der Chiptune-Musik.

Da sich Bass und Schlagzeug einen Kanal teilten, war hier Zweistimmigkeit unmöglich. Pro Zählzeit hörte man also entweder die Schlagzeug- oder die Bassstimme. Um dennoch den Eindruck eines parallel laufenden Beats zu vermitteln, wurden die Basstöne um wenige Millisekunden gekürzt, um die dadurch entstandenen Lücken mit perkussiven Rauschklängen füllen zu können.

Gestalterisch war die Musik im Rahmen der Computerspieluntermalung zunächst rein adaptiv angelegt, indem sie auf Aktionen des Spielers reagierte. Dabei bediente sie sich der Filmmusiktechnik des Underscoring, welche die Bildhandlung in Musik übersetzt. Wenn also beispielsweise Super Mario durch das Level 1 der Super Mario World läuft und durch sein Anspringen eines schwebenden Blocks ein Pilz daraus hervorschießt, löst das ein dementsprechendes Geräusch aus. Die Hintergrundmusik gestaltet nicht nur die Atmosphäre des Spiels, sondern dient gleichzeitig – ähnlich der Leitmotivtechnik – als Wiedererkennungsmerkmal. Alle zusätzlichen Geräusche sind Betätigungs-Sounds, die durch den vom Spieler gesteuerten Handlungsverlauf hervorgerufen werden. Der obligatorische Level-Endgegner löst durch sein Erscheinen zur Steigerung des weiteren Spannungsverlaufs eine sofortige Änderung der Hintergrundmusik aus. Wann diese einsetzt, hängt davon ab, wie schnell Super Mario vom Spieler durch das Level zu diesem Gegner geführt wird.

Der Gameboy als nostalgisches Musikinstrument

Mitte der Achtzigerjahre, genauer gesagt 1983, zu einer Zeit, als der damals vollkommen übersättigte Computerspielmarkt einbrach, brachte die Firma Nintendo die Spielkonsole Nintendo Entertainment System, kurz NES heraus, die mit großem Erfolg verkauft wurde. Mit Erscheinen der Spielserie „Super Mario Bros.“ (1985) wuchs die Nintendo-Popularität, bis der Computerspielmarkt 1989 mit dem Gameboy als kleiner, portabler Spielkonsole endgültig von Nintendo erobert war. Der Gameboy wurde für ganze Generationen von Computerspielern zur wichtigsten Konsole ihrer Kindheit und Jugend. Sicherlich mag daher eine Kausalität bestehen zwischen der Popularität des Gameboy als Spiele-Device und dem Gameboy als späterem Musikinstrument der Chiptune-Renaissance Ende der Neunziger-, Anfang der Nullerjahre. Klanglich brachte der Gameboy keine Neuerungen. Die Musik der Gameboyspiele erklang in traditioneller 8-Bit-Auflösung aus einem ebenso kleinen, dem Spielgerät implementierten Lautsprecher. Daher konnte sie sich kompositorisch kaum weiterentwickeln.

Auch wenn sich die Chiptune-Szene der Anfangsjahre auch heute noch strikt allen technischen Neuerungen der 256-Bit-Welt verschließt und weiterhin darauf beharrt, in ihrer künstlerischen Produktion mit nur acht Bits auszukommen, gab es eine technische Entwicklung, die die Szene wiederbelebte, künstlerisch aufmischte und verjüngte: Anfang der Nullerjahre erschien verschiedene Trackersoftware – Programme, die eine 8-Bit-Umgebung simulierten und es ermöglichten, auch ohne Programmierkenntnisse an herkömmlichen, modernen Heimcomputern 8-Bit-Klänge zu generieren und kompositorisch einzusetzen. Zu den bekanntesten Trackerprogrammen zählen Renoise, Milky Tracker, Sun Vox und Fami­tracker. Mit der aufgehobenen Begrenzung der Sound­kanäle und einer größeren Variabilität der Klang­synthese stellte Trackersoftware eine wesentliche Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten der Chiptune-Musik dar. Dadurch ist es heutzutage nur noch eine Frage des Geschmacks, ob die traditionelle, drei- bis vierstimmige Satzweise beibehalten oder kompositorisch weitergedacht wird. Neben Trackersoftware erschienen außerdem sogenannte Little-Sound-DJ-Karten, abgekürzt LSDJ. Die sehen aus wie frühere Gameboyspiele und werden ebenso wie diese in das Spielfach auf der Rückseite des Geräts gesteckt. Die auf der Chipkarte enthaltene Software verwandelt den Gameboy in ein Device, mit dem in Echtzeit Klänge generiert und gespielt werden können. Der Gameboy mutierte damit zum Musikinstrument. Um ihn als Live-In­strument auf der Bühne verwenden zu können, wird er heutzutage so gebaut, dass sein Sound direkt ins Mischpult eingespeist werden kann.

Soziokulturell ist an den Aktivitäten der späten Neun­ziger- und Nullerjahre ein für die Chiptune-Szene typisches Verhalten zu beobachten: Man erlebte eine Musiker- und Komponistengeneration, die ein Relikt ihrer Kindheit im Erwachsenenalter als Musikinstrument definierte, dessen Einschränkungen als Spiele-Device es zu überwinden galt. Dadurch wurde Chiptune als Medienkunst und Musikstil maßgeblich weiterentwickelt. Dieser Generation ging es nicht mehr darum, ein Spiel möglichst schnell zu hacken, es durch ein individuell, kunstvoll gestaltetes Cracktro zu erweitern und in der Community zu verbreiten. Die Spiele selbst waren längst in den Hintergrund gerückt und allenfalls noch mit nostalgischen Kindheitserinnerungen verknüpft. Kompositionen, die keinerlei direkten Bezug zu bestimmten Computerspielen mehr hatten, standen jetzt im Vordergrund. In ihrer Nostalgie bleiben Chiptune-Künstler bis heute den Siebziger- und Achtzigerjahren so stark verhaftet, dass die Chiptunes sich zu einer Art Recycling-Kunst entwickelten, deren Protagonisten Flohmärkte und Online-Auktionen nach immer wieder neuen alten Fundstücken der Soundchip-Ära durchforsten und diesen Geräten damit einen Sammlerstatus verleihen. Die damit einhergehende Rückwärtsgewandtheit vieler Chiptune-Anhänger mündet in ein ständiges Gegen-den-Strom-Schwimmen, eine konstante Bewegung gegen die aktuelle, auf Hochglanz polierte Musik der Mainstream-Computerspiele – die Verweigerung des Fortschritts zugunsten einer ganz eigenen Klangästhetik.

Nerd-Attitüde jenseits des Mainstreams

Die Chiptune-Szene tummelt sich in einem Becken diverser Jugend- und Underground-Kulturen. Sie verhält sich gegenüber den aktuellen technologischen Entwicklungen weitestgehend autonom. Sie orientiert sich an Möglichkeiten jenseits des Mainstreams und erstrebt zumeist keine kommerzielle Ausrichtung. Wie bereits zu Zeiten der Demoszene findet die Vernetzung innerhalb der Chiptune-Szene überwiegend virtuell statt. Auf verschiedensten Plattformen und Diskussionsforen tauschen sich Künstler und 8-Bit-Musikinteressierte aus, präsentieren ihre Musik und stellen, ganz in der Tradition des alten Hacker-Ethos „Daten barrierefrei zugänglich für alle!“ ihre Stücke zum kostenlosen Download zur Verfügung.

Zu den berühmtesten Plattformen der Szene zählt micro­music.net. Im Untertitel „low tech music for high tech people“ schwingt ganz offensichtlich eine gewisse Nerd-Attitüde mit. Auch die Graphik der Website entspricht diesem Bild, verweigert sie doch jegliche Form von Hochglanz, schneller Lesbarkeit und kommerzieller Struktur. In Stilkategorien wie spooky, fucky oder sporty werden auf micromusic.net unzählige Chiptune-Kompositionen online archiviert. Ein Beispiel für eine interaktive Chip­tune-Plattform ist die Seite pulseboy.com. Es handelt sich hierbei um eine onlinebasierte 8-Bit-Trackersoftware, mit der Musik im traditionellen Chiptune-Stil generiert, komponiert und gespeichert werden kann. Auf der Benutzeroberfläche der Website ist das überdimen­sionale Display eines Gameboys zu sehen, in den die Schaltfläche des Programms eingefügt ist.

„Als Streiter für die vergessene Technologie kapern wir die Zukunft!“

So beschreibt eines der berühmtesten Netlabels, 8bitpeoples, sein Profil. Auf der Website 8bitpeoples.com präsentiert das 1999 in New York gegründete Label ausschließlich Musik, die von der Ästhetik früher Computerspielsysteme geprägt ist. In der Profilbeschreibung heißt es, man glaube daran, dass Hardware eine Lebenszeit hat, die in Jahrzehnten statt in Monaten gemessen wird. Die 8bitpeoples, darunter der Gründer Jeremiah „Null­sleep“ Johnson, riefen 2006 das sogenannte Blip Festival ins Leben, ein Multimedia-Event, das in kurzer Zeit zu einer Art Woodstock der Chiptune-Szene avancierte. Es startete als Low-Budget-Produktion im New Yorker Underground. In einem Open Call riefen die Macher online dazu auf, sich für die Teilnahme am Festival zu bewerben, Honorare und Reisekosten würden nicht erstattet. Trotzdem kam ein internationales Lineup aus Künstlern der amerikanischen, europäischen und asiatischen Szene zusammen, die aus lauter Idealismus und Verbundenheit zur Community anreisten. Mit seiner elften Ausgabe fand das Festival über vier Kontinente zum letzten Mal 2012 in Tokio statt.

Mit dem Wiederaufleben des 8-Bit-Kults um die Jahrtausendwende gelangten die Chiptunes auch auf die Bühnen von Live-Events und Festivals. Chiptune-Künstler stehen in der Regel mit mindestens einem Gameboy-Instrument auf der Bühne. Kombinationen von Gameboy mit E-Gitarre, Saxophon oder Stimme sind ebenfalls gern gesehen. Gelegentlich erlebt man auch Musiker, die Keyboard spielen. Allerdings handelt es sich dabei nicht um Musikinstrumente mit Klaviatur, sondern um umhängbare Computertastaturen, mit denen Musiksoftware gesteuert wird. Der Dresscode der Szene variiert vom klassischen Nerd-Understatement mit Jeans, Turnschuhen und T-Shirt mit obligatorischem Com­puterspiellogo-Aufdruck bis hin zum Ganzkörper-Tierkostüm.

Chiptune-Live-Performances sind audiovisuelle Events. Genauso wie mit einem Nintendo Klänge produziert werden, können auch Bilder und Graphiken der 8-Bit-Ästhetik gestaltet werden, indem zum Beispiel durch Circuit Bending Veränderungen an der Festplatte solcher Spielkonsolen vorgenommen werden. Durch das Umstecken von Verknüpfungen und Anlöten von Kabeln, zusätzlichen Knöpfen und Schiebereglern wird das System kurzgeschlossen und der Nintendo zu einem Live-VJ-Tool umgebaut. Das graphische Ergebnis besteht neben 8-Bit-Projektionen auch in verschiedensten Formen sogenannter Glitch-Graphiken. Neben der Verbindung zur Glitch Art gibt es somit auch Parallelen zur Circuit-Bending-Szene, die sich hauptsächlich auf elektronische Spielzeuge und Spielzeuginstrumente konzentriert. Deren Schaltkreise werden so kurzgeschlossen, dass der ursprünglich vom Hersteller intendierte Sound zugunsten neuer, meist zersplitterter und verzerrter Klänge aufgebrochen wird. Mit der Chiptune-Szene hat diese gemeinsam, dass sie elektronische Geräte entgegen ihrer ursprünglichen Gebrauchsweise in einem kreativ-künstlerischen Kontext neu verwendet.

Neue Musik in 8-Bit-Auflösung

Auch musikalisch gibt es Verbindungen zu anderen Szenen. So entwickelten sich zum Beispiel Seiten-Genres wie Nintendocore, eine Mischung aus Metal und 8-Bit-Musik, Chipjazz und Chipstep, eine Kombination aus 8-Bit-Musik und Dubstep. Der experimentellen elektronischen Musik und der Neuen Musik ist die Chiptune-Szene dagegen weniger verbunden als umgekehrt. Komponisten, die in der Regel Ende der Siebziger-, Anfang der Acht­zigerjahre geboren und damit genauso alt sind wie die 8-Bit-Sounds selbst, bedienen sich dieser Klangsprache als exotisches Element oft im Kontext traditioneller klassischer Musikinstrumente. Spielkonsolen und Game­controller als Live-Instrumente kommen dabei nur vereinzelt zum Einsatz. Ein Beispiel für die kompositorische Verwendung von 8-Bit-Klängen jenseits der Chip­tune-Szene ist die audiovisuelle Live Performance „Displaced Meanings: 8 ½ Bits“ von Damian Marhulets aus dem Jahr 2009. Der 1980 geborene Komponist und Medienkünstler verbindet auf der auditiven Ebene Elemente der DJ-Kultur mit der Chiptune-Klangästhetik und inszeniert auf der visuellen Ebene eine Mischung aus 8-Bit-Optik und Glitch Art: „Die Atari-ROMs werden von einem Emulations-Programm gelesen, der Spiel-Ablauf und ex­treme glitch-artige Transformationen werden aber von gespielten Klängen in Echtzeit kontrolliert. Die Musik selber basiert auf verschiedenen Improvisationsstrukturen und spielt entweder mit den passenden Assoziationen oder nimmt plötzlich eine ganz andere Richtung und versucht auf diese Weise, ganz neue Verbindungen und Assoziationen mit Spielen herzustellen. Man kann es verstehen als ein ständiges Experiment mit Verschiebung des Inhaltes von einer Form in die andere, als live stattfindenden semantischen Remix des Ausgangsmaterials. Als ein Jonglieren mit Form und Inhalt“ (Damian Marhulets). Zum Instrumentarium der Live-Performance von „Displaced Meanings“ gehört ein Plattenspieler, der mit diversen Effektgeräten und einem speziell für dieses Stück programmierten Klangmodulations-Computerprogramm verbunden ist.

Ein weiteres Beispiel dafür, wie Chiptune-Musik und die dazugehörige Spielkultur außerhalb der Szene rezipiert und künstlerisch verarbeitet werden, ist eine Szene aus dem Musiktheater „Feeds. Hören TV“ des ebenfalls 1980 geborenen Komponisten, Konzept- und Medienkünstlers Johannes Kreidler. In seiner Anmoderation dieser Szene erklärt der Komponist: „Wir haben aus alten Computerspielen der Achtzigerjahre die Melodien gesammelt, die erklingen, wenn der Held stirbt. Ein R­e­quiem auf schmalem Frequenzband. Der Tod ist der Tod der Postmoderne. Du musst sterben, Tristan.“ Auf der Bühne sind zwei Darsteller zu sehen, von denen der eine als personifizierter Tristan den Computerspielhelden mimt, während der andere diesen bei jedem Erklingen des Todesthemas mit seinem Schwert aufs Neue abschlachtet. Isolde, verkleidet als asiatische Prostituierte, schaut zu. Damit bringt Kreidler eines der großen Themen der Operngeschichte, nämlich das Sterben, kombiniert mit einer der berühmtesten Liebesgeschichten, radikal aktualisiert auf die Opernbühne. Man könnte sich nun fragen, ob für die „Generation Nintendo“, also all diejenigen, die mit der Spielkonsole im Kinderzimmer aufgewachsen sind, das Computerspiel ein interaktives Musiktheater der Neuzeit, quasi eine Computeroper darstellt?! Ist Super Mario, der in seiner hoffnungslosen Liebe zur Prinzessin größtmögliche Gefahren auf sich nimmt, um diese aus dem Schloss zu befreien, etwa die 8-Bit-Version von Tristan?

Aus der auf technischen Begrenzungen basierenden Charakteristik der Soundchip-Ära der späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahre entwickelte sich das ästhetische Prinzip einer ganzen Musik- und Kunstszene. Deutlich erkennbare Einflüsse der Chiptunes auf die Neue Musik sind besonders im Schaffen jener Komponistengenerationen zu finden, die während der Pionierzeit der Computerspiele und Spielkonsolen geboren wurden. Bei aller oftmals angestrebten emotionalen Distanz zum musikalischen Material ist erkennbar, dass die um sich greifende Affirmation dieses retrospektiven 8-Bit-Kults auf gewisse Nostalgietendenzen zurückzuführen ist. Ein Phä­nomen jüngster Mediengeschichte, das in diesen Dimensionen wohl kaum vorhersehbar war.