MusikTexte 155 – November 2017, 3–4

Stiftung Warentest: Hörer auf dem Prüfstand

von Frank Hilberg

Viele Leserzuschriften haben uns im Laufe der Jahre mit der Bitte erreicht, doch einmal die Befindlichkeiten, denen gewöhnliche Hörer bei Festivals zeitgenössischer Musik ausgesetzt sind, genauer zu untersuchen. Da unser Institut sich nicht allein als Qualitätskontrolle für Technik- und Finanzprodukte versteht, sondern auch kulturelle und sogar künstlerische Produkte unter die Lupe nehmen will, haben wir uns dieser Problematik angenommen und eine maßgeschneiderte Testreihe ausgedacht.

Experimente an lebenden Menschen gelten als problematisch. Aus ethischen und auch aus psychologischen Gründen. Ethisch gilt allgemein als verwerflich, wenn fühlende, womöglich sogar denkende Wesen Reizen ausgesetzt werden, die zu Schmerz oder kognitiven Dissonanzen führen können. Wir haben daher versucht, unsere Testreihen so anzulegen, dass möglichst wenige Kollateralschäden entstehen und wir die Kennzeichnung „no animal has been harmed during the production“ erlangen würden. Das war leider nicht in jedem Fall möglich.

Aus psychologischen Gründen – Menschen sind skeptische, oft sogar misstrauische Wesen – war es notwendig, die Testreihen zu tarnen. Nach reiflicher Überlegung schien uns die Veranstaltung „Donaueschinger Musik­tage 2017“ als dazu besonders geeignet.

Ziel der Testreihen war es, die Fähigkeiten der Hörer auf den relevanteren Ebenen zu testen und zu bewerten.

Ausdauer/Leidensbereitschaft

Am Anfang stand der basale Test der Ausdauer und Leidensbereitschaft der Hörer (der sogenannte „Geduld/Sitz­fleisch-Test“) – Eingangsvoraussetzungen für jede Kontaktnahme mit zeitgenössischer Musik. Als Versuchsaufbau hatten wir uns entschlossen, die Zumutung bewusst hochzuschrauben: Das erste Konzert der Reihe begann mit einem halbstündigen A-cappella-Werk (eine Zumutung per se), dann kam eine knapp halbstündige Umbaupause (ohne dass der Saal verlassen werden durfte), gefolgt von einem fast einstündigem Ensemblestück, dessen Ende potentiell unabschätzbar war. Verschärfend trat die Maßnahme hinzu, dass der Versuchsleiter Björn Gottstein während der Veranstaltung alle Versuchspersonen aufforderte, sich nach dem Konzert unverzüglich mittels bereitstehender Busse direkt zum nächsten Versuchsaufbau zu begeben.

Insgesamt wurde – quasi pausenlos – über fünf Stunden getestet. Punktabzug gab es für Lamentos, Hungergefühle, Schwindelanfälle und übermäßigen Handygebrauch während der Konzerte. Dennoch war eine fast grenzenlose Leidensfähigkeit feststellbar: Kaum eine der Testpersonen verstarb oder zeigte auffällige Spuren von Verkümmerung oder Missbrauch; selbst Desertionen blieben im einstelligen Bereich. Da keine kognitiven Tests vorgenommen werden konnten, ist über den Geisteszustand der Probanden wenig zu sagen – nur der anschließende, übermäßige Alkoholkonsum verbunden mit extrovertiertem Labern lässt auf eine gewisse Deprivation des Testpersonals schließen. Die Gesamtwertung „sehr gut“ für die Leidensfähigkeit lässt jedenfalls darauf schließen, dass die Hörer quasi unbeschränkt für weitere Zumutungen offen sind.

Rezeptionswilligkeit

Getestet wurde über den gesamten Versuchszeitraum (drei Tage, vierzehn Konzerte). Beobachtet wurde das Verhalten der Hörer hinsichtlich ihres Willens, möglichst viel des Dargebotenen aufzufassen. Es ließ sich eine breite Palette an Verhaltensweisen feststellen: Sie reichte vom unbedingten Willen zur Gesamtauffassung – Hörer, die wieselartig auf Vollständigkeit sammelten, die kopfwackelnd durch die Reihen linsten, sich hin und her reckten, ja, aus der Reihe sprangen und nach vorne schossen, um noch letzte Details wahrzunehmen; die durch Handy­bilder oder -videos noch jede Bühnenbewegung zu dokumentieren trachteten (oft unter Verwendung von Blitzlicht) – bis zur vollständigen Apathie: verminderter Lidschlag, versteinerter Gesichtsausdruck.

Zum Punktabzug führte Handygebrauch, der sich nicht auf Facebook, Twitter et cetera bezog, sondern ausschließlich persönlichem oder exhibitionistischem Nutzen diente. Die Punktabzugsrate war erheblich.

Insgesamt ließ sich eine Dominanz der Introvertiertheit erkennen, wobei insbesondere mimetische Fähigkeiten von Eingeschlafenen herausstachen, die es in einer (nachmittäglichen) Testphase sogar schafften, ihrem Schnarchen kontextuell passend den Klang von schnarrenden Kontrabasssaiten zu verleihen (um nur ein Beispiel zu nennen).

Empathiebereitschaft

Zur Prüfung der Empathiebereitschaft war ein besonderer Versuchsaufbau vorgesehen: Die Hörer sollten in die existentielle Befindlichkeit von Flüchtlingen versetzt werden. Zunächst wurden sie, durch militant/polizeiliches Personal angewiesen, sich in eine Industriehalle zu bewegen und sich auf unwirtliche Sitze (unter Benutzung von Flüchtlingsdecken) niederzulassen, um an erniedrigenden Prozeduren teilzunehmen: Musiker (des Ensemble Kaleidoskop), die in Lastwagen transportiert wurden, die sich, durch die Widrigkeiten schlimmer Kleidung gehandicapt, ihrem Instrument widmen mussten, um schließlich in anderthalbstündiger Tortur die Zumutungen einer Deporta­tion zu exemplifizieren.

Zunächst hatte die Redaktion erwogen, eine Zwangsentkleidung des Publikums vornehmen zu lassen, dann Gemeinschaftsduschen, Entlausungsmaßnahmen, Entnahme der Edelmetallprothesen samt anschließender Zwangsbekleidung mit der Wäsche des jeweiligen Nachbarn – aber schließlich setzte sich die Ansicht durch, dass durch die partielle Exposition von unmotivierten Strei­cherklängen eine ähnliche Wirkung bei ungleich geringerem Aufwand erzielt werden könne. Die Empathiebereitschaft war jedenfalls überwältigend, letztendlich wurde stark applaudiert.

Ein weiterer Test zur Empathiebereitschaft wurde durch den Versuchsleiter Martin Schüttler vorgenommen. Er führte dem Publikum die Musiker des Ictus-Ensembles in Käfighaltung vor. Sie wurden kratzenden, schabenden, pfeifenden Geräuschen ausgesetzt und mussten darauf reagieren. Das Publikum zeigte starke Anteilnahme mit den flehenden Blicken der Musiker (in die unauffällig angebrachten Kameras), die wie paranoisierte Eichhörnchen um Erlösung oder Befreiung baten. Da auch dieser Test auf Dauer angelegt war, blieb es verständlich, dass die Rezipienten in ihrer Empathie abstumpften und schließlich froh waren, selber unbeschadet dem Versuchsaufbau entkommen zu können.

Kognitionsfähigkeit

Hinsichtlich der Kognitionsfähigkeit der Hörer wurden gleich mehrere Versuchsanordnungen vorgenommen, die hier nur selektiv aufgeführt werden können.

James Saunders prüfte die semantisch-auditiven Fähigkeiten des Publikums. Dargeboten wurden Wörter wie „Huhn“ woraufhin das „Kikeriki“ eines Hahns erklang. Als richtig wurde bewertet, wenn sich das Publikum darüber belustigte (gezählt wurden die Kicherlaute), was als indexikalischer Laut der Wiedererkennung gilt. Zum Punktabzug führte, wenn das Wort „Huhn“ gesagt wurde, aber ein „miau“ erklang und trotzdem gekichert wurde. Insgesamt scheint die Kognitionsfähigkeit des Publikums stark ausbaufähig, denn es wurde quasi permanent ge­kichert. Womit diese Klangfibel aus der Vorschulpädagogik gezeigt hätte, dass die Erkennung von Tierarten entweder stark unterbelichtet wäre, oder dass das Publikum durch Infantilitäten solcher Art besonders affiziert zu werden scheint. Hier ist sich die Redaktion uneins, hier müssen weitere Feldstudien Aufschluss bringen.

Ein anderer Test der Kognitionfähigkeit wurde anhand des Stücks „Têtes“ von Misato Mochizuki durchgeführt. Erkannt werden sollte, dass es sich eigentlich um ein Hörspiel handelte, das aber in Form eines Musikstücks dargeboten wurde (es handelte von japanischen Geistergeschichten, die sehr eindrucksvoll rezitiert und durch Requisiten wie abgeschnittene Köpfe illustriert wurden). Es galt also, sich auf die Geschichte zu konzentrieren und keinesfalls auf die Musik zu hören. Dieser Test wurde fast durchweg exzellent bewältigt, denn während sogar die apathischen Hörer die Handlung in groben, eigenen Worten wiederzugeben in der Lage waren, hatten die wenigsten den Eindruck, dass Musik im Spiel war. Und wenn, wurde sie fast durchweg als „soundtrack“ bezeichnet.

Allerdings versagten die Hörer fast durch die Bank bei dem Stück „Deathstar Orchestration“ von Marina Rosenfeld. Zu erkennen wäre gewesen, dass das Brummen (ansonsten unbenutzter) Verstärker das Thema des Stücks waren, während die beigegebene, vernuschelte Ensemblemusik (allerdings hat das Klavier phasenweise sehr laut genuschelt) nur Ablenkungsmanöver war. Obwohl die Verstärkertürme am Bühnenrand postiert und farbig angeleuchtet waren, haben nur wenige Hörer das Thema erkannt, während fast alle dachten, die genuschelten Klänge seien das musikalische Ereignis gewesen.

Ein besonders komplexer Kognitionstest war durch die sogenannten „Claqueure“ gegeben. Es handelte sich hierbei um als Publikum getarnte Akteure, die während fast aller Testphasen verschiedene, sinnfreie Aktionen vollzogen (Konfetti werfen, aufstehen und stehenbleiben, rudelweise den Saal verlassen, et cetera) Es galt zu erkennen, dass hier ein künstlerisches „Konzept“ (von Bill Dietz) vorlag und die Sache organisiert war. Die Erkenntnisleistung war geteilt. Während ein Teil der Hörerschaft sich informiert zeigte (neutrale Bewertung), sind nur einige wenige selbst der Sache auf die Spur gekommen. Zu Punktabzug führte: Mitmachen des Publikums, spontane Unterhaltung während des Stücks ( = Weitergabe von Erkenntnis) und herzhaftes Lachen ( = Verkennen des intendierten Ernstes). Es war deutlich, dass diese performative Beigabe die eigentlich klingende Musik vollständig überlagerte. Vulgär ausgedrückt (dies ein Zitat): „Gerne beäumelt sich das Publikum, hört aber nicht so gerne Musik“.

Stressbelastbarkeit

Die Stressbelastbarkeit der Hörerschaft wurde durch Alexander Schubert getestet. Vorsätzlich blendete er das Publikum durch Flashlights und vertäubte es durch geschickt gewählte Frequenzbänder und Geräuschkaskaden jenseits aller zulässigen DIN-Werte (die Ausnahmegenehmigung liegt der Redaktion vor). Nach einer fünfzigminütigen Dauerbeschallung/blendung war es Aufgabe des Publikums, unfallfrei durch einen dämmrigen Gang ins Freie zu gelangen. Das gelang nicht in allen Fällen vorbildlich. Zu Punktabzug führten die Verluste im Saal und die hohe Zahl an Kratz-, Biss- und Blutspuren an den Wänden. Hier muss deutlich nachgearbeitet und das Publikum vermehrt auch an hohe Expositionen von Licht und Schall gewöhnt werden. Ziel wäre ein Äquilibrium der Taubheit/Blindheit von Komponist und Hörerschaft.