MusikTexte 155 – November 2017, 96

Am Rande der Erschöpfung

Junge Musik bei den Ostrava Days in Tschechien

von Felix Knoblauch

Zum neunten Mal ereigneten sich im August die Ostrava Days im „Ruhrgebiet“ Ost-Tschechiens. Diese Biennale für „New and Experimental Music“ wird veranstaltet vom Ostrava Center for New Music, das eng mit den ortsansässigen Konzerthäusern und europäischen Kulturstiftungen zusammenarbeitet. Das einstige Ostrau ist die drittgrößte Stadt Tschechiens und in Westeuropa eher für Kohle- und Stahlindustrie bekannt als für ihr musikkulturelles Angebot. Auch heute noch ist der mährisch-schlesische Landkreis ein Zentrum der Schwerindustrie. Obwohl die letzten Stollen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts geschlossen wurden, sind unweit des Stadtzentrums noch immer rauchende Industrieanlagen angesiedelt, die in der historischen Altstadt zeitweise Smog-Warnungen auslösen. Etliche, wegen chemischer Reaktionen im Inneren schwelende Abraumhalden stehen als Rudimente vergangener Bergbauzeiten rund um die Stadt.

1992 wurde die letzte Steinkohlemine geschlossen und 1998 die letzte Fuhre Roheisen produziert. Seit 2007 arbeitete eine Vereinigung an der Umwandlung der das Stadtbild prägenden Industrieanlage Dolní Vítkovice zu einem Zentrum für Kunst und Kultur. Frühere Lagerhallen sind nun Orte für Konzerte, Ausstellungen und Theaterinszenierungen. Der beängstigend große Schmelzofen des Eisenwerks ist nicht nur Aussichtspunkt und Café, son­dern auch architektonisch so aufbereitet, dass er selbst als Kunstwerk durchgehen könnte. Neben Museen, einem Forschungszentrum und ver­schie­denen Clubs beherbergt das Gelände auch den „Gong“: einen zur Konzerthalle mit tausendfünfhundert Sitzplätzen umfunktionierten ehe­maligen Gasspeicher. Dvořák-Theater und Janá­ček-Konser­va­torium – Leoš Janá­ček wurde nur wenige Kilometer von Os­trava entfernt geboren – waren ebenso Spielplatz der Ostrava Days wie die Tripple Hall Karolina, eine Industriehalle aus vergangener Bergbauzeit.

Für die künstlerische Ausrichtung des Festivals ist der Dirigent, Flötist und Komponist Petr Kotík verantwortlich. Der 1942 in Prag geborene Musiker ist aufgrund seiner langjährigen Aufenthalte in den USA tief mit der amerikanischen New-Music-Szene verwurzelt und als künstlerischer Leiter des Festivals neben der Programmgestaltung auch für die Auswahl der eingeladenen Musiker verantwortlich. Es wundert also nicht, dass ein großer Teil der Musiker aus den USA angereist war, etwa die Bläser-Sänger-Formation Loadbang oder das New Yorker Violinduo String Noise. Auffällig war, dass es deutlich mehr Konzerte als eingeladene Ensembles gab. String Noise spielte gleich zwei Soloabende und war neben der zum Festivalende aufgeführten Kammeroper „Make No Noise“ (2011) des Prager Komponisten Miroslav Srnka auch noch solistisch an mehreren Orchesterabenden zu hören. Diese häufigen Aushilfen der Ensembles untereinander erscheinen auf den ersten Blick vielleicht merkwürdig, sind aber keinesfalls verwerflich, denn nicht nur dieses Avant-Punk-Duo sorgte mit Leidenschaft und Perfektion dafür, dass die Zuhörer jede Sekunde genießen konnten. Dennoch waren, besonders gegen Ende des Festivals, leichte Ermüdungserscheinungen spürbar, sicherlich bedingt durch das maßlos überfüllte Programm, was sich auch auf manches eigentlich leicht zu bewältigende Stück negativ auswirkte. Konzerttage mit bis zu drei Konzerten von zwei bis drei Stunden Dauer waren keine Seltenheit. An einem zerbrechlichen Stück wie dem minimalistischen „Two Pages“ (1968) von Philip Glass ließ sich der men­tale Zustand der Ausführenden schnell erkennen. Obwohl die Musik schräg intoniert und metrisch verschoben wurde, feierte das Publikum die Aufführung mit tosendem Applaus, so wie es auch jedes (!) andere der Konzerte begeistert aufnahm.

Bemerkenswert war das Programm auch im Hinblick auf die Entstehungszeiten der Werke: Von hundertacht Kompositionen wurden lediglich vierzehn vor dem Jahrtausendwechsel komponiert (lässt man einen klassischen Konzertabend mit Cages „Concerto for Piano and Orchestra“, Feldmans „Structures“, Ives’ „Central Park in the Dark“ und anderen „Klassikern“ außer Acht). Allein dieser Umstand ist schon ein Statement, das man bei so manchem Festival „neuer Musik“ in Deutschland vermisst.

Ein Highlight war das eigens für das Festival ins Leben gerufene Ostrava New Orchestra (ONO), in dem hundert­sechs Musiker aus über zwanzig Ländern mitwirkten. Nach virtuellen Bewerbungs- und Vorspielphasen waren die größtenteils noch studierenden Musiker nach Ostrava eingeladen worden, um einer dreiwöchigen Arbeits- und Probenphase vor Festivalbeginn beizuwohnen. Zusammen mit Composers in Residence wie Liisa Hirsch, Philip Foster und Ben Richter wurden die Werke erarbeitet und geprobt. Die Ergebnisse dieser intensiven Arbeitsphase waren die Mühe wert. Wenn ONO auch noch kein Orchester ist, das sich in jahrzehntelangem Zusammenspiel bewährt hat, ist die unverbrauchte Leidenschaft dieser jungen Interpreten für die Musik ihrer Zeit deutlich spürbar, was mit der gegenwartsbezogenen Programmgestaltung kor­respondiert und die verstaubten Ohren so mancher Neue-Musik-Liebhaber durchlüftete. Besonders Sciarrinos Komposition „Giorno velato presso il lago nero“ von 2013 sorgte in der durchdachten und frischen Interpretation dafür, dass das Antrittskonzert des Orchesters einen bleibenden Eindruck hinterließ.

Aus der Distanz betrachtet war es schade, dass die Stücke junger tschechischer Komponisten wie Jakub Rataj und Marek Keprt eine genuin eigene Klanglichkeit eher vermissen ließen. Wie sie adaptieren die meisten jungen Werke osteuropäischer Komponisten den Stil der großen westlichen Meister anstatt sich mit einer eigenen Klangsprache und Klangentwicklung zu positionieren.

Neben den Konzerten des ONO blieb mir der Klavierabend von Daan Vandewalle mit Rzewskis „The People United Will Never Be Defeated“ lange im Gedächtnis. Bereits das Thema des Varia­tionswerks spielte der Pianist mit einer Spannung, die gefühlt jeden Stahlträger an der Decke der restaurierten Fabrikhalle zum Zittern brachte. Eine so beeindruckende Interpretation dieses Meisterwerks für Klavier, die in dieser Form ebenso schweißtreibend wie schwindelerregend romantisch war, habe ich bislang noch nicht erlebt.

Alles in allem waren die Ostrava Days eine Festivalerfahrung, die ich mir auch anderswo häufiger wünschen würde. Es war durchweg beeindruckend, mit welcher Selbstverständlichkeit zeitgenössische Musik behandelt wurde, und mit welcher Risikobereitschaft die Initiatoren des Festivals gerade auch jungen Musikern Gehör zu verschaffen wussten. Mit dem Ostrava New Orchestra als Hauptklangkörper haben sie das weitere Schicksal der Ostrava Days maßgeblich in die Hände der nachrückenden jugendlichen Generation gelegt.