MusikTexte 155 – November 2017, 100

Forsch, virtuos und unbekümmert

Konzeptuelle Musik von Urs Peter Schneider

von Urban Mäder

Die im schweizerischen AART-Verlag erschienene Anthologie „Konzeptuelle Musik“ von Urs Peter Schneider ist schon von vielen Lesern erwartet worden. Ich freue mich auch über diese wunderbare Arbeit mit der geschickten Aufbereitung und Umrahmung mit starken, erläuternden und im weitesten Sinne ordnenden Kommentaren.

Diese Veröffentlichung passt bestens zum heftig geführten Diskurs zu eben diesen The­men „Konzept“, „Konzeptmusik“, „Kon­zeptuelle Musik“ oder gar „Neuer Konzeptualismus“ der letzten Jahre. Was da zusammengekommen ist, scheint mir über den üblichen Hang nach Schubladisierung im Gattungs- und Genrebegriffskanon hinauszugehen. Offenbar tut sich die Musikwelt mit dem Konzept-Phänomen schwer. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass Konzepte begrifflich schwer fassbar sind, oder an der inneren Sprengkraft der Konzepte, deren Handlungsanweisungen oft derart knapp und salopp formuliert sind, dass sie irritieren oder provozieren, sodass man sich einfach nicht raushalten kann.

Eine gewisse Ladung an Aufgebrachtheit lese ich in vielen Repliken und Kritiken, sei es in jenen, die den Begriff überflüssig finden, da jeder Kunst Konzepte zugrundeliegen, oder in jenen, welche die gesamte Konzeptbewegung für unseriös und arrogant halten, oder in jenen, die übertreiben in der kunsthistorischen Verortung des Begriffs, und jenen, die sich vom Diskurs distanzieren wollen und dann trotzdem was sagen und wieder mit ein paar leicht hingeworfenen Sätzen Konzeptcharakter schaffen. Mit diesen kontroversen Positionierungen erhält die seit den Sechzigern bestehende Bewegung verständlicherweise ein besonderes Fluidum.

Stücke wie Cages „4 : 33“ (12) oder La Monte Youngs „Composition #10“ („Ziehe eine gerade Linie und folge ihr“, 239) haben im Kontext des sich immer höher auftürmenden Marktguts Musik nun mal diesen provokanten Ansatz; geschweige denn Stücke wie Yoko Onos „Schneestück“ („Schickt jemandem, den ihr mögt, Schnee mit der Post“, 140) oder Pauline Oliveros’ „Sonic Meditation V, Native“ („Mach einen nächtlichen Spaziergang. Geh so behutsam, dass deine Sohlen zu Ohren werden“, 135), die in Richtung Performance Art gehen.

Urs Peter Schneider mischt sich mit seiner Anthologie „Konzeptuelle Musik“ auf eine für ihn typische Weise in den vielfältigen Diskurs über Konzeptmusik oder Konzeptkunst ein. Das Buch mit seinen vierhundert Ideen, Stücken und Konzepten, die in den letzten hundert Jahren entstanden sind, legt den Schwerpunkt auf Beispiele aus den Sechzigern und Siebzigern, einer Zeit, in der sich die Kritik an einer „vermeintlich hohen, sicher teuren Kultur mit ihrem genormten Gehabe“ durch die Konzepte nahezu implizit äußerte, wie Schneider im Vorwort schreibt. Es ist eine Auswahl seiner über 1500 Konzepte umfassenden Sammlung, aus der er mit seinem Ensemble Neue Horizonte Bern in den Sechzigerjahren viele aus der Taufe gehoben hat. Als Dozent an der Hochschule Bern hat er sie dann noch genauer untersucht und in den vorliegenden, für eine Forschungsarbeit unge­wöhnlich spannenden Lesestoff gesetzt.

Das Buch ist leserfreundlich, schnörkellos, ein Stil, der bestens zum Genre (wenn es denn eines ist) passt. Die einführenden Kommentare zeugen von Schneiders immenser Erfahrung. Ein Ordnungssystem aus Buchstaben, Zahlen und Begriffen ist das gelungene Resultat einer langjährigen Auseinandersetzung mit der Sache und mit dem Forschungsanspruch. Hier ein Beispiel für das Zuordnungssystem von Begriffen („Signaturen“) zum Stück „objets trouvés“ aus der Sammlung „vorschläge. konzepte zur ver(über)­flüs­sigung der funktion des komponisten“ (Wien: Universal Edition, Rote Reihe 70, 1993, 28) von Mathias Spahlinger:

„man nehme gewöhnliche, zufällig aus vergessenen winkeln aufgelesene, erlesene dinge“ (duchamp).

gefundene klänge oder dinge, die klingen können, seien sie dafür gemacht oder nicht.

jeder klang nur einmal.

Dazu wird in der untersten Zeile der tabellarischen Darstellung auf folgende Signaturen verwiesen: G3 G6 R5 S5 U3 Z4

Auf den vier Seiten des „Signaturenverzeichnis 1/Definitionen“, das im Inhaltsverzeichnis als Kapitel III des Buchs ausgewiesen, aber (etwas verwirrend) aus der Seitenzählung ausgeklammert ist, kann man unter den einzelnen Signaturen folgende „Begriffe“ nachschlagen:

G3 Gegenstände / Alltägliche Objekte / Vorgefertigte Dinge verwendend / Mit Objekten zusammen (s. a. Alltags­handlungen)

G6 Gruppe / Arbeitsgruppe / Aufeinander eingestimmte / Gruppendynamik / Prozesse durch menschliches Verhalten (s. a. Sozial)

R5 Rezept / Anleitung zu musikalischer, ­literarischer Komposition oder Interpretation (s. a. Spielregel)

S5 Sozial / Gemeinschaftlich, gruppen­intern / Kollektivkomposition ­(s. a. Gruppe, Politisch)

U3 Unikat / Nur ein einziges Mal Vorkommendes / Einzigartiges, auch Verblüffendes / Nichtrepetition

Z4 Zufall / Zufallsmanipulation als Strukturmittel / Unvorhersehbarkeit innerhalb definierter Grenzen / Nicht ästhetisch eingreifend / Sich ausliefernd / Nichtkontrolle (s. a. Chaos)

Dem Leser bleibt es überlassen, die Zuordnung dieser Definitionen zu beurteilen. Auf drei Seiten schließt sich das „Signaturverzeichnis 2“ an, bei welchem anstelle der Begriffe die verschiedenen Konzepte, denen die entsprechenden (einzelne oder mehrere) Signaturen respektive Definitionen zugeordnet wurden, mit ihren Seitenzahlen (bis zu dreißig Stücke) aufgelistet sind. Diese Begriffe sowie der Vergleich eines Konzepts mit einem oder mehreren anderen aufgrund zugeordneter ähnlicher Definitionen dienen als Denkhilfen oder Analysekriterien. Sie helfen, das Verständnis für ein Konzept zu vertiefen. Sie sind zugleich auch sehr nützlich für eine allfällige Realisation der Konzeptstücke. Das Ordnungssystem unterliegt in keiner Weise einem einengenden Zugriff. Man kann durch den ganzen Textkörper durchmäandrieren und kommt sozusagen in einen Zustand, der in einer unaufdringlichen Form Imagination ermöglicht.

Dasselbe gilt den Kommentaren zu einer Vielzahl der Konzepte. Viele Kommentare weisen Zitate der Komponisten auf, so bei unserem Beispiel ein Ausschnitt aus Spahlingers Einführungstext zu seinen „vorschläge[n] ...“. Hier kommentiert Urs Peter Schneider:

„Konzepte wie Spahlingers Vorschläge verstehen sich als angreifbar; ihre Reihenfolge, gar Kombination, ist freigestellt, und einige mögen Bestandteile fremder Musik sein (Duchamp) oder fremde Musik in sich aufnehmen. Weiterentwicklungen sind ihnen zu wünschen.“ (302)

Diese Kommentare spiegeln Urs Peter Schneiders Direktheit wider. Sie sind lose angefügt und suchen keine systematische Verknüpfung zur gesamten Anthologie. Da spricht Schneider aus seiner Position als Komponist und als Interpret. Ob das Buch nun zu stark persönlich geprägt ist, mag dahingestellt bleiben. Ich mag seine forsche, virtuose und unbekümmerte Art, über konzeptuelle Musik zu denken und zu schreiben. Die Zitatensammlung von Künstlern und Philosophen am Schluss vertreibt dann zusätzlich jegliche Denk-Enge. Sie rundet das Buch wunderbar ab und verhilft ihm zu einer inspirativen Position im Kontext des Diskurses um das Thema Konzeptualismus.

Urs Peter Schneider, Konzeptuelle Musik. Eine kommentierte Anthologie, herausgegeben von Thomas Gartmann und Marc Kilchenmann, Bern: Aart-Verlag, 2016.