MusikTexte 156 – Februar 2018, 93–94

Beckmesser’s Choice

Ausgewählte Compact und Video Discs neuer Musik

von Max Nyffeler

Der Musikant

Der einundvierzigjährige Gordon Kampe ist ein im besten Sinn musikantisches Talent. Spielerischer Umgang mit dem Klang, erzählerischer Gestus und das Bemühen, die disparaten Elemente formal unter einen Hut zu bringen sind die auffälligen Merkmale seiner Musik. Im Bestreben um Originalität und in der gekonnten Enttäuschung von Erwartungen schimmert das Vorbild von Hans Joachim Hespos, einem seiner Lehrer, durch. Die Aufmerksamkeit wird auf Trab gehalten durch eine überbordende Ideenfülle. Die Betriebsamkeit grenzt gelegentlich an Informations-Overkill, doch lässt das wenigstens nie Neue-Musik-Langeweile aufkommen. Auch mit dem Orchester weiß Kampe auf durchaus gattungsspezifische Weise umzugehen, das Spiel mit historischen Topoi ist allenthalben hörbar, und es gibt sogar nostalgische Rückblicke à la Charles Ives; bei allen Extravaganzen ist Bilderstürmerei also keineswegs sein Markenzeichen. Die versteckten Anleihen bei afrikanischer Musik sind dagegen überflüssiges Dritte-Welt-Shopping. Und ein editorischer Minuspunkt: Die Texte der wortgebundenen Stücke – sie sind wie immer bei neuer Musik großenteils unverständlich – sind leider nicht abgedruckt, und so bleibt das Verstehen an der Klangoberfläche hängen. Insgesamt rückt jedoch die von der Ernst von Siemens Musikstiftung im Rahmen ihrer Fördermaßnahmen herausgegebene CD Kampes breitgefächerte Fähigkeiten ins beste Licht. (CD col legno, 2017)

Klänge mit Sogwirkung

Experimentelle Vokalmusik gibt es seit den Fünfzigerjahren in unzähligen Schattierungen, doch so überzeugende Großformate, wie sie Joan La Barbara in den vorliegenden drei Stücken aus den Jahren 1976–1981 nur mit ihrer Stimme und wenigen technischen Hilfsmitteln geschaffen hat, sind eine Seltenheit. Dass sie auch im Wohnzimmer optimal zur Darstellung kommen, verdankt sich der hohen technischen Qualität des Remastering. Mode Records produziert solche klanglich herausfordernden Stücke heute als CD im unkomprimierten 48-kHz/24-Bit-Sound und parallel dazu auf Blu-ray audio mit ebenso hochwertiger Klangqualität und in Fünfkanaltechnik. Das Album trägt damit seinen Titel „The Early Immersive Music of Joan La Barbara“ zu Recht – der Hörer fühlt sich als Teil des raffiniert strukturierten Klangraums.

Die Überlagerung der individuell gestalteten Vokalaktionen auf acht Spuren in „as lighting comes, in flashes“ ist von beeindruckender Transparenz: ein räumlich tief gestaffelter, unerhört lebendiger, in steter Veränderung begriffener Klangstrom. In „Autumn Signals“ werden die Vokalaktionen vom Synthesizer in Low-tech-Manier verfremdet und sind räumlich inszeniert; als Inspirationsquelle nennt die Komponistin Merce Cunninghams Choreographien.

Die halbstündige Komposition „Cyclone“ erzeugt mithilfe der Elektronik die Suggestion eines gewaltigen Wirbelsturms. Das virtuelle Naturschauspiel lässt die „menschlichen“ Einsprengsel der Stimme und der Perkussionsinstrumente wahrhaft klein erscheinen, die Diskrepanz zwischen der individuellen Aktion und dem Zeit und Raum sprengenden Energiestrom der Windgeräusche verleiht dem Stück einen Zug ins Erhabene. Sage noch einer, Elektronik wecke keine Emotionen. (CD/Blu-ray audio, Mode, 2018)

Musizierlust und funkelnde Farben

„Kurzwelle“ heißt eine mit öffentlichen Geldern unterstützte Initiative, die junge, gerade der Hochschule entwachsene Komponistinnen und Komponisten mit neuen Werken beauftragt und die Resultate nun auf CD und im Netz veröffentlicht hat. Zu hören sind vier Stücke, gespielt vom Nachwuchsensemble hand werk. Sie alle verbindet hörbar die Lust am Musikmachen, am Erzählerischen und am farbintensiven Instrumentalklang. „Fragmente einer Erinnerung“ von Elnaz Seyedi beginnt mit einem raumöffnenden, in allen Farben funkelnden Tuttiklang, der sich nach und nach auffasert und in introvertierte Bereiche hinübergleitet. Eine warme Sonorität herrscht vor. Die in weiträumigen Bewegungen verlaufenden Transformationsprozesse werden getragen von einem sensiblen Klangverständnis, die Metallophone schaffen eine geheimnisvolle Atmosphäre. Demgegenüber konzen­triert sich Francisco C. Goldschmidt in „...murmuró con furia...“ für fünf Instrumente mit obertonreichen, scharf artikulierten Klängen auf einen relativ begrenzten Ausschnitt der instrumentalen Ausdrucksmöglichkeiten, setzt aber im linear konzipierten Stück mit plötzlichen Zurücknahmen in Dynamik und Dichte einige wirkungsvolle Kontraste. Virtuose Handtrommelsoli und melodische Gestalten mit chaotisch-schillernden Bläsermixturen prägen das Klangbild der Komposition „LAL (First Draft)“ von Matthias Krüger. Angeregt wurde sie durch Straßenmusikanten in Istanbul. Herausgekommen ist allerdings keine Folklore-Imitation, sondern eine artifiziell anmutende, zwischen Improvisation und festem kompositorischem Zugriff angesiedelte Musik. „SUR|ROGATE“ von Max-Lukas Hundelshausen verknüpft mehrere Ebenen mitein­ander. Was mit Vogelgezwitscher und geräuschreichen Repeti­tionsmustern wie eine surrealistische Montage beginnt, mündet alsbald in ein bilderreiches, haptisch-konkretes Klang­theater voller Witz und spielerischer Phantasie, das gelegentlich Züge von Slapstick annimmt. Hier wie bei den anderen Stücken trägt die Aufnahmeakustik mit ihrem räumlich gestaffelten, transparenten Klangbild erheblich zur Plastizität der musikalischen Strukturen bei. (CD, ON – Neue Musik Köln, 2017)

Japanische Rituale

Wer sich die Filmaufzeichnung der 2016 in Hamburg uraufgeführten Oper „Stilles Meer“ von Toshio Hosokawa zu Gemüte führen will, braucht Zeit und Geduld. Zunächst passiert fast nichts: minutenlanges Meeresrauschen, dazu der Blick auf das einfache, dem japanischen Theater nachempfundene Bühnenbild von Itaru Sugiyama mit dem ins Off führenden Steg, der eine Verbindung vom Diesseits ins Jenseits darstellt. Einige stumme Fischersleute und eine kleine Robotergestalt bevölkern die Bühne. Die vibrierende Weite von Raum und Zeit in dem Stück wird durch Hosokawas gedehnte, fein ausdifferenzierte Klangprozesse mit Leben erfüllt. Hintergrund des nach innen gerichteten Geschehens ist die Doppelkatastrophe von Fukushima – der gewaltige Tsunami, der zahllose Menschen in die Fluten riss, und der anschließende Atom-GAU. Das Meer, für Japaner ein lebensspendendes Symbol zeitlosen Seins, ist unvermittelt zum Feind geworden. Vor diesem Hintergrund entwickelt sich die Geschichte von der Mutter, die nicht wahrhaben will, dass ihr Kind nicht mehr zurückkommt. Die äußere Handlungsarmut wird von den Sängern gelegentlich durch „westliche“ Ausdrucksintensität kompensiert, was dem Stück nicht unbedingt guttut. Doch dann entwickelt sich plötzlich ein dramatischer Sog. Durch die Beschwörung eines alten japanischen Rituals wird die Mutter aus ihrem Wahn erlöst und ist nun fähig zur Trauer. Statik, Geister, Brücke zum Jenseits: Das alles ist ziemlich weit entfernt von unserer Auffassung von Theater, aber ausgesprochen refle­xionsfördernd. Einmal mehr öffnet der Blick nach Fernost den Horizont. (DVD, Euro­Arts, 2016)

Opulenter Minimalist

1964 erregte Terry Riley Aufsehen mit seinem minimalistischen Solitär „In C“. Fünfzig Jahre später dann das Kontrastprogramm: In den beiden über halbstündigen Stücken „The Palmian Chord Ryddle“ und „At the Royal Majestic“ tobt er sich im Sinfonieorchester richtiggehend aus. Es geht quer durch die Kulturen, von der spanischen Fiesta über den Big-Band-Sound bis zum virtuosen Orgelkonzert, und immer wird tüchtig auf die Tube gedrückt. Ein bewundernswert üppiges Klangmenü wird einem da serviert, doch irgendwann weckt es auch Völlegefühle. So geht es, wenn der Asket zum Schlemmer wird. (CD, Naxos, 2017)

Locker und witzig

Helmut Lachenmann hat für seine „Musique concrète instrumentale“ praktikable Notationsformen und Spielanweisungen erfunden, aber nun hat er entdeckt, dass die Demonstration der Klangerzeugungsmodalitäten in Wort und Bild per Video viel effizienter ist. Mit Unterstützung der einschlägigen kapitalstarken Institutionen wird nun in den nächsten Jahren auf sieben DVDs ein Tutorium für Lachenmanns Orchesterwerke produziert. Das Unternehmen richtet den Blick bereits auf die Nachwelt, und durch englische Untertitel wird ein internationaler Wirkungsradius gewährleistet. Auf der ersten DVD instruiert Lachenmann die Musiker der Philharmonie Zuidnederland unter der Leitung von Bas Wiegers, wie die Komposition „Accanto“ für Klarinette und Orchester gespielt werden soll. Seine sehr ausführlichen Erläuterungen sind locker und witzig formuliert: „This piece is so-called contemporary music, but it’s like Haydn. Like a little dancing“, sagt er zu den Violinspielern, und die Bläser klärt er auf: „It’s always hard edge rhythm. Swinging.“ Die Musiker lachen, das einst gefürchtete Werk schrumpft zu einem schrägen Stück Schulmusik. Die DVD enthält Instruktionen für alle Orchestergruppen und auch für die Bedienung des Tonbands, aber merkwürdigerweise nichts zum Soloinstrument. Dafür äußert sich der Komponist in einem längeren Monolog über Entstehungsgeschichte und Hintergründe des Werks, das in einem Live-Mitschnitt mit der Solistin Nina Janßen-Deinzer schließlich auch als Ganzes zu hören ist. (DVD, Breitkopf & Härtel, 2017)

Mustergültig

Die Edition mit dem gesamten Chorschaffen und anderen Vokalkompositionen von György Kurtág dokumentiert eine Werkphase von einem halben Jahrhundert und führt den Hörer ins Zen­trum von Kurtágs Schaffen. Das jüngste Stück ist „Colindă-Baladă“ von 2010, eine archaisch strenge Musik für Tenor, gemischten Chor und Ensemble mit Wurzeln in der rumänischen Volkskultur des Banat, Kurtágs Heimat. Neben „What Is The Word“ nach Beckett ist es die einzige Komposition, die einen längeren Text ­linear vertont. Alle anderen besitzen die für Kurtág charakteristische Form von zyklisch geordneten Miniaturen – geschliffene Kleinode, die mit ihren formalen Asymmetrien und emotionalen Ausbrüchen auf kleinstem Raum das Hören unablässig wachhalten. Der sprachliche Ausdruck hat die Musik bis ins Mark infil­triert, was man sogar aus den vier beigefügten Instrumentalkompositionen herauszuhören meint. Kurtág selbst, der die über mehrere Jahre sich erstreckende Produktion mit den vier Solisten, dem Niederländischen Rundfunkchor und dem Asko/Schönberg Ensemble unter der Leitung von Reinbert de Leeuw eng begleitete, bezeichnet die Aufnahmen als authentisch. (3 CDs, ECM, 2017)

Geschichtsbewusster Avantgardist

Bruno Maderna, 1956–1967 Dozent und Dirigent in Darmstadt, war im Gegensatz zu seinen Kollegen unbegabt zur Selbst­inszenierung, doch sein Einfluss als Pädagoge hinter den Kulissen war groß. Nonos Raumklangkonzepte wären nicht denkbar ohne die Kenntnisse der Renaissancemusik, die ihm Maderna schon um 1950 vermittelt hatte. Dieses Geschichtsbewusstsein zeigt sich auch in Madernas Transkriptionen von Werken Giovanni Gabrielis, Frescobaldis und anderen, eingespielt vom Orchestra della Svizzera Italiana unter Dennis Russell Davies. Die meisten stammen aus den Fünfzigerjahren und verraten mit ihrem Sinn für strukturelle Klarheit, Transparenz und delikate Klangfarben dieselben Tugenden, die damals auch bei den Serialisten hoch im Kurs standen. Nur mit dem Unterschied, dass der Venezianer Maderna hier auf unverschämte Weise einer mediterranen Schönheit huldigt, was für Darmstädter Ohren damals bestimmt ein Sakrileg war. Ergänzt wird die Werkauswahl durch Berios „Chemins V“ für Gitarre (Pablo Márquez) und Kammerorchester. (CD, ECM, 2017)