MusikTexte 157 – Mai 2018, 84–85

Und keiner zieht den Stecker

Krisensymptome beim Stuttgarter Festival Eclat

von Rainer Nonnenmann

Auf leerer Bühne steht ein ausgeräumter Kühlschrank mit großer Glastür. Die letzten Flaschen sind getrunken oder ausgeräumt, alle Regale entfernt. In der verbliebenen Enge und Kälte versucht sich eine Performerin so gut es geht einzurichten. Das erfordert akrobatische Verrenkungen, einschließlich Kopfstand, und wird zusätzlich erschwert durch herumfahrende Dinge wie Schutzhelm, Kleberolle, Decke, Mantel. Doch selbst inmitten solcher Klaustrophobie vermag sie sich mit Wasserkocher und Buchlektüre eine Komfortzone zu schaffen. Noch unter widrigsten Umständen macht Homo sapiens es sich bequem. Die Hitze indes nimmt zu, der Kocher sprudelt, die Frontscheibe beschlägt, der Kühlschrank – Garant für Rundum-Versorgung, Coolness, Party – wird zum Treibhaus, und keiner zieht den Stecker. Japsend, zuckend, um sich schlagend kollabiert die Frau. Aber alles geschieht ja glücklicherweise nur zum Schein. Und so entsteigt Ixchel Mendoza Hernandez schließlich unbeschadet dem Käfig, um zwei Bierflaschen zu öffnen und mit Komponist Dmitri Kourliandski auf die gelungene Vorstellung anzustoßen: Prosit!

Die Paral­lelen zur Situation auf Planet Erde indes bleiben erdrückend: Platznot, Überfüllung, Verbauung, Lärm, Dreck, doch nirgends ein Ausgang. Die Erdplatte wird heißer, der Konsensliberalismus von Radikalismen zersetzt und das Leben von Effizienzdenken, Utilitarismus und Kapitalismus durchökonomisiert. Das Habitat steht unter Stress, im globalen Maßstab ebenso wie in Kunst und Musik. Innovationsdruck, zerbröselnde Qualitätskriterien, verschwimmende Genregrenzen, und als Reaktion auf gesellschaftliche und ästhetische Probleme weithin bloß Wortschwall, Aktionismus, Dilettantismus.

Die von Aliénor Dauchez konzipierte Performance „Sous Vide“ mit Kourliand­skis elektronisch verstärkten und transformierten Kühlschrank-Klängen gehörte wegen ihrer ebenso klaren wie allegorischen Versuchsanordnung zu den eindrücklichsten szenischen Arbeiten beim diesjährigen Festival Eclat im Stuttgarter Theaterhaus. Andere Projekte zeugten von Ideen- und Hilflosigkeit. Die großspurig als „Musiktheater“ angekündigte Kollektiv­arbeit „An­thro­po­scene“ zeigte als ver­frem­detes Video die Präsidentin der pazi­fischen Marshall-Inseln, wie sie im EU-Parlament 2017 eine Rede zur Auf­kün­di­gung des Pariser Klimaabkommens durch US-Präsident Donald Trump hält. Parallel dazu wurde live ein Konferenztisch des Bühnen­bild­ners Fabian Offert errichtet und nach wei­­teren zugespielten sowie live verlesenen und simultan übersetzten Statements eben­so mühevoll wieder zer­legt, zerris­sen, zerbrochen und in einem Häcksler – was nicht recht funktionieren wollte – zumindest ansatzweise geschred­dert. Zum lautstarken „Real-time Klang­sys­tem“ von Laurent Durupt durften sich dann auf den Trümmern drei mit Rugby-Helmen bewehrte Figuren in der Choreo­graphie von Jan Rohwedder tummeln. Ja, die Einhaltung der lebensrettenden Kli­maziele ist bedroht, doch die Botschaft wird im langen zähen Verlauf verläppert, nichtssagend, spannungs- und belanglos: Auch Raphael Sbrzesnys „Principal Boy“ bot eine kongeniale Verbindung von Prä­tention und Unvermögen. Der 1985 ge­borene Schlagzeuger hatte sich der schein­bar größeren Medienvielfalt wegen für ein Kunst- und gegen ein Kom­posi­tionsstudium entschieden. Indes hätten seiner „musiktheatralen Installa­tion“ ein paar Strategien im Umgang mit Zeit, Raum und Material durchaus gut ge­tan. Sein Thema sind junge, verun­sicherte, des­orientierte „männliche Subjekttypen“, „Selbst­mord­attentäter“ und „nervöse, ent­zündete Körper“. Was theoretisch aktuell, existentiell, sozialpolitisch und brisant klingt, fand in Elektronik, Videos und Per­­sonenführung jedoch insgesamt keine an­gemessene praktische Umsetzung als erlebbare Ursachenforschung. Die perfor­ma­tiven und partizipativen Möglich­kei­ten der Sporthalle des Theaterhauses blieben un­genutzt. Stattdessen bekränzten flüch­tig an­gelesene Philosopheme ein banales Lai­en­theater aus Möchtegern-virilem Ge­tue, hohlen Posen und schlaffen Schreien, übertüncht mit reichlich Deospray und Duschgel. Präpotenz + Inkompetenz x siebzig Minuten = Inkontinenz in Per­ma­nenz.

Das seit 2013 von Christine Fischer geleitete und dieses Jahr von vier auf fünf Tage erweiterte Eclat-Festival bot vierzehn Konzerte mit insgesamt vierundzwanzig Ur- und acht deutschen Erstaufführungen, darunter von fünfzehn Komponistinnen und vielen jungen Künstlern. Es ist gut und richtig, Nachwuchs sowie eine große Bandbreite verschiedenster Ansätze zu präsentieren und mit Mut zum Risiko des Scheiterns auch Unerprobtes zu ermöglichen. Warum aber mussten gleich zwei komplette szenische Projekte in Totalausfällen enden? Gilt die Einbeziehung von Szene und Video bereits als Gütesiegel? Ist erklärtes Desinteresse an Musik eine Empfehlung?

Joanna Bailies „Radio-Kaleidoscope“ besteht aus unterbeschäftigtem Streichquartett garniert mit flüchtigen Radiozuspielungen und obligat flimmernden Videomustern. Das Ergebnis sind kärglich beschallte Tapetenmuster. Entbehrliche Videos zierten auch das Kontrabassklarinettenkonzert „Jeder“ von Iris ter Schiphorst und Uroš Rojko. Solist Theo Nabicht erschien live auf der Bühne sowie gleich doppelt in Großaufnahmen beim Klarinettespielen und bräsigen Räsonieren über die Aufgaben von Musik. Elena Rykova inszenierte in „Thousand splinters of a human eye“ die Musiker von Cale­fax Reed Quintet und Neuen Vocalsolisten vor weißem Hintergrund als schön anzusehenden Schattenriss, improvisierenden Spielkreis, Gruppenmassage und kollektiven Blow Job der die Schalltrichter der Blasinstrumente beatmenden Vokalisten. Ob und wie das klingt? Nebensache! Unterhaltungswert mit ironischem Hintersinn entfaltete immerhin Johannes Kreidlers One-Man-Late-Night-Show „Infinissage“ mit älteren und neueren Arbeiten in Bild, Ton und Wort. Und bei „Daily Transformations“ für Ensemble asamisimasa und Neue Vocalsolisten verbanden sich Text (Lisa Spalt), Video (Anne Henckel-Donnersmarck) und Musik (Clemens Gadenstätter) zu einer phantasmagorischen Odyssee durch Ungewissheiten zwischen Wachen, Träumen, Waldwegen, Parkbänken, psychia­trischer Klinik und Lunapark sowie dissoziierte neue Musik und alludierte tonale Musiksprache.

Szenische Qualität entfaltete auch die „performative Installation“ von Marianthi Papalexandri-Alexandri. Die 1974 in Thessaloniki geborene Komponistin und Klangkünstlerin verknüpfte den Steg des Violoncellos von Séverine Ballon über Schnüre mit Pappflächen, die an Stahlgerüsten im Raum verteilt waren. Bogenstriche auf den gespannten Fäden übertragen sich dann nach dem Prinzip des Schnurtelephons als Rauschen auf die Resonanzplatten. Die flexible Spatialisierung von sichtbarer Aktion und hörbarer Wirkung wurde Schritt für Schritt auskomponiert, einstimmig, zweistimmig und schließlich auch als Ordinario-Spiel der Cellosaiten. Latent theatralisch wirkte Zeynep Gedizlioğlus „Sights of Now“ für Quatuor Diotima und Klavierduo Yukiko Sugawara und Tomoko Hemmi. Beide Ensembles sind autonom, brauchen und suchen sich nicht, sollen aber dennoch miteinander musizieren. Zart schwebende Akkorde der Streicher werden hart von Tremoli der Pianistinnen unterbrochen, die dann wiederum von knallenden Bartók-Pizzikati abgeschnitten werden. Eine Formation stört die andere und schafft gleichwohl Schnittstellen in klir­renden Höchstlagen. Einer klaren Set­zung folgte auch Sara Glojnaric´s „sugar­coating #2“ für das Trio Catch. Betont körperlich-gestische Zugriffe, Triller, Tre­moli, Glissandi und Repetitionen führten auf den Instrumenten zu verschiedenen Resultaten und wurden zudem durch stummes Hantieren verdeutlicht. Eben­falls konzise Material- und Formentwick­lung zeigte Johannes Boris Borowskis Trio „As if“. Ein initialer Liegeton entfaltet sich über mikro­tonale Schwankungen und größer werdende Tonbewegungen bis zum finalen Riesenglissando der Klari­net­te vom Anfang der „Rhapsody in Blue“. Das SWR Symphonieorchester spielte unter Leitung von Manuel Nawri die Uraufführung von Mike Svobodas eklektizistisch-virtuosem Altsaxophonkonzert für dessen Basler Akademie-Kollegen Marcus Weiss sowie als deutsche Erstaufführung „Lágrimas“, das zuletzt vollendete, ebenso dunkel wie eigenwillig instrumentierte Lamento eines größeren Tränen-Zyklus des 2016 verstorbenen argentinischen Komponisten Mariano Etkin.

Hinsichtlich Interpretenleistung und Programm durchweg gelungen war das Konzert des Ensemble ascolta. Sven-Ingo Koch komponierte in „Von der Liebe zur Linie III“ subtile Verschlingungen von Trompete, Posaune, Akkordeon, E-Gitarre und Pauke. Stefan Keller kreierte mit „hybrid gaits“ eine grelle Avantgarde-Jazz-Rock-Mixtur, ähnlich den Fusion-Experimenten von Miles Davis oder Frank Zappa in den Achtzigerjahren: schnell, laut, fetzig, energetisch befeuert durch Drummer Daniel Eichholz. Das Dirigat von Peter Rundel war angesichts der rhythmisch-metrischen Komplexität zwar geboten, nahm der ungestümen Musizier­haltung aber die intendierte improvisatorische Anmutung. Ungemein dicht und tumultös wirkte auch Georgia Koumarás „Dangerous Conjectures“. Der ebenso sog­artige wie streng strukturierte Mahlstrom machte das Paradox einer total durchorganisierten urbanen Masse erfahrbar: im Detail perfekt getaktet, in der Summe chaotisch. Einmal mehr der ironisch-leichten Muße frönte Gordon Kampe in „Schummellümmelleichen und schrille Tentakel“ auf Texte des Sängers Schorsch Kamerun der Hamburger Punkband „Die goldenen Zitronen“. Der bunte Strauß aus Operette, Song, Schlager, Kinderlied und Balkan-Banda verlangt nach einem durch wechselnde Timbres und Charaktere geschmeidig sich windenden Sänger, der Daniel Gloger dieses Mal leider nicht war. Der Kompositionspreis der Stadt Stuttgart ging an Juliana Hodkinson und Malte Giesen. Erstere ließ in „Lightness“ drei Akteure mit Schwefelhölzchen spielen, rascheln, reiben, ritschen, zischen und in ihrem E-Gitarren-Konzert „can modify completely“ – dem Preisträgerwerk – den Solisten recht handzahm mit dem an Potentialitäten so reichen Instrument agieren. Giesen komponierte sein „88 $ or the poetry of capitalism“ für Ensemble und drei mit Plastikbechern und Klammern verfremdete Solisten (Singstimme, Klavier, Bratsche). Geräuschhafte Ostinato-Elemente verklumpen zu einem postindustriellen Schrotthaufen, aus dessen Düsternis sich Johanna Zimmers warmer heller Sopran als vermeintlich heilsbringende Vox humana abhebt. Doch in Wirklichkeit singt auch sie nur hohle Repetitionstöne und den desillusionierten Text einer Spam-Mail: Dystopie statt Utopie.