MusikTexte 157 – Mai 2018, 93

Beckmesser’s Choice

Ausgewählte Compact Discs neuer Musik

von Max Nyffeler

Aufmerksamkeitsdramaturgie

Wie Ondřej Adámek in „Sinuous Voices“ aus Pizzikato-Akzenten unruhig schwankende Glissandoscharen hervorquellen lässt und daraus eine Dramaturgie vonVerdichtung und Ermattung entwickelt, verrät zweifellos Klangphantasie. Doch nach zwei Dritteln des viertelstündigen Stücks ist die Idee ausgereizt. Das hat auch der Komponist gemerkt und fährt nun mit einem etwas anderen Muster fort. Immerhin ist es sehr wirkungsvoll, wie er hier aus dem Vollen schöpft. Das Schürfen nach Aufmerksamkeit, dem knapper werdenden Rohstoff auf den übernutzten Territorien heutiger Festivals, ist ein Para­meter seines Komponierens. Ihn deswegen gleich neben Bach und Boulez zu stellen, wie das Daniel Kawka, der Dirigent des Ensemble Orchestral Contemporain in seinem Bookletbeitrag macht, ist dann doch PR-mäßig ein Rohrkrepierer. Plausibler erscheint der Vergleich mit Kagel, angesichts der Vorliebe des Komponisten für schräge Klänge wie aus dem Um­feld von „Exotica“. Angeheizt wird die Betriebstemperatur dieser Klangmanufaktur durch eine sparsam und gekonnt eingesetzte Elektronik. (CD æon, 2017)

Immanente Theatralik

Theatralik wohnt auch der Musik von Adriana Hölszky inne. Ihre dauererregten, chaotisch zerfaserten Texturen schaffen sich eine ebenso eigene Szenerie. Sie wirken aber weniger improvisatorisch, sondern sind das Produkt einer detailbesessenen Arbeit. In Verbindung mit einer Bühneninszenierung können deshalb noch ganz andere Tiefenschichten freigelegt werden, wie in ihrer Kammermusik „Roses of Shadow“ , die vor kurzem von Martin Schläpfer für das Ballett am Rhein Düsseldorf/Duisburg choreographiert wurde. Doch auch in der reinen Hörform kommt die immanente Theatralik dieser Musik plastisch zur Geltung, wie sich in der Aufnahme mit einem In­strumen­tal­ensemble unter der Leitung von Wen-Pin Chien zeigt. Das Stück, das einen Text nordamerikanischer Indianer mit einem Shakespeare-Sonett verknüpft, strotzt vor Einfällen, die musikalische Rede reicht von der Empörung bis zur Groteske und kippt – gewollt oder ungewollt? – gelegentlich auch in Komik um. Die Sopranistin Angelika Lutz kitzelt das alles mühelos aus der Partitur heraus. Das zweite Werk auf der technisch vorzüglich produzierten Platte ist „Message“ nach Eugène Ionesco für drei Vokalisten mit Zusatzinstrumenten und Live-Elektronik. Die 1999 in Weingarten entstandene Aufnahme erinnert an die besten Zeiten des Trio Ex-voco, das es heute nicht mehr gibt; Ewald Liska, neben Hanna Aurbacher und Theophil Maier Dritter im Bund und Spiritus rector des Ensembles, ist im letztem November achtzigjährig verstorben. (SACD Neuklang/Bauer Studios, 2017)

Geheimnisvolle Klangzeichen

Für alle, die auf der Suche nach Komponisten mit dem berühmten „eigenen Ton“ sind und dabei doch immer nur auf geschäftstüchtige Narzissten stoßen, ist hier ein heißer Tipp: Die CD „Libres en el sonido“ mit Werken von Graciela Paraskevaídis. Auf die Musik der im vergangenen Jahr verstorbenen uruguayischen Komponistin trifft das Wort „eigenständig“ vollumfänglich zu, was natürlich vor allem mit ihrer Existenz als europäische Emigrantin in Südamerika zu tun hat. Dass sie obendrein noch den beliebten Sonderstatus einer „komponierenden Frau“ besitzt, ist dabei wohl eher nebensächlich. Das Musikverständnis eines Varèse, der den Klang als akustisches Rohmaterial behandelte, hat ihr Komponieren ebenso beeinflusst wie die konstruktive Härte eines Xenakis. Was aber vor allem auffällt, ist der raffinierte und zugleich sprachmächtige Neoprimitivismus ihrer rituell wirkenden Musik. Die in die Stille hineingehauenen, dissonant geschärften Klän­­ge, die grell gefärbten Ostinatoakkorde, die Statik der gedehnten Zeitstrecken, die Magie der geheimnisvollen Klangzeichen: In all dem klingt etwas von den indi­genen Traditionen Lateinamerikas nach, mit denen sich die politisch hellhörige Komponistin eingehend beschäftigt hatte. Das Freiburger Ensemble Aventure trifft den Charakter der Stücke perfekt. Wie es der Pierrot-lunaire-Besetzung in „Libres en el sonido presos en el sonido“ („Frei im Klang gefangen im Klang“) Klänge von elektronischer Qualität abgewinnt und damit die obertonreichen Intervalle zum Hörerlebnis macht, ist große Klasse. Jedes Stück bekommt seine unverwechselbaren Konturen. Ein Jammer, dass die Komponistin bei den großen europäischen Festivals all­zu oft hinter den in der Kategorie Selbstdarstellung begabteren europäischen Kollegen zurückstehen musste. Die vorliegenden Aufnahmen zeigen, was uns damit entgangen ist. (CD Wergo, 2018)

Magie des Klangs

Hugues Dufourt, Komponist, Wissenschaftsphilosoph und Mastermind der ehemaligen Gruppe der Spektralisten, liebt die großen, mit strategischer Intelligenz entworfenen Formen. Das für die Percussions de Strasbourg geschriebene Schlagzeugstück „Burning Bright“ dauert eine Stunde. Dufourts Assoziationen an ein Brucknersches Adagio leuchten beim Hören ein. Angeregt durch William Blakes Beschwörung animalischer Naturkräfte im Gedicht „The Tyger“ entwirft er eine Klanglandschaft von sinfonischen Dimensionen, die zwischen geheimnisvoll-mystischen und dramatischen Momenten wechselt und den Naturbegriff ins Mythologische ausweitet. Seinem Ruf als akribischer Erforscher der Obertonwelt bleibt Du­fourt nichts schuldig. Die changierenden, dunkel leuchtenden Farbgeräusche erzeugt er durch Wirbeln, Streichen und Wischen, kaum je durch Schlagen. So entstehen Hallräume von magischer Kraft, die Konturen zerfließen in zeitlupenhafter Bewegung, die Klangmaterie unterliegt einer permanenten Metamorphose. Kaum jemand bringt das Schlagzeug auf so raffinierte Weise zum Atmen, Sprechen und Singen. Und auch den Tiger hört man manchmal vernehmlich knurren. Chapeau, Monsieur Dufourt! (CD PDS/Les Percussions de Strasbourg, 2017)