MusikTexte 157 – Mai 2018, 44

Durchbrochene Sicht ...

Zu einem Aspekt von Klaus K. Hüblers Schaffen

von Volker Blumenthaler

Durch das Werk Klaus K. Hüblers zieht sich wie ein roter Faden eine sehr spezifische Art, sich mit Tradition ausein­anderzusetzen.

Aus den frühen Kompositionen sticht besonders die von Johann Sebastian Bachs Chaconne angeregte monumentale Sonate für Violine (1978) heraus. Charakteristisch für den Stil dieses Werks sind irisierende Repetitionen, aus denen Bewegungen absplittern. Signifikant sind Dehnung beziehungsweise Stauchung komplexer Wiederholungsmuster und irrationale, den Fluss der Zeit aufspaltende Rhythmen oder das Insistieren auf einem pulsierenden Einzelton – in der Sonate auf das Zentrum D der Bachschen Chaconne verweisend. Die Gestik punktuell konzentriert bis hin zu großen melodischen Repliken sich weitend. Was hier ins Monumentale ausgreift, verdichtet sich später zu einem sehr persönlichen Weg der Klangdekonstruktion.

In den Achtzigern kristallisiert sich dieser Weg zu einer spezifischeren Schreibweise aus. Hübler versucht, wie er sagt, „aus dem Instrument selbst heraus zu denken“ (MusikTexte 20/1987, 5). Für die Umsetzung seiner Ideen entwickelt er eine Art Tabulatur-Notation: Parameter wie Griff, Saitenwechsel, Strichwechsel, Bogenartikulation und Strichstelle werden gleichsam asynchron auskomponiert. In der „Arie dissolute“ für Viola und Kammer­ensemble (1986/1987) verbindet sich dieser neue Ansatz auf sehr persönliche Weise mit Hüblers Vorstellungen im Umgang mit Tradition. Die „aufgelöste Arie“, der Gesang als sinnliches Symbol für die Welt, teilt sich mit als Zerfallenes, als Fragment einer fragwürdig gewordenen Ganzheit. Zwischen den Sprachtrümmern liegt Wahrheit verborgen. Erkennen heißt hier Entdecken, Bewegen auf unsicherem Terrain, Sich-Aussetzen der Gefährdung, der Verletzbarkeit und dem Irrtum. Bezeichnenderweise tragen zwei Formabschnitte Untertitel, nämlich „il sogno“, der Traum, und „saggio di corde“, metaphorisch frei als „Drahtseilakt“ übersetzt. Komponieren als permanenter Drahtseilakt, Infragestellung als künstlerisches Selbstverständnis. Dunkel und von merkwürdiger Gesuchtheit ist die Instrumentation, die Hübler als Klangraum konzipiert: Viola als Soloinstrument (hier die sprachlos gewordene Stimme), dazu Alt- und Bassflöte, das seltene Bassetthorn, Pikkoloklarinette in Es, Bass­trompete, drei Violoncelli, Kontrabass und Laute. Das ist schon beinahe ein Klangzitat in Verbindung mit einer imaginären Musikszene. Monodie, frühe Barockoper und Konzeptionen des Manierismus werden wie durch einen zerbrochenen Spiegel in einem verlassenen Gebäude gesehen.

Im vierten Streichquartett „[mo]zART“ (2005) entwickelt Hübler aus dem Mozart-Material (Dissonanzen-Quartett KV 465) heraus dann auch konsequent eine eigene Gestik, wobei beide Materialsphären wie bei einer Concordia discors behutsam ineinander gleiten und sich osmotisch durchdringen.

Die Konfrontation mit traditionellen Modellen erbringt bei Hübler keine vordergründige Adaption, sondern entlockt ihm eine widerständige Ästhetik. Im Auflösen der Finten und Fallen, die traditionelle Modelle zwangsläufig verlockend in sich bergen, verbindet sich dekonstruktives Denken mit Entdeckerlust, die eher nicht den Hauptweg, sondern den krummen Weg wählt. Irgendwie erinnert das an Schubert ...

Taipei, Ende März 2018