MusikTexte 158 – August 2018, 88

Underground und Improvisation

Ausstellungen und Konzerte der Akademie der Künste Berlin

von Franziska Buhre

Das Objekt übt eine sonderbare Anziehung aus, womöglich weil es über der Kopfhöhe hängt, seine ebenmäßigen Formen aus hellem Material bestehen und weil es nur kaum vernehmlich tönt. Vier kreisrunde und an den Rückseiten miteinander verbundene Becken aus dünnen Holzplatten öffnen sich den Besuchern. Aus dem untersten Becken entweichen vier Tropfen, ebenfalls aus Holz, eine unsichtbare Vorrichtung erzeugt das Geräusch tropfenden Wassers. „Dripping Sounds“ heißt die Skulptur des estnischen Malers und Installationskünstlers Kaarel Kurisma, geboren 1939, die er 1975 realisierte. Die Form und Anordnung der Becken erinnert an Lautsprecheranlagen, die in Fabriken und auf öffentlichen Plätzen der estnischen sozialistischen Sowjetrepublik installiert waren und aus denen Durchsagen auf Russisch schallten. Die Skulptur regt an zu Reflexionen über die Macht des Schalls im Dienste der Propaganda: Wenn nämlich Schall und die Sprache der Besatzer aufgezwungen werden und unausweichlich sind, wird Gewalt körperlich spürbar. Kurismas Werk hingegen sagt sich los von der besitzergreifenden Macht des Schalls und versöhnt das angstbesetzte Objekt Lautsprecher wieder mit dem eigenen Hörsinn. Seine Skulptur ist eine friedliche Geste, alles andere als selbstverständlich inmitten des Kalten Kriegs. Die Ausstellung „Notes from the Underground. Alternative Music and Art in Eastern Europe 1968–1994“, die von März bis Mai in der Akademie der Künste Berlin (AdK) gezeigt wurde, hielt eine Fülle solcher Entdeckungen bereit, zum Beispiel die graphischen Partituren von Katalin Ladik. Die Ungarin, geboren 1942, lebte in Jugoslawien und arbeitete in den Siebzigerjahren mit Musik und Video, sie collagierte Schnittmuster aus westdeutschen Modemagazinen mit Noten und Buchstaben und vertonte ihre Partituren dann lautmalerisch. Sehenswert ist auch das 1990 entstandene Video der slowenischen Künstlerin Marina Gržinic´: Eine in rot gekleidete Soldatin stapft darin ganz unbeeindruckt durch Fernsehnachrichten über Unruhen im Kosovo. Vollkommen unverständlich erscheint jedoch, warum die Band Laibach und die Aktivitäten des Kunstkollektivs Neue Slowenische Kunst (NSK) in der Ausstellung keine Erwähnung finden. Dabei wäre deren Indienstnahme totalitärer Symbole im Zeichen der performativen Umwertung staatlicher Kontrolle durchaus ein wichtiges Kapitel im Themenfeld der alternativen Kunst nach 1968 gewesen, auch wenn Slowenien nicht hinter dem Eisernen Vorhang lag. „Notes from the Underground“ wurde in der AdK im Verbund mit der Ausstellung „FMP: The Living Music“ gezeigt, die vor einem Jahr im Münchner Haus der Kunst zu sehen war. Kurator Markus Müller scheut sich seitdem nicht, die immer gleiche Litanei zu wiederholen, dass die Free Music Production [FMP] seiner Ansicht nach „der wichtigste kunst- und kulturpolitische Beitrag Westberlins zum 20. Jahrhundert“ gewesen sei. Gewisse Errungenschaften der von Musikern 1969 gegründeten Plattform für Veranstaltungen und Musikproduk­tionen der Free-Jazz-Szene mögen bis heute unzweifelhaft sein, wie die Dokumentation auf Tonträgern zeigt, denen an zahlreichen Hörstationen gelauscht werden konnte. Doch allerlei Poster, Plattencover und Programmhefte verbreiten vor allem den Nimbus des Heldentums einer begrenzten und nur aufeinander eingeschworenen Gruppe von Männern, die im Free Jazz ein geeignetes Vehikel zur Flucht aus bürgerlichen Existenzen fanden. Fast müßig zu erwähnen, dass die überlebensgroßen Photos von bärtigen Musikern eine ästhetische Halbwertszeit von Sekundenbruchteilen haben. An der Art, wie die Gründer, treibenden Kräfte, und auch das Publikum der FMP mit Musikerinnen umging, lässt sich einiges ablesen. 1979 trat die Feminist Improvising Group beim Total Music Meeting in Berlin auf. Alle drei Abende wurden aufgezeichnet, erschienen aber nie auf dem Label der FMP. „Das haben die Leute damals als zu aggressiv und zu bedrohlich empfunden,“ meint Markus Müller. „Das Publikum wollte keine Feminist Impro­vising Group haben, das war denen, auf gut Deutsch, zu schwanzabschneidend. Zur Platte kam es nicht, weil es Widerstand bei den Männern gab, zum anderen hat sich die Band bald danach aufgelöst.“ Die Konzerte im Raum der Ausstellung funktionieren, ganz nach historischem Vorbild, auch nur mit lauten Musikern, auf der Studiobühne der Akademie hingegen kommen auch Zwischentöne zur Geltung. Musikkurator Louis Rastig programmierte die erstmalige Begegnung der schwedischen Perkussionistin Matilda Rolfsson und ihres Landsmanns am Klavier, Sten Sandell, mit der US-amerikanischen Choreographin und Wahlberlinerin Marcela Giesche. Alle drei atmen förmlich mehr Freiraum, hören und schauen einander sehr bedacht zu, lassen Stille geschehen und wechselnde Aufmerksamkeiten.

Einige Konzerte des Begleitprogramms zur FMP-Schau waren allerdings mehr als unglücklich parallel zum Festival MaerzMusik angesetzt – durchaus ein Symptom dafür, wie sehr die Akademie der Künste in der Berliner Kulturlandschaft um sich selbst kreist. Aus der Zeit gefallen wirkte die Halle 2 der AdK, in welcher Mitte März Kirill Shirokov, Vladimir Gorlinsky, Sasha Elina und Alexey Sysoev aus der Neuen Moskauer Improvisationsszene auf Burkhard Beins, Andrea Neumann, Liz Allbee und Boris Baltschun vom Berliner Splitter Orchester trafen. Echtzeitmusik aus zwei Metropolen sollte erklingen. Doch die Musikerinnen und Musiker waren viel zu weit auseinander plaziert als dass sich ihre Klänge hätten berühren und interagieren können. Dazwischen saß das Publikum kreuz und quer angeordnet und war etwas ratlos angesichts der Eigenbröteleien der Beteiligten. Ein Grund mehr, die Fährte von Hardijs Ledin˛š aufzunehmen, dessen Tonbänder in selbstgestalteten Hüllen in „Notes from the Underground“ zu sehen waren. Ledin˛š (1955–2004) war ein lettischer Musiker, Disc Jockey, Konzeptkünstler und Gründungsmitglied der „Werkstatt zur Wiederherstellung ungefühlter Gefühle“, kurz NSRD. Die Musik der Gruppe – Ambient, elektronische Musik und Synth-Pop, aufgenommen in den Achtzigerjahren, wurde 2017 vom belgischen Label Stroom wiederveröffentlicht und harrt einer Würdigung durch die breite Öffentlichkeit. Begleitend dazu kann man mit dem opulenten Katalog des Lettischen Zentrums für zeitgenössische Kunst tief eintauchen in die künstlerischen Verfahren, Publikationen und Aktionen der NSRD. Und das Kumu Art Museum in Tallinn zeigt vom 14. September bis 4. Februar 2019 die erste große Retrospektive der Werke von Kaarel Kurisma.

Ieva Astahovska, Māra Žeikare (Herausgeber), Workshop for the Restoration of unfelt feelings, Juris Boiko and Hardijs Ledin˛š, zwei­sprachige Publikation (Lettisch und Englisch), Riga: The Latvian Centre for Contemporary Art, 2016, bestellbar im Online-Shop www.lcca.lv

https://stroomtv.bandcamp.com/album/nsrd