MusikTexte 158 – August 2018, 79–80

Auf dem Weg des Fortschritts

Dieses Mal „Privatsache“ – Münchener Biennale

von Max Nyffeler

Das Motto „Privatsache“ der diesjährigen Münchener Biennale für neues Musiktheater wird graphisch dargestellt durch einen runden Stempelabdruck. Das war ein subtiler Hinweis auf die Doppelbödigkeit des Themas, denn wo das Private quasi amtlich beglaubigt wird, lugt bereits die Obrigkeit in die vier Wände hinein. Und es machte neugierig: Wie wird das Versprechen dieses dialektischen Witzes in den fünfzehn Uraufführungen des elftägigen Festivals wohl eingelöst?

Die Erfahrungen fielen extrem unterschiedlich aus. Besonders angenehm war diejenige des „Bathtub Memory Project“, gestaltet von einer Künstlergruppe um den griechischen Komponisten Eleftherios Ve­niadis. Es war eine Eins-zu-eins-Vorstellung: Man bekommt eine Badehose ausge­händigt und legt sich in eine Badewanne mit warmen Wasser. Hinter einem Gazevorhang stimmt eine ebenso warme Frauenstimme zu Cellobegleitung einen verführerisch-einlullenden Gesang an – Wellness für Körper und Seele. Dann öffnet sich der Vorhang, und die nette Stimm­be­sit­zerin umkreist nun singend die Bade­wanne. Bevor man ganz wegdämmert, zieht sie leider den Stöpsel. Aus der Traum. Die Illusion einer Rückkehr in früh­kind­liche Geborgenheit unter Mutters Obhut, die das Ritual suggeriert, ist zu Ende. Man geht zur Garderobe, trocknet sich und tritt wieder in die kalte Welt hinaus.

Dort wartet auch wieder die harte Biennale-Wirklichkeit. Die Aufführungsorte sind quer über die Innenstadt verstreut, einer befindet sich sogar im dreißig Kilometer entfernten Starnberg. Manche sollen sich mit der S-Bahn dorthin begeben haben. Im Stadtgebiet kann man bei schönem Wetter die Schauplätze mit dem Fahrrad abklappern.

Schauplatz eins: In der „Tonhalle“ von Ruedi Häusermann, einem vor der Staatsoper aufgebauten Miniaturkonzertsaal, sitzen sechzehn Personen dichtgedrängt in vier Reihen. Die Vordersten können die Füße auf den Bühnenrand aufstützen. Davor fiedelt und zupft ein Streichquartett kurze Stücke, ein Conferencier begleitet das Geschehen mit launigen Kommentaren und augenzwinkernder Kritik am Musikbetrieb, aus dem Lautsprecher dringen Hundegebell und Straßenlärm, Handyvideos sind ausdrücklich erwünscht. Man erlebt schweizerische Schmunzelkunst vom Feinsten.

Schauplatz zwei: Im Museum Villa Stuck rechts der Isar hantiert in einem Zelt ein Mann (Marek Poliks) in Raumfahrermontur zu Computerrauschen eine Dreiviertelstunde lang im Dreivierteldunkel mit irgendwelchen Kabeln, Steckern und Werkzeugen. Am Schluss tritt er endlich aus seiner Bastlerwerkstatt heraus, streckt sich und schreitet mit Sehnsuchtsgebärde einem fernen Ziel zu. Start in ferne Galaxien? Der technoide Mensch an der Schwelle zum Übermenschen? Die Idee hinter diesem zähflüssigen Event ist erahnbar und theoretisch nachvollziehbar, doch in der Praxis produziert sie nichts als hart ersessene Langeweile.

Schauplatz drei: In einer Hauspassage in Schwabing treffen sich zwei Dutzend erwartungsvoll Neugierige. Das Programmbuch verspricht gut berlinerisch einen „Kiezspaziergang“, der die Besucher „mehrfach durch eine sich unmerkliche verändernde Umgebung“ führen wird. Es folgt ein dreimaliger Spaziergang um den Block, bei dem die Aufmerksamkeit auf kleine, beiläufig inszenierte Details gelenkt wird. Schärfung der Alltagswahrnehmung nennt sich das. Am Schluss steigt man in die Beletage eines Altbaus hinauf und schaut drei Schauspielern zu, die in einer raumfüllenden, durchsich­tigen Plastikblase im Zeitlupentempo geheimnisvolle Aktionen vollführen, während im Nebenraum drei Mitglieder der Neuen Vocalsolisten Stuttgart Dreiklänge singen. Der Titel „Bubble <3“ enthüllt nun seinen Sinn. Verantwortlich für Konzept und Regie zeichnete eine Gruppe aus Hongkong, bestehend aus Lam Lai, Wilmer Chan, Nadim Abbas, Vanissa Law und Fiona Lee.

Was sich schon vor zwei Jahren abgezeichnet hatte, eine Tendenz zu postdramatischen Formen, zu Performance in offenen Räumen bis hin zum kuratorischen Lieblingsmodell der Publikumswanderung, erwies sich nun in dieser zweiten Biennale unter der Leitung von Manos Tsangaris und Daniel Ott als klares Profil. Altmodische Guckkastenbühne ade. Instrumental begleiteter Gesang, wie ihn der gemeine Operngänger mit dem Begriff Musiktheater assoziiert: ein No-Go.

Einzig die Eröffnungspremiere machte noch einen Versuch in Richtung Opernkonvention: „Wir aus Glas“ nach einem Libretto und Konzept von Gerhild Steinbuch, mit Musikeinlagen von Yasutaki Inamori und inszeniert von David Hermann. Thematisiert wurde in abendfüllender Länge das banale Privatleben einer gelangweilten urbanen Wohngemeinschaft, was dann leider auf die Darstellung durchschlug. Da half auch die einfallsreiche Bühnenarchitektur von Jo Schramm nicht, bestehend aus einer schmalen, sehr langen Bühne in der Saalmitte, auf der die verschiedenen Räume einer Durchschnittswohnung nebeneinander aufgebaut waren. Das Publikum saß auf zwei seitlichen Tribünen, die an der Bühne entlangfahren konnten. Das war szenisch innovativ, musikalisch aber problematisch, denn die in die Szene einbezogenen sechs Instrumentalisten des Opera Lab Berlin standen oft sehr weit auseinander, was ohne Dirigent und Moni­tore zu Wackeleinsätzen führte. Die szenische Einstudierung hatte den in die Handlung eingestreuten Arien oder Duetten vermutlich zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Musikalisch überzeugten vor allem die kurzen Chorsätze, gesungen von sechs auf der Zuschauertribüne plazierten Sängerinnen und Sängern.

Das Festivalmotto erwies sich als ebenso fruchtbar wie tückisch. Einerseits konnte das Verhältnis Individuum-Umwelt facettenreich abgehandelt werden, andererseits verloren sich viele Beiträge in narzisstischer Selbstdarstellung. Hier ist meine/unsere private Sicht auf die Welt, man finde sie bitte sehr interessant! Für ein Publikum, das seine Maßstäbe aus der griechischer Mythologie und Shakespeares Dramen bezieht, wäre das wohl nur begrenzt interessant gewesen, aber Bildungsbürger gehören glücklicherweise nicht zum Zielpublikum des Festivals. Es ist sowohl von der Macher- als auch von der Publikumsseite her offenkundig auf die Generation der Digital Natives ausgerichtet, die mit Monteverdi und Mozart wenig, mit Computer und Video dafür umso mehr am Hut haben und ihr an Hochschulen, in Performancekursen und Medienseminaren erworbenes Wissen hier in die Praxis umsetzen wollen. Daniel Ott, 57, und Manos Tsangaris, 61, spielen dabei die Rolle professoraler Mentoren, die die multimedialen Experimente des Nachwuchses mit väterlichem Wohlwollen begleiten. Auffällig an all diesen Projekten ist die Gruppenstruktur; der individuelle Autor, die individuelle Autorin ist jetzt Teil eines Kollektivs.

Mit dem Thema „Privatsache“ bewegte sich die Biennale auf einem Feld voller Widersprüche, was Abwechslungsreichtum garantierte. Da das Private, auch wenn es in korrumpiertem Zustand dargestellt wird, sich grundsätzlich als Gegenwelt zur großen Öffentlichkeit versteht, bedeutete das auch zwangläufig: Rückzug in wie auch immer beschädigte Nischen und tendenzielle Abschottung gegen die Außenwelt. Das färbte auf die Rezeption ab. Zu den kleindimensionierten, „privaten“ Events hatten die Zuschauer meist nur grüppchenweise Zugang, was die Veranstalter nötigte, jeden Programmpunkt mehrfach zu geben. Die Folge war eine Fragmentarisierung des Publikums, das sich an den verschiedenen Spielorten in der Stadt verlor. Ein gemeinsames Erleben in größerer Zahl, das Theater überhaupt erst zum Ereignis macht, kam dadurch nur in wenigen Fällen zustande.

Das „Tonhalle“-Häuschen auf dem Platz vor der Staatsoper war ein anschauliches Symbol für diesen Rückzug aus den großen, Öffentlichkeit schaffenden Räumen und Institutionen ins Schneckenhaus einer selbstgenügsamen Minderheitenästhetik. Dass deren Protagonisten ihren exklusiven Status im öffent­lichen Raum zelebrierten, gehörte zu den Paradoxien des Unternehmens und war nicht ohne frivolen Reiz. Reizlos problematisch war allerdings, dass dieses auftrumpfende Elfenbeinturmbewusstsein ausgerechnet anhand der Karikatur eines Streichquartetts demonstriert wurde, einer von altersher experimentellen Gattung, die zum Kernbestand auch der neuen Musik gehört und sich nur im geschützten Raum einer „Kammer“ entwickeln kann. Das hatte etwas ungewollt Denunziatorisches und erweckte den Eindruck, dass da einige Kategorien durchein­andergeraten waren.

Das Festivalthema regte zum Vergleich an: Wie unterscheidet sich die heutige Privatheit von der Privatheit im neunzehnten Jahrhundert, als sie in ihrer modernen Form entstand? Damals stellte der Rückzug ins Private eine Reaktion des Bürgers auf die repressiven poli­tischen Verhältnisse dar, was den Blick nach innen schärfte und Komponisten von Schubert über Schumann bis Wagner zu abenteuerlichen Entdeckungsfahrten in die Tiefen der menschlichen Psyche animierte. Davon ist heute keine Rede mehr. Gegenwärtig assoziieren sich mit dem Begriff „privat“ Vorstellungen von Bildschirmexistenzen und virtuellen Internet-Freundschaften – man ist ständig online und trotzdem allein. Ursache dieser sozialen Isolation ist der unreflektierte Gebrauch der technischen Mittel, die bekanntlich nicht auf eine Bereicherung des Innenlebens – Nonos Vision der „altri spazi“ –, sondern auf dessen Kolonisierung ausgerichtet sind. Dieser kritische Punkt – der Angriff der Technik auf die Psyche – hätte eine stärkere Beachtung im Programm verdient.

Einige Produktionen verweigerten sich dem Rückzug in abgeschottete Nischen. Etwa „Third Space“ nach einem Konzept von Daniel Linehan (Choreographie) und Stefan Prins (Komposition), eine abendfüllende Tanzperformance in drei Teilen, die auf gekonnte und vielleicht auch ein wenig schematische Art mit der Wechselwirkung von Bühnenrealität und medialer Realität spielt. In der ersten halben Stunde sind Aktionen nur auf einer großen, die Bühne verdeckenden Projektionswand zu sehen und Töne nur aus dem Lautsprecher zu hören. Zu Beginn der zweiten halben Stunde öffnet sich die Bühne, und man sieht die Tänzer real, ebenso die in der offenen Bühnenlandschaft verteilten Musiker des Klangforum Wien, die sich hingebungsvoll als Geräuschproduzenten betätigen; instrumentaler Live-Klang, Laute und Geräusche der Performer und Computersound verschmelzen. In der dritten halben Stunde intensivieren sich die Aktionen, wobei die Bewegungen der Tänzer/Performer in konvulsivische Zuckungen übergehen.

Das Musiktheaterstück „Alles klappt“ mit Ondřej Adámek (Komposition) und Katharina Schmitt (Libretto und Regie) beeindruckte durch die Wahl der Thematik und die lapidare Art ihrer szenischen Umsetzung. Ausgehend von Briefen und Archivmaterial aus dem Jüdischen Museum Prag entwickelt sich eine Spurensuche, die im KZ endet. Von den lebendigen Menschen bleiben am Schluss nur tote Gegenstände übrig. Für dramatische Wirkungen hat Adámek ein gutes Gespür, aber auch hier herrschte das für die Musikbiennale notorische Sprechen vor, wenn auch in rhythmisierter Form.

Spurensuche auch im weitgehend musikfreien Sprechtheaterstück „Ein Porträt des Künstlers als Toter“ (Regie und Text: Davide Carnevali), einer Koproduktion mit der Berliner Staatsoper Unter den Linden. Der Schauspieler Daniele Pintaudi führt durch eine labyrinthische Erzählung, die sich um ein geheimnisvolles Appartement in Buenos Aires dreht und sich dabei schrittweise den Verbrechen der argentinischen Militärjunta der Siebzigerjahre nähert. Das Stück entwickelt die Spannung eines Politkrimis, Fiktion und Realität durchdringen sich auf verwirrende Weise. Das erinnert an den magischen Realismus der lateinamerikanischen Literatur.

Mit schrägem Humor und grellbunter Szenerie wartet die mehrstündige „München ‚Ø‘ Trilogie“ der vom Komponisten Trond Reinholdtsen gegründeten „Norwegian Opra“ auf. Das Trash-Opus hat das Zeug zu einem Szenenhit. In karnevalesken Kostümen und Masken sprechen, singen und krächzen die sechs Darsteller mit Mickey-Mouse-Stimme Blödelverse über Wagner und Schopenhauer, Gott und die Welt. Das Allotria ist gut einstudiert und balanciert gekonnt an der Grenze zum Stegreiftheater.

Was lässt sich von dieser Biennale mit nach Hause nehmen? Zunächst die Erkenntnis, dass sie sich vom traditionellen Musiktheater, dieser wirkungsmächtigen, alle sozialen und geographischen Grenzen sprengenden Form der Verbindung von Musik, Wort und Szene, radikal verabschiedet hat und ihre Chance in den Nischen urbaner Teilkulturen sucht. Man kann das je nach Standpunkt gut oder schlecht finden, aber die Linie ist zumindest klar. Sodann wurde deutlich, dass der Hang zu Performance und Installation oft eine Verengung von Inhalten und Ausdrucksformen mit sich bringt, zumal der übermäßige Einsatz technischer Medien die Aufmerksamkeit absorbiert und einer geistigen Vertiefung im Wege steht. Vergessen wird dabei häufig, dass von Sophokles bis Heiner Goebbels das Spannendste an einer Bühnenshow noch immer der lebendige Mensch und nicht die Technik oder der „Sound“ ist.

Und schließlich erfuhr man viel über eine Gegenwart, in der mehr denn je, und nicht nur im politischen Bereich, mit Begriffsverschiebungen gearbeitet wird. Die Biennale macht davon keine Ausnahme. Die Inanspruchnahme des traditionellen Begriffs „Musiktheater“ wirkt seltsam deplaziert bei einem Unternehmen, das die herkömmlichen Darbietungsformen erfolgreich unterläuft, komponierte Musik zur marginalen Beigabe macht oder gleich durch mausgenerierte Lautsprechergeräusche ersetzt. Eine Umbenennung in „Festival für experimentelle Performance und Sound Art“ oder so ähnlich wäre deshalb nur folgerichtig. Gesangsdarbietungen, falls noch beabsichtigt, würde das nicht ausschließen. Man braucht sein Gepäck ja nicht mit Begriffen zu beschweren, die sich auf dem Weg des Fortschritts als Ballast erweisen.