MusikTexte 159 – November 2018, 51–56

Poesie der mediterranen Welt

Der katalanische Komponist José Luis de Delás

von Max Nyffeler

Am 21. September dieses Jahres ist José Luis de Delás mit neunzig Jahren in Bornheim bei Köln gestorben. Der in Barcelona geborene Komponist übersiedelte 1957 nach Deutschland, wo ihm Köln zu seiner zweiten Heimat wurde. Doch den Kontakt zu Barcelona verlor er auch während der faschistischen Herrschaft unter General Franco nicht, die erst 1975 endete. Aus seiner Musik spricht das unaufdringliche, in den musikalischen Tiefenschichten verankerte Bekenntnis zu den lange unterdrückten humanistischen Traditionen Spaniens. Auffällig sind die offenen und versteckten Querverbindungen zu Literatur und bildender Kunst; zur Künstlerszene in Barcelona hatte de Delás enge Verbindungen. Wo sich seine Musik auf das Feld politischer Aussagen hinauswagt, erscheinen diese nie in plakativer Form, sondern sind eingebunden in den kompositorischen Kontext der sorgfältig durchgearbeiteten Texturen und subtil ineinanderfließenden Klangfarben.

Am Werk von José Luis de Delás lässt sich beispielhaft aufzeigen, wie wenig brauchbar eine Betrachtungsweise ist, die den Grad der Materialinnovation zum Hauptkriterium für die Beurteilung einer Komposition macht, und dass ein Komponist, auch wenn solche Innovationsfragen für ihn sekundär sind, trotzdem die historische und künstlerische Wahrheit auf seiner Seite haben kann.

Mit seiner mediterranen Ästhetik ist José Luis de Delás – nicht untypisch für die Situation eines künstlerischen Emigranten – in seiner Wahlheimat Deutschland ein Außenseiter geblieben. Immerhin sind viele seiner Kompositionen vom WDR Köln produziert worden, der Dirigent Arturo Tamayo hat sich für seine Musik stets mit Nachdruck eingesetzt, und in der Reihe „Musik-Konzepte“ brachten Rainer Riehn und Heinz-Klaus Metzger 1992 einen Band über ihn heraus, der 2000 in erweiterter Form auch auf Spanisch in einer Edition der Universität Alcalá erschien.

Die Herkunft aus einem Land, das vom übrigen Europa geographisch durch die Pyrenäen getrennt ist und lange durch ein faschistisches Regime in seiner politischen und kulturellen Entwicklung zusätzlich zum Alleingang gezwungen war, färbt ab. Darum sind die Prämissen in seinem Werk zumindest teilweise andere als die eines bundesdeutschen Komponisten, auch wenn die meisten seiner Stücke in der Bundesrepublik entstanden sind. Die Frage, ob er sich mehr als Deutscher oder als Spanier fühle, beantwortete er ohne zu zögern: „Natürlich absolut als Spanier!“ Damals wurde noch nicht kategorisch zwischen „Katalane“ und „Spanier“ unterschieden.

Die Ausrichtung auf die europäischen Traditionen ist das Erbe der spanischen Intelligenz aus den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts: des Dichterkreises um Rafael Alberti und Federico García Lorca, von Malern wie Picasso und Miró, des Komponisten Manuel de Falla. Sie alle verbanden die Öffnung Spaniens nach Europa mit einer bewussten Anlehnung an genuin spanische Traditionen und führten so die spanischen Künste in der Zeit vor Franco zur Weltgeltung. Barcelona, die Geburtsstadt von de Delás, war damals ein Zentrum europäischer Kultur. Eine Gruppe von Oppositionellen, zu der er auch in seinem freiwilligen Exil noch Kontakt hielt, hatte sich dort zum „Club 49“ zusammengeschlossen, wo sie Ausstellungen und Konzerte organisierten und über moderne Kunst diskutierten. Um bei der Zensur nicht auffällig zu werden, nannten sie ihn „Jazzclub 49“.

José Luis de Delás wurde am 28. März 1928 in Barcelona in eine Familie adliger Herkunft hineingeboren. Die politi­schen Umstände in seiner Heimat haben sein Leben tief geprägt. Sein Vater war Leiter einer kleinen Sparkassen­filiale und überzeugter Sozialist und Republikaner, die Mutter eine Generalstochter. Im spanischen Bürgerkrieg, der 1936 ausbricht, werden sein Vater und sein Onkel von den Anarchisten verhaftet und die Wohnung geplündert. Den Onkel ermorden sie, der Vater wird freigelassen. Ein Jahr später wird er erneut vorübergehend verhaftet, diesmal von den Kommunisten, und 1939 ein drittes Mal, nun von den Franco-Anhängern, die Barcelona erobert haben. Er wird von der Sparkasse fristlos entlassen und stirbt bald darauf an einem Schlaganfall. Die traumatischen Kriegserlebnisse werden José Luis sein Leben lang verfolgen.

Als Jugendlicher beginnt er die große europäische Literatur zu lesen und zu komponieren; am Konservatorium von Barcelona nimmt er Geigen- und Theorieunterricht. Nach dem Abitur im Jahr 1945 studiert er zunächst zwei Semester Jura, dann widmet er sich wieder der Musik und findet Anschluss an die Künstlerkreise in Barcelona, wo er wichtige Anregungen erhält. Seine ersten Kompositionen, drei Lieder für Singstimme und Klavier, schreibt er 1946 mit achtzehn Jahren über Texte von Juan Ramón Jiménez, einem der Begründer der neuen spanischen Literatur, und Antonio Machado. Ein Jahr später folgen wiederum Lieder, diesmal über Gedichte von Rilke, Hesse, Verlaine und Hofmannsthal.

1949 entflieht er erstmals dem Franco-Faschismus, dessen geistige Enge und Unfreiheit ihm unerträglich werden. Über Paris reist er nach Deutschland und beginnt in München ein Musikstudium. Eingeladen hat ihn der Münchner Romanist Günther Hensch, dem er in Barcelona begegnet ist. In München besucht de Delás einen Kurs von Ernst Krenek über Zwölftontechnik und die Musik der Wiener Schule, durch den Dirigenten Eugen Jochum lernt er den Religionsphilosophen Romano Guardini und Wieland Wagner kennen. Doch das musikalische Klima in der bayerischen Hauptstadt ist nicht das, was er sich erhofft hat.

Im Grunde war es ein Rückschritt, merkwürdigerweise. Die Atmosphäre in Barcelona war fortschrittlicher als das, was ich in München gefunden hatte. Erstens: an der Musikhochschule waren noch viele Lehrer, die eindeutig Nazis waren, das sagten sie ganz deutlich. Und ich geriet unter den Einfluss von Hindemith, merkwürdigerweise. Also in Barcelona war ich kühner gewesen, in München war die erste Zeit eine gewisse Desorientierung. Glücklicherweise habe ich dann Karl Amadeus Hartmann kennengelernt, mit dem ich trotz unseres Altersunterschieds befreundet war. Wir haben uns immer im Operncafé an der Maximilianstraße getroffen und schöne Gespräche geführt. Und ich habe sofort die große Integrität dieses Mannes bewundert, seine Intelligenz – und das war nicht nur in München damals schwer zu finden, sondern in allen Städten der Welt und zu allen Zeiten: Jemand, der wirklich konsequent und tapfer ist. Das war für mich ein Vorbild. In den Konzerten der musica viva, die er gegründet hatte, hörte ich zum ersten Mal Stücke von Nono und Stockhausen. Also die Darmstädter Schule, sozusagen.1

Mit Karl Amadeus Hartmann hält de Delás Kontakt, bis er 1954 wieder nach Barcelona zurückgeht. Er hat inzwischen geheiratet und versucht sich nun als Dirigent durchzuschlagen. Er arbeitet als Gastdirigent in Bilbao, wo er unter anderem die vierte Sinfonie von Hartmann zur spanischen Erstaufführung bringt, und in der Oper in Barcelona assistiert er Wieland Wagner, der ihn 1955 und 1957 zu den Festspielen nach Bayreuth einlädt. In Privatkonzerten in der Villa des Mäzens und Industriellen Josep Maria Bartomeu dirigiert er spanische Erstaufführungen der Werke von Stockhausen, Nono und Berio. Die Konzertreihe hieß „Música oberta“ (Offene Musik). Geleitet wurde sie vom katalanischen Komponisten Josep Maria Mestres Quadreny, organisiert von Joan Prats, einem begeisterten Kunstfreund.

1957 wird es ihm in Spanien endgültig zu eng, und er zieht nun definitiv nach Deutschland um, zunächst nach Aachen, wo seine Frau ein Engagement als Opernsängerin erhält, und 1960 nach Köln. Er komponiert, leitet zunächst eine Galerie für zeitgenössische Kunst und findet dann einen Nebenjob als Aufnahmeleiter im WDR, um Geld zu verdienen. Köln wird nun zu seiner lebenslangen zweiten Heimat. Die Stadt ist in den Sechzigerjahren ein Zentrum der musikalischen Avantgarde, die sich in engem Austausch mit der bildenden Kunst entwickelt. Seine Werke entstehen in bedächtigem, aber regelmäßigem Rhythmus. Ab 1963 entsteht im Durchschnitt ein Werk pro Jahr: Kammermusik für kleines Ensemble und Solostücke für Klavier und Harfe. Er lernt Bruno Maderna kennen, der ihn in Darmstadt einführt, und Gottfried Michael Koenig lädt ihn an das von ihm geleitete Instituut voor Sonologie der Universität Utrecht ein. Hier entstehen 1969 zwei Tonbandstücke, eines davon verbindet elektronische Klänge mit Aufnahmen von politischen Demonstrationen.

Ich habe dort zwei Stücke komponiert. Aber ich habe sehr viele konkrete Klänge benutzt, Musique concrète, weil – ich sehe es heute deutlicher als damals, und jetzt kommt die Ketzerei und das wirklich „Schlimme“ – weil der elektronische Klang mir letztlich nicht sonderlich gefällt. Tut mir leid. Es ist wie jemand, der sagt: Kaviar schmeckt mir nicht. Oder anders ausgedrückt: Ich liebe die Schönheit und den Reichtum der Instrumente unendlich. Ich finde diese Schönheit so unglaublich, und die Flexibilität und die Möglichkeiten auch. Was elektrisch ist, ist eben elektrisch. Aber es kann sehr interessant sein. Es gibt phantastische Stücke, zum Beispiel von Gottfried Michael Koenig, von Stockhausen sowieso, diese sind wirklich meisterhaft. Ob ich ein unendliches Vergnügen habe, wenn ich sie höre, ist eine andere Sache, aber das ist mein Problem. Auch die Live-Elektronik bietet große Möglichkeiten. Aber ich glaube, eigentlich hat nur Nono diese Probleme einigermaßen gut gelöst.

Die Skepsis lässt den Komponisten den versuchsweise eingeschlagenen Weg der Elektronik nicht mehr weiterverfolgen. Es entsteht aber jetzt eine Reihe von Stücken für Instrumente mit Tonband: „Eilanden“ für zehn Instrumente und Tonband (1967/1968), „Cinco sellos“ für neun Instrumente und Tonband (1972) und „Conjuntos“ für elf Instrumente und Tonband (1976).

In dieser Abfolge von Stücken lässt sich eine deutliche Entwicklung in Richtung einer semantischer Konkretisierung und eines geschärften Espressivos beobachten. Während „Eilanden“ noch artifizielle, feinzisielierte Stimmgewebe und ein beinahe traumhaftes Ineinander von Instrumentalklängen und Tonbandgeräuschen aufweist, stößt „Cinco sellos“ mit dem Tonbandpart in den Bereich der Zitatenmontage vor. In der vierten Einspielung vom Band ertönt plötzlich eine Reihe von Liedern und Märschen; grundiert wird das Ganze durch das dumpf grollende Stimmgewirr einer erregten Menschenmenge. Der Titel „Cinco sello“ heißt auf Deutsch „Fünf Siegel“, nach einer Erzählung von Fernando Arrabal aus dem Band „Celebrando la ceremonia de la confusión“. Die Inspiration durch die düsteren Visionen Arrabals verbindet sich hier mit der Empörung des Komponisten über die politischen Zustände in seiner Heimat. Herausgekommen ist ein bekenntnishaftes Proteststück für den Konzertsaal.

Vier Jahre nach dieser Komposition, 1976, bricht de De­lás in „Conjuntos“ („Verbindungen“, auch „Ensem­bles“) die ästhetische Geschlossenheit noch mehr auf. Das Stück blickt zurück auf die letzten Tage der Franco-Diktatur, die kurz vor ihrem Ende mit der Hinrichtung von Regimegegnern noch einmal auf sinnlose Weise ihre Macht demonstriert hatte. Im Instrumentalpart sind politische Lieder, die eine Art Signalcharakter besitzen, motivisch verarbeitet und in die dichte Polyphonie hineingeflochten. Das Ausdrucksbedürfnis ist noch stärker geworden und bricht sich manchmal auf vehemente Art Bahn. Der Tonbandpart erhält ebenfalls mehr Gewicht; gegen Schluss ist ihm sogar eine fast fünfminütige Kadenz vorbehalten, in der die Instrumente schweigen. Man hört der Reihe nach ein italienisches, ein chilenisches und ein spanisches Lied, dann ertönt die Stimme von Rafael Alberti, der über Neruda spricht, und schließlich die Stimme der Witwe des chilenischen Sängers Victor Jara, der beim Putsch gegen Salvador Allende 1973 umgebracht wurde. Der Bezug auf Chile in diesem Stück, das aus der Erregung über Franco-Spanien heraus entstanden ist, hat für de Delás, der die politische Entwicklung in Lateinamerika aufmerksam verfolgt, gute Gründe: Er sieht Parallelen in der Geschichte der Unterdrückung in Spanien zu derjenigen in Lateinamerika. Das Stück endet mit einem Abgesang in der Art einer Trauermusik.

1981 entsteht noch einmal ein Werk mit Tonband: die „Tres Nocturnos“ für vier Schlagzeuger, Streichtrio und Tonband, ein Stück der Dunkelheit und der nächtlichen Phantasie. Mit der Nacht verbindet José Luis de Delás ganz unterschiedliche Vorstellungen; im dialektischen Ineinander gegensätzlicher Empfindungen spiegelt sich ein charakteristischer Zug der ästhetischen Auffassungen des Komponisten.

Die Nacht kann etwas Wunderbares sein. Eine Nacht am Mittelmeer, diese Sinnlichkeit der Atmosphäre und diese Ruhe! Die kleinen Kröten, die singen. Die meisten Leute wissen nicht, dass Kröten wunderbar flöten, die haben einen wunderbar silbernen Klang; sie denken, die Kröten würden quaken wie Frösche. Und wenn man das dann hört, am Mittelmeer, bei Barcelona zum Beispiel (pfeift) – diese Kröten sind natürlich nicht alle gleich gestimmt, einige sind ein bisschen höher, andere ein bisschen tiefer, und da ist kein Dirigent, der Einsätze gibt. Sie überlagern sich rhythmisch und bilden rhythmische Kombinationen. Also: Da haben wir Klangfarbe, und die ist silbern. Dann die Tonhöhen – Mikrointervalle. Und dann noch die Längen. Das schafft ein Gefühl einer unend­lichen Ruhe. Das ist die Freundlichkeit, die Sinnlichkeit der Nacht. Aber die Nacht kann auch Inbegriff des Schreckens sein, der Angst, der Dunkelheit. Und das ist eben die Funktion, die die Nacht bei mir hat.

In dieser Komposition zeigt sich deutlich, dass José Luis de Delás sich schon längst von der reinen avantgardistischen Lehre verabschiedet hat – wenn sie denn für ihn überhaupt einmal Gültigkeit besaß. Er hat sich zwar die seriellen Techniken genau angeschaut, verfiel aber nicht den Dogmatismen, die viele Komponisten damit verbanden. Seine Musik ist nie bloß klingende Struktur, sondern bleibt stets dem Grundsatz der Narrativität verpflichtet, auch wenn das, was sie erzählt, in höchstem Grad verschlüsselt ist und ihre klangliche Erscheinung oft sogar geheimnisvoll wirkt.

Es ist der Klang selbst, der spricht, und er tut es in einer Weise, die den Hörer suggestiv anspricht und ihn mitnimmt auf seinem vielfältig verzweigten, suchenden Lauf. Nie weiß man, was sich bei diesem assoziativen Formprozess als Nächstes ereignet. Die Schönheiten des leuchtend warmen Klangs sind von trügerischer Dauer, er kann unvermittelt von Geräuschwolken oder gähnenden Löchern verschluckt werden. Der Sprachcharakter der Musik ist nicht selten beeinflusst durch Eindrücke aus der bildenden Kunst und der Literatur, jenen künstlerischen Domänen, in denen sich de Delás selbst auch immer wieder aktiv betätigt hat.

Literatur und Malerei haben bei mir immer eine große Rolle gespielt. Bestimmte Bilder von Tàpies, Wols oder Rauschenberg wecken bei mir musikalische Gedanken. Oder Texte, die ich lese. Aber auch umgekehrt: Es kann passieren, dass ich zuerst rein musikalische Gedanken habe und dann später Texte schreibe, die man als poetische Prosa bezeichnen könnte. Die musikalische Idee führt mich zur literarischen. Das ist, glaube ich, charakteristisch für mich.

De Delás erinnert sich an einen Fall, in dem ein ganz konkreter äußerer Eindruck den Anstoß zu einer Komposition gab.

Das erste Stück, das ich in Köln schrieb, war „Imago“ für zwölf Instrumente: Ich war in Paris am Pont neuf, es war schon dunkel und ich guckte auf das Wasser. Da spiegelten sich die Lichter, und das Wasser bewegte sich. Ich habe das lange beobachtet: Das erzeugte musikalische Ideen. Diese Anregung führte mich dann zu bestimmten musikalischen Vorstellungen.

Die Uraufführung von „Imago“, die am 25. Mai 1965 in Barcelona stattfand, dirigierte de Delás selbst. Es ist ein Werk der Suche und der flackernden Unruhe, der Verlauf ist von abrupten Brüchen und geräuschhaften Eruptionen durchsetzt. Hier wurde ihm erstmals bewusst: Das ist meine Handschrift, das bin ich.

Ich glaube, dass gerade meine Beschäftigung mit Malerei und Literatur für mich die Lösung gebracht hat. Malerei: Das war für mich die Abstraktion, konkret Wols – also Wols hat bei mir eine ganz große Rolle gespielt, und Tàpies auch: Da habe ich Texturen und Materialkonfigurationen gefunden, die ich dann sozusagen hörte. Die Prozeduren und Realitäten der Malerei und der Literatur haben mir den Weg gezeigt, wie ich mich musikalisch ausdrücken konnte.

Auch die Produktion im WDR Köln dirigierte de Delás selbst.

Otto Tomek hatte mir gesagt, ich sollte das dirigieren. Es gab damals unglaublich viele Proben, das war wie im Paradies: Wie viele Proben brauchen Sie?“ – „Ja, zehn.“ – „Gut, gut!“ Obwohl die Aufnahme inzwischen das ist, was man eine historische Aufnahme nennt, klingt sie noch immer sehr gut und ist phantastisch gespielt von den Musikern des WDR. Und da hatte ich das Gefühl: Das bin ich. Das ist, was ich empfinde.

Zu denen, die sich in Köln für die Aufnahme des Stücks interessierten, gehörte auch Karlheinz Stockhausen, der damals das Studio für elektronische Musik am Westdeutschen Rundfunk leitete.

Er hatte gewusst, dass ich das komponiert hatte, die Aufnahme war da, und dann wollte er das hören. Er hat es mit unglaublicher Aufmerksamkeit gehört, das war schön zu sehen, wie er hörte. Und dann ist er ganz pathetisch aufgestanden und hat gesagt:„Ich bedanke mich, ich habe viel gelernt.“ Und fügte dann mit einer anderen Stimme hinzu: „Die Form ist schwach (lacht).“ Ich finde sie nicht schwach. Es hängt mit meinen Eindrücken aus der Malerei zusammen: Meine Idee war, ganz kurze Fragmente, wirklich Fragmente, aneinanderzureihen, so naiv und so einfach war das. Natürlich nicht beliebig, ich hatte mir gut ausgedacht, welche mit welchen und so weiter. Aber es war trotzdem eine Kontinuität dieser Mikrofragmente von zehn, fünfzehn, zwanzig Sekunden. Ich glaube schon, dass eine Einheit entsteht. Das Wichtigste war für mich die Klangfarbe.

Greifbarer als die visuellen sind natürlich die literarischen Anregungen im Werk von José Luis de Delás. Die lebenslange Beschäftigung mit Literatur hat ihre Spuren in seinem musikalischen Denken hinterlassen. Schon in den frühen Sechzigerjahren in Köln stieß er auf das Werk von Walter Benjamin, das ihn danach nie mehr loslassen sollte. 1977 entstand die Komposition „Denkbild – Kurze Schatten“. Sie ist, wie viele Werke von de Delás, für solistisch besetztes Kammerensemble geschrieben. Die Besetzung umfasst Flöte (auch Altflöte), Klarinette (auch Bassklarinette), Fagott, Schlagzeug, Gitarre, Viola und Violoncello. In der Partitur wechseln auskomponierte Passagen mit solchen, in denen die Spieler durch graphische Notation oder bloße Angabe des Tonvorrats zur gelenkten Improvisation angehalten werden.

Zur Notation treten in diesen aleatorisch freien Stellen Zitate von Walter Benjamin. Sie sind, in verschieden große Satzbestandteile zerlegt, den Improvisationsanweisungen für die einzelnen Instrumente beigegeben. Als begriffliche und metaphernreiche Stimuli sollen sie die rein musikalischen Verläufe in Struktur und Ausdruck präzisieren. Im ersten der insgesamt fünf improvisierten Einschübe heißt der Text:

Im Traum hatte ich eine Landstraße im dunkelsten Dämmerlicht vor mir … der Sonnenball nebelweiß und ohne alle Strahlungskraft … unabsehbare Folge von Zeichen … ein ganzes, unsäglich veränderliches, flüchtiges Schwingengeflecht … Nachts bilden die Laternen in seinem samtenen Innern Sternbilder, die noch keinen Namen haben.

Zu Benjamin habe ich allgemein eine sehr starke Beziehung. Seine Persönlichkeit war nicht einheitlich: Es gab den Benjamin der jüdischen Mystik, den Marxisten, den Künstler und den Dichter, der wunderbare Prosa geschrieben hat, alles authentisch und wahr, auch wenn manchmal Widersprüche da sind. Aber authentische Widersprüche sind besser als tödliche Glätte. Ich hatte diese Texte in einem Buch bei Suhrkamp ge­funden, „Denkbilder“ hieß es. Das sind ziemlich kurze Prosa-Aufsätze, die er in Ibiza geschrieben hat, ich glaube 1924. Er war dort, weil er sehr wenig Geld hatte, und es gefiel ihm dort. Ibiza war damals von den Touristen noch nicht entdeckt und sehr billig. Er schrieb wunderschöne poetische Prosa. Sie hat ein bisschen Ähnlichkeit mit „Einbahnstraße“, ist aber vielleicht noch lockerer, poetisch noch phantasievoller, mit gewissen Momenten, die an Surrealismus erinnern. Das hat mich so inspiriert, dass ich dann dieses Stück schrieb, das ich „Denkbild – kurze Schatten“ nannte. „Kurze Schatten“: einer seiner Aufsätze heißt so. Die kurzen Schatten am Mittag, ein mediterraner Eindruck. Der nächste Schritt war dann, diese Texte in die Partitur zu schreiben – nicht überall, aber an einigen Stellen. Die Funktion war, dass die Musiker sie lasen, sich inspirieren ließen. Und es gibt einige improvisatorische Momente, nicht völlig frei, sondern eine gelenkte Improvisation.

Zweifellos sind die in den Notentext hineingeschriebenen Textfragmente in der Lage, die abstrakten Notenzeichen assoziativ mit Gefühlsinhalten aufzuladen und die Phantasie der Spieler zu beflügeln. Besonders wenn es sich um eine so bilderreiche Sprache wie die Walter Benjamins handelt. Insofern forderte de Delás hier von den Interpreten, was er selbst als Komponist leistete: eine intensive und nicht nur rationale, sondern auch emotionale Auseinandersetzung mit der Textvorlage. Damit schob er auch der gedankenlosen Reproduktion von Improvisa­tionstopoi, die jedem Spieler im Kopf und in den Fingern stecken, einen Riegel vor.

Denkbild – kurze Schatten“ kam 1977 in Witten zur Uraufführung, drei Jahre vor Luigi Nonos Streichquartett, in dem es einen vergleichbaren assoziativen Textbezug mit Versen von Hölderlin gibt.

Drei literarische Zeitgenossen von Benjamin kommen in der 1996 uraufgeführten Komposition „Les profondeurs de la nuit“ für zwei Frauenstimmen und Ensemble zum Zuge: der Spanier Miguel Hernández, der Deutsche Erich Mühsam und der Franzose Robert Desnos. Die Wahl und die Verarbeitung der Texte verweisen nicht nur auf die politische Haltung, die José Luis de Delás hier an den Tag legt, sondern sie geben auch einen Einblick in die künstlerischen Verfahren des Komponisten.

Als ich erfuhr, dass die Besetzung ein Instrumentalensemble sein sollte, hörte ich sofort einen Schönklang von Instrumenten und zwei Frauenstimmen. Diese Verbindung von Frauenstimmen hat mich immer fasziniert, zum Beispiel im Schlussbild des „Rosenkavaliers“. Diese Stelle mit den zwei Frauenstimmen, das ist grandios! Eine hedonistische Schönheit, die ich unglaublich schätze, obwohl meine Beziehung zu Richard Strauss sonst nicht so enthusiastisch ist. Aber immerhin, diese Stelle ist großartig. Das war also schon in der ersten Viertelstunde klar: diese Instrumente und diese Frauenstimmen. Und dann kam sehr bald die Idee mit den drei Sprachen: spanisch Hernández, deutsch Mühsam, französisch Desnos. Das war alles unbewusst. Das meine ich mit Surrealismus: die unglaubliche Macht des Unbewussten. Dann ist mir irgendwie bewusst geworden, dass alle drei Opfer der Gewalt, des Faschismus geworden waren: Hernández wurde von Franco umgebracht. Erich Mühsam im KZ in Oranienburg, schon 1934, von der SS. Er wollte an seine Frau einen Brief schreiben, und die haben ihm gesagt, ja, tun sie das. Und als er zu schreiben anfing, haben sie ihm mit den Gewehrkolben die Hände zertrümmert. Und Robert Desnos kam, weil er von der Résistance war, auch in ein Lager irgendwo in Polen und starb da. Das sind diese Elemente. Intuitiv ist die Beziehung zur Literatur und auch, wie ich sagte, zur Schönheit – zu diesen Frauenstimmen.

Wie de Delás hier den Begriff der Schönheit definiert, verweist wieder auf das charakteristische dialektische Prinzip, mit dem er gegensätzliche Ausdruckshaltungen musikalisch miteinander verbindet. Und wie bei den „Tres nocturnos“ ist es wiederum eine Nachtsituation, in der dies geschieht.

Es gibt in diesem Stück die Schönheit der Frauenstimmen und die Schönheit der Verzerrung, des Protests. Durch das tragische Schicksal der drei Schriftsteller offenbart sich die Welt der Grausamkeit, der Gewalt, des Schreckens, was auch eine paradoxe Form der Schönheit ist.

An der Musik von José Luis de Delás ist mit wenigen Ausnahmen alles minutiös ausnotiert, so dass die komplex geschichteten Klänge von innen heraus ständig in Bewegung gehalten werden. Ein wichtiges Mittel zur Gestaltung der Binnenstruktur ist für de Delás die Dynamik. In einem Klangaggregat ist oft jedem Einzelton ein eigener Dynamikwert zugeordnet; diese Dynamikwerte sind aber nicht statisch, sondern veränderlich, mit anderen Worten: Jede Note ist mit einer verschieden langen Lautstärkegabel versehen. So entsteht eine Binnenpolyphonie des Klangs, die ihn von innen her aufspaltet und ihm seine charakteristische Tiefendimension verleiht. Der Dirigent Arturo Tamayo, der viele Stücke des Komponisten aufgeführt hat, untersuchte diese Satzmerkmale in einem Aufsatz, den er 1992 in der de Delás gewidmeten Nummer der Zeitschrift „Musik-Konzepte“ veröffentlichte. Im Gespräch fasste er seine Analyse nochmals zusammen:

Mit diesem Artikel wollte ich zeigen, dass diese Musik alles andere als einfach ist. Manche Leute, die die Dinge sehr oberflächlich betrachten, sagen: Ach, das ist einfach. Aber es ist sehr kompliziert, wenn man das alles realisiert, weil José Luis eine andere Klangperspektive aufzeigt. Wenn wir zum Beispiel einen ganz normalen Akkord mit der Vortragsbezeichnung forte schreiben, dann klingt er wie ein homogener Akkord in eben dieser Lautstärke. Die Information ist ganz einfach. Aber wenn wir jedem Ton eines Akkords ganz akribisch eine Lautstärke zuweisen, also: ein Ton mezzoforte, einer diminuendo, die weiteren forte, forte-piano, crescendo, diminuendo und fortissimo, dann ist die Perspektive wirklich anders. Ich denke, dass José Luis auf eine wichtige Weise vom Serialismus beeinflusst wurde, denn diese Lautstärken ermöglichen eine Artikulation des Klangs, die sehr raffiniert ist und neue Klangfarbenmöglichkeiten bringt. Das wollte ich in diesem Artikel zeigen: dass diese Musik alles andere als pauschal komponiert und dass alles sehr bewusst, sehr überlegt ist. Und wenn man das realisiert, klingt sie wirklich ganz anders. José Luis hat viel in dieser Richtung gearbeitet. Er besteht darauf, dass jeder Ton nicht nur als absoluter Ton zu spielen ist, sondern dass die Lautstärke als eine übergeordnete Artikulation des Klangs behandelt wird. Und dann klingt diese Polyphonie unglaublich interessant.2

In den Werken von José Luis de Delás manifestiert sich die Haltung eines Künstlers, der als politischer Emigrant seine faschistische Heimat Spanien als junger Mann verließ und ein neues Zuhause in einem Europa fand, das die Verbrechen und Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts einigermaßen glücklich hinter sich gelassen hatte. Doch in seiner Musik klingt die Erinnerung an die Geschichte untergründig nach. Sie stellt sich der Vergangenheit, ohne das Bild einer besseren Zukunft aus dem Blick zu verlieren. Dafür steht der trotz aller Katas­trophenerfahrung prekär am Leben gehaltene Schönklang der Musik. Wer in die Risse und Abbrüche hineinzuhören vermag, die ihre Oberfläche durchziehen, wird darin ein Abbild der Wahrheit unserer Zeit erkennen. Die künstlerische Haltung der Intransigenz, die sich in den Kompositionen von José Luis Delás ausdrückt, fasste Arturo Tamayo, einer der besten Kenner seiner Musik, in diese Worte:

Der größte Vorteil von José Luis de Delás ist, konsequent sein zu können. Er ist eine Person, die mit den eigenen Arbeiten sehr konsequent immer weiter gegangen ist. Eine Person, die, sagen wir, „Neues vom Tage“ überhaupt nicht interessiert. Sondern er hat eine Richtung, er hat einen Weg, und den er geht einfach weiter.3

1 Alle Zitate stammen aus einem Interview, das der Autor am 5. März 2008 mit dem Komponisten geführt hat.

2 Aus einem Gespräch des Autors mit Arturo Tamayo vom
9. März 2008.

3 Ebenda.