MusikTexte 159 – November 2018, 75–82

Der Pluralismus-Prophet und seine Apostel

Wieviel Bernd Alois Zimmermann steckt in Musik der jungen Komponistengeneration?

von Rainer Nonnenmann

Mit seinen pluralistischen Erweiterungen des Zeit- und Materialbegriffs steht Bernd Alois Zimmermann nicht alleine da. Auch Stockhausen, Kagel, Schne­bel, Henze, Nono, Pousseur und Berio verwendeten in den Sechzigerjahren Zitate und dokumentarisches Tonmaterial. Im deutschsprachigen Raum wurde jedoch vor allem Zimmermanns sowohl kompositorisch realisierter als auch theoretisch untermauerter Pluralismus zu einem wichtigen Vorbild für nachfolgende Komponisten, weil er dem linearen Fortschritts- und materialen Reinheitsdenken der seriellen Nachkriegsavantgarde widersprach. Wilhelm Killmayer, Hans Zender, Heinz Holliger, Wolfgang Rihm, Reinhard Febel, Michael Denhoff und andere entdeckten in den Siebziger- und Achtzigerjahren in Zimmermanns pluraler Auffassung von Zeit, Stil, Form, Gattung, Material und Technik wichtige Bezugspunkte für ihre eigene neo-expressive Revolte gegen die avantgardistische Lehrergeneration. Ähnliches gilt für Zimmermanns Schüler Georg Kröll, Johannes Fritsch, York Höller, Manfred Niehaus, Heinz-Martin Lonquich, Dimitri Terzakis und Klarenz Barlow. Auch in Zimmermanns zahlreichen Musiken für Hörspiele, Filme, Theater sowie Bearbeitungen alter Musik erkannte man eine willkommene Öffnung des verengten Kunstmusikbegriffs.

Doch wie steht es heute um das Interesse junger Komponistinnen und Komponisten an Zimmermanns Schaffen und Musikdenken? Folgen dem einstigen Propheten des Pluralismus immer noch Apostel? Welche Rolle spielt Zimmermann insbesondere für die Preisträger des Bernd-Alois-Zimmermann-Stipendiums, das die Stadt Köln seit 1970 an junge Komponisten vergibt und mit jeweils zehntausend Euro dotiert? Das Renommee des Preises verdankt sich in erster Linie der langen Reihe von damit Ausgezeichneten, die später Bekanntheit erlangten, darunter die ehemaligen Zimmermann-Schüler Fritsch, Höller und Barlow. Weitere Preisträger waren Walter Zimmermann, Robert HP Platz, Johannes Kalitzke, Manos Tsangaris, Maria de Alvear, Christoph Delz, Carola Bauckholt und Caspar Johannes Walter. In den letzten Jahren hießen sie unter anderen Yasutaki Ina­mori, Oxana Omelchuk, Matthias Krüger, Lisa Streich und Niklas Seidl.

Yasutaki Inamori: Plurale Identität

Mein erstes Erlebnis mit Zimmermanns Musik war die „Roi-Ubu-Musik“, die ich in Japan im Radio gehört habe. Es war sehr lustig zu hören, wie diese vielen Zitate als Effekt funktionierten. Das war für mich völlig neu und frisch, ohne dass ich schon damals meine Gedanken darüber hätte sortieren können. Doch der Name des Komponisten ist mir seitdem in Erinnerung geblieben, und seine Musik näher kennenzulernen, blieb wichtig für mich.1

Yasutaki Inamori, 1978 in Tokio geboren, erlebte als Teenager mit Zimmermanns Ballettsuite einen Kulminationspunkt von dessen pluralistischer Auffassung von Stil und Material. Als Inamori 2008 an einem Meisterkurs der Internationalen Ensemble Modern Akademie in Tokio teilnahm, lernte er neben Werken von Karlheinz Stockhausen und Steve Reich auch Zimmermanns „Mono­loge“ für zwei Klaviere kennen, Dem japanischen Kom­po­nisten eröffnete das einen neuen Horizont. 2009 kam er an die Hochschule für Musik und Tanz Köln, wo er Komposition bei Johannes Schöllhorn und elektronische Musik bei Michael Beil studierte. In seinem 2010 im Auftrag des WDR Köln für das Pariser Ensemble L’instant donné entstandenen Ensemblestück „Quid rides? II“ überlagerte er Elemente der traditionellen japanischen Hofmusik Gagaku mit Floskeln europäischer Barockmusik, namentlich Fragmenten aus dem Concerto grosso C-Dur von Arcangelo Corelli. Die Frage des lateinischen Werk­titels „Was lachst du?“ zielt auf diese bizarre Kolli­sion, die manchen Hörer belustigen mag.

Als Komponist geht es mir darum, die Zeit mit Tonmate­rial so zu organisieren, dass wir beim Hören merken, Musik ist Zeitwahrnehmung. Zimmermann hat dabei für mich eine große Bedeutung. Mein Stück „Quid rides? II“ für Flöte, Oboe, Klarinette, Harfe und Schlagzeug war das erste, das ich in Deutschland komponiert habe. Damals wie heute ist es für mich wichtig, beim Komponieren darüber nachzudenken, wer ich bin. Was ist meine Identität? Ich bin zwar kein repräsentativer Japaner, aber trotzdem Japaner, und werde oft gefragt, was der Hintergrund meiner Musik sei. Dann erkläre ich immer, dass die meisten Japaner traditionelle japanische Musik gar nicht in ihrer normalen Ausbildung kennenlernen, sondern dass sie ihnen völlig fremd ist, während ihnen Schubert, Mozart, Beethoven und Bach vertraut sind. Ich kenne die traditionelle japanische Musik relativ gut, weil ich mich später dafür interessiert habe. Aber ich bin nicht nach Deutschland gekommen, um die gute alte Schönheit Japans zu vermitteln. Lustig ist, dass mein Bach, Mozart oder Beethoven wahrscheinlich nichts mit dem zu tun hat, was Deutsche oder Österreicher mit Bach, Mozart oder Beethoven verbinden. Für mich ist es jedoch wichtig, dass ich meinen eigenen Bach, Mozart oder Schubert habe.

In seinem fünfsätzigen „Quid rides? II“ für Kammer­ensemble lässt Inamori das Pendel zwischen traditionell europäischen und japanischen Elementen satzweise hin und her schlagen. Während der Kopfsatz mehr zu Gaga­ku-Elementen tendiert, halten sich im zweiten beide Pole die Waage. Stilistisch eher asiatischer Musik verdanken sich starke Vibrati mit übergroßem Ambitus, hochenergetische Mehrklänge der Holzbläser, Glissando- und Guero-Effekte, extreme Dynamikwechsel sowie verschiedene perkussive und geräuschhafte Blas-, Atem-, Zungen-, Greif-, Schlag- und Zupftechniken. In der Harfe sind beispielsweise ab Takt 29 (siehe Notenbeispiel) verschiedene Cluster mit der Faust auf die Saiten zu schlagen. Hinzu kommen ungewöhnliche Vokalaktionen der Instrumentalisten, etwa tiefe Rachenlaute, nasales Singen und hohe Falsettklänge. Eher aus europäischer Barockmusik bekannt sind rhythmische Ostinatomodelle, Repetitionen, Dreiklangsbrechungen, Umspielungsfiguren, Skalenläufe und Tuttikkorde.

Durch kleinteilige Verzahnung und wechselseitige Überlagerung bleiben die europäischen und japanischen Elemente nicht sie selbst, sondern überformen und amalgamieren sich zu etwas Neuem, bei dem sich letztlich nicht mehr die Frage nach dem Eigenen und Fremden stellt. Stattdessen entsteht vielleicht genau das, was der koreanische Kulturphilosoph Byung-Chul Han in seinem Buch „Hyperkulturalität – Kultur und Globalisierung“ (2005) als eine aus verschiedenen Kulturen zusammengesetzte, hybride Überkultur beschrieben hat. Der damals gerade nach Deutschland übersiedelte japanische Komponist stellt in seinem Stück mit der Frage nach den eigenen hybriden Wurzeln zugleich die umfassendere Frage nach der Identität von Kulturen überhaupt, die sich seit jeher verschiedensten Einflüssen verdanken und nie homogen in Reinform existieren, weder in Japan noch in Deutschland noch irgendwo sonst. Daher gibt es strenggenommen immer nur Fremdmaterial. Denn dem Komponisten tritt letztlich sämtliches Material zunächst von außen als historisch, kulturell, sprachlich, alltagsweltlich oder wie auch immer vorhanden, geprägt und überliefert gegenüber, sodass seine primäre Aufgabe darin besteht, sich dieses längst mehr oder minder vorherbestimmte, expressiv geladene und abgegriffene Allerweltsmaterial durch individuelle Strukturierung, Gestaltung, Formung zu eigen zu machen, um es mit individuell eigenem Ausdruck neu zu laden: Zimmermanns „Ubu“ ist hierfür ein Paradebeispiel.

Als Komponist wollte ich meine verwirrenden Wurzeln akzeptieren, also dass ich Japaner bin, ohne die traditionelle japanische Musik gekannt zu haben, und nicht-authentische europäische Musik als Material genommen habe, zum Beispiel alte Musik, die ich mochte. „Quid rides? II“ habe ich so komponiert, dass die Gagaku-Musik „Somakusha-no-ha“ und das zehnte Concerto grosso von Corelli gleichzeitig ablaufen. Das hat relativ viel mit Zimmermann zu tun, oder?

Oxana Omelchuk: E- und U-Musik

Die von Zimmermann aufgeworfene Frage nach der Rolle des Komponierens inmitten der Allgegenwart von Musik unterschiedlichster Zeiten stellt sich der heute jungen und jüngsten Komponistengeneration drängender denn je. Durch Digitalisierung und Internet ist die Verfügbarkeit unterschiedlichster Musik nachgerade universal geworden. Zentrale Prinzipien von Zimmermanns Schaffen – vor allem das Arbeiten mit Zitaten, Collagen, Montagen und Bearbeitungen – sind bei jungen Komponisten heute weit verbreitet, allerdings zumeist unter anderen technischen Voraussetzungen und Bezeichnungen wie Sampling, Remake, Remix oder Mashup mit entsprechend anderen ästhetischen Ergebnissen. Beispiele hierfür finden sich auch im Schaffen von Oxana Omelchuk. 1975 in Weißrussland geboren, kam die Komponistin nach dem Studium in Minsk als DAAD-Stipendiatin 2002 an die Musikhochschule Köln. Hier studierte sie bis 2009 Komposition bei Johannes Fritsch und anschließend elektronische Musik bei Michael Beil. Da Fritsch seinerzeit selbst von 1961 bis 1965 an der Kölner Hochschule bei Zimmermann studiert hatte, gehört Omelchuk gewissermaßen zu dessen Enkelschülern.

Ich denke, dass ein Komponist, der seine Arbeit auf Wieder­entdecktem statt auf Erfundenem gründet, an Zimmermann Schaffen nicht vorbeikommt. Man kann diese Art zu denken oder diese kompositorische Methode in verschiedene Wörter kleiden: Musik über Musik, Musik mit Musik, historisch bewusstes Komponieren. Im Grunde geht es um die Arbeit mit schon existierendem Material. Ich mache das auch. In meinem Stück „Staahaadler Aff“ für Schlagzeug solo habe ich ausschließlich mit Salonmusik aus dem neunzehnten Jahrhundert gearbeitet, vorwiegend aus Russland und Deutschland. Die Idee dazu kam mir, als ich ein Video im Internet entdeckte, auf dem ein Musikautomat zu sehen und hören war, dessen Hauptfigur ein Mandoline spielender Affe war. Ich wollte den Schlagzeuger in diesen Affen verwandeln, der quasi sein Orchestrion bedient.

Noch während des Studiums bei Johannes Fritsch erhielt Oxana Omelchuk 2006 das Kölner Zimmermann-Stipendium. In „Staahaadler Aff“ für Drumset und Samplepad (2010) lässt sie den Soloperkussionisten wie einen Alleinunterhalter agieren, der zusätzlich zum Live-Spiel des Drumsets die unterschiedlichsten Klänge mittels Samplepads steuert. Ein einfacher Schlag auf ein solches Pad ruft mit spielerischer Leichtigkeit und Schnelligkeit gleichsam per Knopfdruck ganz verschiedene Samples ab: Geräusche, Klingeltöne, Spieluhren- und Instrumentalklänge, Gesang, Sprache (die Stimme von Harry Partch) und Unterhaltungsmusik. Ebenso funktioniert die 2012 erfolgte Erweiterung des Solostücks zum „Staahaadler Affenstall“ für Schlagzeug und Ensemble. Thema hier wie dort ist die Relativität der Kategorien Alt und Neu sowie die zunehmende Hinfälligkeit der traditionellen Unterscheidung zwischen Eigenkomposition und Fremdmaterial. Im Werkkommentar schreibt Omelchuk: „Musik erscheint uns oft als Transformation älterer Musik und nicht mehr als Medium individueller Artikulation, ,Ausdruck genialer Individualität, unterstützt von handwerklicher Eitelkompetenz‘ (Jean-François Lyotard).“ In der Partitur sind von oben nach unten solistische Bläser und Streicher notiert, von denen jeweils ein Spieler über ein Fußpedal weitere vorprogrammierte Samples abruft. Die restlichen Notensysteme der unteren Partiturhälfte definieren Aktionen des Schlagzeugsolisten auf drei Samplepads, diversen akustischen Schlaginstrumenten sowie einem Drumset.

Der Unterrichtsplan bei Johannes Fritsch war normalerweise so gestaltet, dass wir abwechselnd Werke entweder von Stockhausen oder Zimmermann analysiert haben, diesen zwei Antipoden, die für Fritsch unglaublich wichtig waren, obwohl er gesagt hat, die Größe Zimmermanns erst viel später verstanden zu haben. Normalerweise wurde ein ganzes Semester einem Werk gewidmet, was Bezüge zu anderen Komponisten nicht ausschloss, auch Ausflüge in die Philosophie oder die allgemeine Kunstgeschichte. Den Einzelunterricht hat Fritsch wie Zimmermann gestaltet, jedenfalls hat er das gesagt. Es wurden fast ausschließlich Werke von anderen Kom­ponisten gehört und besprochen, und es wurde sehr wenig in den Schaffensprozess eingegriffen. Oft hat Johannes Fritsch ein fertiges Stück nur still betrachtet und dann den Satz gesagt: Wir lassen das am Kompositionsabend spielen.“ Und erst nach dem Konzert wurden alle möglichen Diskussionen eröffnet, wurde hart kritisiert, aber auch ehrlich gelobt.

Von einer anderen, doch zugleich thematisch verwandten Seite zeigt sich Oxana Omelchuk in ihren 2014 komponierten „Gaunerliedern“ für gemischten Chor, die 2015 beim Festival Eclat vom SWR-Vokalensemble Stuttgart uraufgeführt wurden. Das Stück besteht aus freien Bearbeitungen russischer Gaunerlieder und überrascht im letzten Werkabschnitt mit wunderschön schwebenden Solostimmen über neotonalen Harmonien. Omelchuk sieht darin eine weitere Parallele zu Zimmermann.

Eine der wichtigsten Eigenschaften von Zimmermanns Mu­sik ist für mich die Gegenüberstellung und dadurch auch irgendwie die Gleichstellung von Merkmalen der sogenannten „hohen“ und „niederen“ Kunst, das ist für mich sehr wichtig. Die Grundlage für meine „Gaunerlieder“ ist nicht von feiner Natur. Wie der Name schon sagt, sind es Gaunerlieder, Lieder über schwere Jungs, leichte Mädchen, Drogen, Knast. Das Vokabular des Stücks wurde beim Komponieren aber um andere Materialien erweitert, die mit dem Inhalt des Projekts etwas zu tun haben, zum Beispiel mit Schuberts Winterreise“ und [Musik des US-amerikanischen Country-Musikers] Hank Williams. In letzter Zeit interessiert mich bloßes Zitieren weniger, vielmehr der Prozess der Amalgamierung oder Verschmelzung von verschiedenen Materialien, was im Endeffekt zu ganz neuen, manchmal sehr unerwarteten Gestalten führt.

Johannes Schöllhorn: Relationale Musik

Seit 2009 unterrichtete Johannes Schöllhorn instrumentale Komposition an der Kölner Musikhochschule, um 2017 einem Ruf nach Freiburg zu folgen. Seine langjährigen Erfahrungen mit Studierenden zeigen, dass Zimmermann für die meisten jungen Komponisten gegenwärtig nur eine untergeordnete oder gar keine Rolle spielt. Die ehemaligen Schöllhorn-Schüler und Zimmermann-Preisträger Inamori, Streich, Krüger und Seidl zeigen dagegen eine Affinität zu Zimmermann.

Man kann nicht gerade sagen, dass Zimmermann bei den jungen Komponisten ein Thema wäre. Man kann das nur anregen, wenn sie sich für eine bestimmte Thematik interessieren und man sie dann auf bestimmte Werke Zimmermanns hinweist. Das gelingt sehr gut mit der „Musique pour les soupers du Roi Ubu“, weil das ja auf gewisse Weise das radikalste Stück Zimmermanns ist: Es besteht tatsächlich nur aus Zitaten und ist dann auch noch in der Form einer Suite komponiert, die ja eine offene Form ist und alles Mögliche aneinanderreiht. Und diese Serien- oder Listenhaftigkeit spricht junge Komponisten an, denn man wird dabei – wenn man so sagen kann – nicht so sehr durch Form belästigt. Bei anderen Stücken gelingt das viel weniger oder gar nicht. Meine Motiva­tion, auf Zimmermann hinzuweisen, kommt fast ausschließlich von den Dingen, an denen die Studierenden gerade arbeiten. Ich mache ja nicht Reklame für Zimmermann, weil es um Zimmermann geht, sondern ich weise die Studierenden auf ihn hin, wenn ich denke, dass für die Frage, die sie sich gerade stellen, die Kenntnis oder Beschäftigung mit Zimmermann wichtig wäre. Es geht darum, dass die Studierenden sehen, da hat jemand schon mal so etwas Ähnliches gemacht. Oder sie sollen einfach wissen, dass sich da jemand auf eine ganz andere Weise mit etwas beschäftigt hat, wozu sie einen Abstand herstellen können, der sehr nützlich sein kann, um herauszufinden, wo sie selber mit ihren Stücken hinwollen.

Schöllhorns eigenes Œuvre enthält auffallend viele Stücke, die sich auf Musik anderer Komponisten, Epochen und Stilistiken beziehen. Auch hat er verschiedene Aspekte des Themas „Musik über Musik“ in Aufsätzen reflektiert. Beispielsweise instrumentierte er Pierre Boulez’ „Douze Notations“ für Kammerensemble sowie zahlreiche andere Werke, zum Beispiel von Landini, Gabrieli, Hauer, Satie, Schönberg, Schreker, und ebenso Lieder von Berlioz, Mahler, Schubert, Schumann, Berg und Janácek. Darüber hinaus schrieb er mehrere „in nomine“-Stücke, die sich auf den gleichnamigen cantus firmus beziehen sowie „Hommagen“ auf Maurice Ravel und Pierre Boulez. Eigene Zyklen bilden die „Anamorphoses – Neun Sätze nach der Kunst der Fuge von J. S. Bach“ für Ensemble, „sérigraphies“ für Kammerensemble auf fünf späte Klavierstücke von Gabriel Fauré und „va“ für Stimme und Orchester auf Melodien von Jules Massenet. Schließlich instrumentierte Schöllhorn Zimmermanns acht Klavierminiaturen „Konfigurationen“, aufgeführt beim Festival „Acht Brücken – Musik für Köln“ vom Ensemble Modern.

Wie in Schöllhorns einstiger Kölner und jetziger Freiburger Kompositionsklasse kommen auch an anderen deutschen und europäischen Musikhochschulen viele Studierende aus Korea, Japan, China oder Taiwan, also aus ganz anderen Kultur- und Religionskreisen. Dass jemand dort bereits mit Zimmermann in Berührung gekommen wäre, wie es bei Yasutaki Inamori der Fall war, ist eher die Ausnahme. Und auch unter europäischen Studierenden ist es selten, dass sie sich – wie Schöllhorn bemerkt – für die christlichen Bekenntniswerke des rheinischen Katholiken interessieren, wie es sich bei den ehemaligen Schöllhorn-Schülern Lisa Streich und Matthias Krüger beobachten lässt.

Es gibt hin und wieder – aber das ist selten geworden – Schüler, die sich sehr mit der Frage „Musik und Religion“ beschäftigen. Da spielt Zimmermann eine große Rolle, weil seine Musik fast ausschließlich in diesem Spannungsverhältnis entstanden ist. Da kann man manchen Komponisten helfen, nicht in dem Sinne, „mach’ das wie der Zimmermann“ oder „bau’ jetzt die Zimmermann-Nachfolge“, das meine ich nicht, sondern dass man nur bewusst macht, wie hat Zimmermann diese Fragestellung oder diese Pole in Verbindung gebracht, und wie könnte ich selbst als junger Komponist damit umgehen? Zimmermann schreckt natürlich manch jungen Komponisten genau aus diesem Grund ab, weil die meisten keine Verbindung zwischen Religion und Musik mehr sehen, und ihnen das schlicht fremd ist.

Matthias Krüger: Stilkontinuum

Bevor der 1987 geborene Matthias Krüger 2015 das Zimmermann-Stipendium erhielt, hatte er sich kaum für den Komponisten interessiert und auch keine einschlägigen Erfahrungen mit dessen Musik gemacht, nicht einmal im Unterricht bei Schöllhorn. Gezielt auf Zimmermann angesprochen, beobachtet er jedoch bei sich selbst und anderen Komponisten seiner Generation durchaus ein gewisses Nahverhältnis zu dessen antidoktrinärem Materialbegriff und nicht-linearem Geschichtsverständnis.

Wenn ich meine Überlegungen oder ästhetischen Ideen in Bezug zu Zimmermann setzen müsste, dann sehe ich gewisse Kontinuitäten im Sinne von gewissen zufälligen Ähnlichkeiten oder Affinitäten. In meiner Generation ist das Nicht-genau-einer-Schule-oder-Traditionslinie-sich-zuordnen-lassen-Wollen sehr viel ausgeprägter, als es vielleicht davor in der Post-Boulez-Stockhausen-Generation war, wo viel mehr die Frage gestellt wurde, machen wir einen Bruch oder machen wir keinen, und wenn wir einen Bruch machen, wie machen wir ihn, und wenn wir ihn nicht machen, in welcher Form machen wir ihn nicht? Sich individuell von verschiedenen Richtungen inspirieren zu lassen, ist dagegen bei vielen meiner Kollegen und auch bei mir der Fall. Es gibt gegenwärtig niemanden, der sagt, ich muss mich mit Lachenmann auseinandersetzen, oder für mich gibt es eine Linie von Mahler über Lachenmann zu dem, was ich für Musik schreiben will. Das ist heute viel offener in der Art einer Unhistorizität oder Ahistorizität, was bei Zimmermann noch nicht so war. Wenn ich das richtig verstanden habe, hat sich Zimmermann ja viel mit der Geschichte beschäftigt, aber statt auf lineare Weise eher auf eine multiperspektivische.

Krüger nutzte für sein 2015 komponiertes Duo „nun schauervoll einmalig blickt es mich an“ für Viola und Akkordeon eine Arpeggiofigur der berühmten Chaconne aus Johann Sebastian Bachs d-Moll-Partita für Violine ­solo. Neben der Tonart bezog er sich dabei auch auf die Performativität und motorische Art der Bogenbewegung, die beim Greifen in hoher Lage auf der einen Saite durch Alternieren mit den Nachbarsaiten ex­trem weite und rasche Lagenwechsel ermöglicht, so dass eine imaginäre Zweistimmigkeit resultiert. Zu Anfang stehen schnell repetierte Wechsel zwischen dritter, zweiter und erster Saite. Modifiziert wird das Arpeggiomodell durch dynamische Veränderungen sowie Verlagerungen der Anstrichstelle auf den Steg und zurück zur Ordinario-Position. Hinzu kommen bald auch rhythmische Abwandlungen infolge von Auf- und Abstrichwechseln sowie metrische Irregularitäten durch Verlängerung des Arpeggiomodells um zwei Töne, etwa am Ende der Takte 6, 7 und 8 sowie am Beginn von Takt 8. Bei aller Dominanz und Kontinuität des Wiederholungsprinzips birgt das Stück auf diese Weise bereits von Anfang an einen Keim zur Mutation in sich, der schließlich während einer Viertelstunde sämtliche Parameter erfasst und zu großer Varianz und Virtuosität führt. Immerhin besteht auch Bachs Chaconne aus nicht weniger denn zweiunddreißig Variationen über eine viertaktige, wiederkehrende Bassfigur. In Umkehrung zur Viola lässt Krüger das Akkordeon mit Luftgeräuschen beginnen und dann sukzessive immer mehr tonale Figuren und Akkorde spielen, die indes wie im Bratschenpart keine bestimmte Tonart implizieren.

Das Stück fängt mit d-Moll-Arpeggien an. Ich wollte das aber weder als Kollision noch als eine andere Welt erfahrbar machen. Ich wollte es auch nicht kaschieren, sondern eine ganz eigene Klangsprache entwickeln, in der d-Moll und das Arpeggio genauso zu Hause sind wie alle anderen Dinge, die ich später verwende: Dissonanzen, Kratzgeräusche, Multiphonics, Glissandi und perkussive Sounds. Ich wollte all das als Kontinuum derselben Welt darstellen und dabei weder etwas Polystilistisches noch Collagehaftes oder Anekdotisches machen, sondern es kondensieren und das Kondensat zu einer Obsession machen, um diese Obsession durch den Fleischwolf zu drehen und zu gucken, was dabei herauskommt.

Krügers Titel ist ein Zitat aus dem Buch „Zwiesprache – Traktat vom dialogischen Leben“ (1932) des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber, der damit für die Achtsamkeit des Menschen gegenüber jedem für sich ­genommen einmaligen Lebensmoment plädieren wollte. Krüger schätzt an Bubers Schriften die Art, unreligiös über Glauben zu sprechen, indem Theologie hier vor allem eine Theologie des Lebens ist, die auch den Nichtgläubigen anspricht. Seiner Partitur stellte Krüger einige Absätze aus Bubers Schrift voran. Darin finden sich auch Parallelen zur Präsenzästhetik Zimmermanns, der wie Buber ebenfalls zwischen chronometrisch messbarer kosmischer Zeit und subjektiver Erlebniszeit unterschied. Einer der zitierten Sätze Bubers lautet: „Das raumzeitliche Weltkontinuum in Ehren – lebensmäßig kenne ich nur das Weltkonkretum, das mir jeweils, in jedem Augenblick zugereicht wird.“

Lisa Streich: Spiritualität

Im Gegensatz zu Matthias Krüger, der sich als nicht-religiös bezeichnet, ist Lisa Streich bekennende Christin. Die 1985 geborene Schwedin studierte Komposition und Orgel in Berlin, Stockholm, Salzburg, Paris und Köln und erhielt 2014 das Zim­mer­mann-Stipen­dium. Lisa Streich sieht ihr Verhältnis zum Komponisten und Katholiken Zimmermann sowohl musikalisch als auch geistig. Immerhin gibt es von ihr einige Werke, die sich teils offensichtlich durch Titel und Texte, teils eher verborgen und mehrdeutig in Besetzung, Form, Struktur oder Material als christliche Bekenntniswerke verstehen lassen.

Bernd Alois Zimmermann bedeutet für mich eine Art Orakel, das man immer befragen kann. Als ich in Salzburg bei Adriana Hölszky studierte, hatte ich im zweiten Jahr sehr viele Fragen: Wie mache ich dies und das, wie schaffe ich es, dass dies und das herauskommt? Und auf meine Fragen hin ging Adriana dann immer zu ihrer großen Tasche, die auf dem Stuhl lag, holte „Die Soldaten“ heraus, und sagte: „Schau hier, guck hier, schau her!“ In dem Sinne ist Bernd Alois Zimmermann schon etwas ganz Besonderes und mir Nahes und wird es auch immer bleiben.

Streichs „Grata“ für Violoncello und Ensemble von 2011 zeichnet sich durch eine besonders sakral konnotierte Besetzung aus. Vorne neben dem Dirigenten sitzt das Solocello, das wie in einigen Werken von Sofia Gubai­dulina symbolisch für die einsame Vox humana steht, namentlich für den Menschensohn Jesus Christus: Ecce homo! Tatsächlich ist die Partitur mit dem Vers „Domini fili unigente“ aus dem „Gloria“ des lateinischen Mess­ordinariums überschrieben, wo Jesus Christus als Herr und eingeborener Sohn Gottes gefeiert wird. Im Rücken des Solocellisten sitzen vier Streicher und ein Spieler am Orgelpositiv. Dahinter bilden fünf Posaunen von der Alt- bis zur Kontrabassposaune einen zweiten Halbkreis. Die biblische Instrumentenfamilie wird schließlich an den Außenseiten von zwei Harfen flankiert, deren goldene Schwingen sich links und rechts auf der Bühne wie die schirmenden Fittiche von Seraphin und Cherubin um das Ensemble legen. Im Cellopart finden sich weitere Verse aus dem Gloria: Christus starb als Lamm Gottes am Kreuz, um die Sünde der Welt zu tragen. Analog dazu wird die in vorsichtigen ppp-Suchbewegungen durch alle Register sich vorantastende Solokantilene des Violoncellos im­mer wieder brutal von apokalyptischen Fortissimo-Schlägen der Posaunen und Streicher sowie Orgelclustern durchzuckt.

Bei „Grata“ ist offensichtlich, dass es sich um ein christlich-spirituelles Werk handelt. In der Regel bin ich jedoch nicht ganz so offen damit, hoffe ich. Wenn man zum Beispiel an „Asche“ [für Klarinette und Violoncello, 2012] denkt, dann deutet das nicht mit dem Zeigefinger auf die Fastenzeit, sondern kann auch ein anderes Wort für Geld sein oder einfach die physische Substanz. Ich glaube, Bernd Alois Zimmermann hat den christlichen Ursprung in einigen seiner Werke direkter preisgegeben. Ich versuche, das offener zu halten, weil ich denke, man kann dadurch einem Zuhörer auch Türen verschließen, und die Musik soll ja für jeden sein. Ich versuche, das mehr im Verborgenen zu halten. Aber es ist für mich natürlich interessant, zu sehen, wie andere Komponisten mit einem so persönlichen Sujet umgehen, ohne unangenehm zu werden. Oder waren sie zu deutlich in dem, was sie wollten? Da gibt es eine große, gefährliche Spannbreite in solchen Dingen. Wie hat Zimmermann das gemacht, und wie möchte ich mich davon vielleicht distanzieren?

Niklas Seidl: Reste oder Reliquien?

Niklas Seidl, Jahrgang 1983, studierte Komposition, Violoncello und Barockcello in Leipzig und Wien sowie Komposition in Köln bei Johannes Schöllhorn. Das Zimmermann-Stipendium erhielt er 2012. Im Rahmen seines gemeinsam mit Paul Hübner geschaffenen Zyklus „Entertainment“ bringt er unterschiedlichste Ton- und Videofundstücke aus Musikgeschichte, Internet und Alltag mehr oder minder unvermittelt zusammen. Unter dem Titel „The Arnold Entertainment“ (2014) geht es vorgeblich um Arnold Schönbergs „Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“. Das Video zeigt dazu Fotos und Partituren von Schönberg sowie surreal aneinander montierte Ausschnitte aus Kino­filmen, Showbusiness, Nachrichtensendungen, Reklame, Pornos, Computerspielen, YouTube-Videos, Alltagsszenen. Kombiniert werden die Bilder mit Musik und Sprachaufnahmen von Schönberg sowie völlig anderen, wahlweise assoziativ passenden oder unpassenden Musikstücken, Geräuschen, Schlagern, Soundtracks oder Computergeklingel. Ebenso verfahren Seidl und Hübner in anderen „Entertainments“, die sie Peter Eötvös und György Ligeti widmeten.

Die Verfügbarkeit von Musik hat im gegenwärtigen Digital- und Internetzeitalter andere Quantitäten und Qualitäten als noch zu Zimmermanns Zeiten. Insofern sehen sich junge Komponisten heute auch vor andere technische Möglichkeiten und Aufgaben gestellt. Als historischer Bezugspunkt käme für sie daher vielleicht eher John Cage in Frage, der viel radikaler als Zimmermann – auch unter Preisgabe des traditionellen Werkbegriffs – die Gleichwertigkeit von Klängen unterschiedlichster Herkunft realisierte, zum Beispiel schon 1952 in „Williams Mix“ für vier Tonbandgeräte und acht Lautsprecher. Cage versammelte in dieser Tonbandkomposition rund sechshundert Klänge aus sechs verschiedenen Kategorien: Stadt-, Landund Windklänge (auch mit Atem hervorgebrachten Gesang), elektronische und handgemachte Klänge (auch mit Musikinstrumenten erzeugte) und sogenannte „small sounds“ (besonders leise Klänge, die der Verstärkung bedürfen, um überhaupt gehört zu werden). Dass Zimmermanns Pluralismus gar nicht so besonders vielstimmig ist, merkt auch Schöllhorn an:

Die hochgepriesene Pluristilistik bei Zimmermann ist gar nicht so „pluri“ wie sie tut. Denn eigentlich speist sich der musikalische Fundus, den Zimmermann versammelt und zu seiner „Kugelgestalt der Zeit“ zusammenfasst, aus nicht gerade vielen Quellen. Das beginnt bei Bach, geht über Mozart, sehr oft Debussy, ein bisschen Jazz ist auch dabei. Das ist im Prinzip ein sehr abendländischer und nur durch den Jazz auch ein bisschen amerikanischer Fundus. Wenn man die Dinge aus heutiger Perspektive betrachtet, ist das nicht besonders vielgestaltig. Es ist kein Koreaner dabei, keine afrikanische Trommelmusik, kein Gamelan. Es gibt gar keine anderen Kulturen, sondern es ist immer der gleiche westeuropäische Kulturkreis, denn Schostakowitsch kommt auch nicht vor. Und alles entspringt entweder der sogenannten absoluten, also klassischen Musik, oder der religiösen Musik, was den Jazz einschließt, da ja viele Jazz-Zitate aus dem religiösen Kontext kommen, bis hin zu einigen Titeln seiner Stücke. Zimmermann hat auch immer versucht, den Werkbegriff zu retten. Er erweiterte das Werk sozusagen zu einem pluristilistischen Kosmos, aber letztlich bliebt der alte, runde Kosmos erhalten, das Werk als abgeschlossenes Ganzes. Und das ist genau das, was viele junge Komponisten gegenwärtig überhaupt nicht wollen, die alles tun, um das, was an Kosmos erinnern könnte, zu zertrümmern. Da stoßen Weltbilder aufeinander.

Programmatisch für Niklas Seidl ist sein ebenso provokanter wie bekenntnishafter Werktitel „ich mag müll“ für Pikkoloflöte und vier Pappkartons (2012), der das Lied von Oskar aus der Mülltonne der Fernsehserie „Sesamstraße“ zitiert. Die erweiterte Version „ich mag müll (Bunny Set)“ kombiniert die Flöte und acht unterschiedlich große Pappkartons (vier verschieden große Umzugskartons und vier verschieden große Pappschachteln) mit Carillon und Orgel, als handele es sich dabei um das Zubehör für ein Karnickel beziehungsweise um Accessoires für ein Playboy-Bunny (Häschen-Ohren-Aufsatz, Fliege und Mieder). Jeder der vier Kartonisten bespielt mit Drumsticks zwei Kartons, vom ersten Spieler mit den zwei kleinsten Kartons absteigend bis zum vierten Spieler mit den beiden größten. Während die vier Spieler teils marschmäßige Rhythmen auf die Kartons trommeln, spielt der Flötist zumeist in schnellem Tempo (punktierte Halbe = 60 beziehungsweise Viertel = 180 MM) typische Floskeln und Versatzstücke aus Spielmanns- und Fanfarenzügen, wie sie unter anderem in Blaskapellen beim rheinischen Straßenkarneval vorkommen. Virtuose Läufe, pfeifende Spitzentöne, zersprengte Melodiefetzen, mithin Fundstücke aus dem Kulturmüll, stolpern kunterbunt ineinander. Nichts passt zusammen und wird dennoch zusammengezwungen. Stellenweise spielen auch Orgel beziehungsweise Carillon parallel zur hektischen Melodielinie, so dass sich deren ohnehin bereits unscharfe Konturen zusätzlich verwischen.

Trotz heute veränderter Medienwelt ist Zimmermann für Niklas Seidl ein Vorbild, nicht zuletzt, weil er Kunstmusik mit verschiedenen Formen von Jazz, Unterhaltungs- und Gebrauchsmusik für Hörspiel, Tanz, Theater und Film zusammengebracht hat. Schließlich untergräbt auch Seidl nicht nur die Grenzziehung zwischen E- und U-Musik, sondern mit seiner Zuwendung zu den von der Gesellschaft aussortierten Abfällen auch die brüchig gewordenen Grenzen zwischen Kultur und Kulturmüll, Kunst und Alltag. Statt auf klassische Meisterwerke bezieht er sich – wie etliche seiner Generation – demonstrativ auf Ramsch, Kitsch, Schrott, Trash. Wie in anderen Stücken führt er sein Publikum damit schonungslos in Gefilde jenseits dessen, was selbst unerschrockene Hörer avancierter Kunstmusik noch als „guten Geschmack“ oder als Demarkationslinien „das geht nicht!“, „das kann man nicht machen“ verinnerlicht haben. Seidl löckt damit gegen zwangsläufig sich einschleichende Gemütlichkeiten der sich selbst als ungemütlich, kritisch, widerständig und stachlig verstehenden neuen Musik, die für Insider indes leicht selber zur „Komfortzone“ tendiert.

Zimmermann ist für mich schon lange ein wichtiger Komponist, weil man bei ihm sehr gut sehen kann, wie er in verschiedenen Medien gearbeitet hat, also in der Hörspielmusik genauso zu Hause war wie in Filmmusik und Konzertmusik. Auch ist er nie Opfer irgendwelcher Trends geworden, sondern hat wirklich sein Ding durchgezogen und dadurch auch viel von seiner Karriere geopfert. Trotzdem hat er wahnsinnig genau gearbeitet. Er war kein Komponist, der einfach nur pluralistisch alles zusammengewürfelt hat, sondern er hat auch sehr progressive neue Musik geschrieben und gleichzeitig Film- oder Hörspielmusiken. Das ist für mich ein großes Vorbild. Zimmermann ist für mich heute immer noch ein sehr wichtiger Komponist, obwohl vielleicht seine Idee von der „Kugelgestalt der Zeit“ inzwischen durch die Samplingkultur und Internetkultur erweitert wurde, und es vielleicht auch interessantere Beispiele gibt, um solche Ideen umzusetzen. Aber ich glaube, dass er als Komponist einfach sehr gut war, und dass seine Stücke – beispielsweise „Intercomunicazione“ für Cello und Klavier – radikal und avantgardistisch gedacht waren, auch heute noch radikal sind und sowohl für Spieler wie Hörer eine große Herausforderung bedeuten.

Zimmermanns Aktualität?

Die universale Verfügbarkeit von Musik unterschiedlichster Herkunft ist heute aktueller denn je. Zimmermanns Pluralismus der Material-, Zeit- und Zitatschichten bis hin zu den Simultanszenen, Film- und Tonbandzuspielungen seiner Oper „Die Soldaten“ werden daher von der gegenwärtig jungen Komponistengeneration noch am ehesten rezipiert. Auch Zimmermanns Überschreitungen von Genregrenzen und sein Einsatz von Medien spielen weiterhin eine Rolle. Heute wie damals verwendet werden Texte, Filme, Tänzer, Elektronik, Licht, Szene, Requisiten sowie verschiedenste Klangmaterialien. Die in den letzten Jahren unter Stichworten wie „Neuer Konzeptualismus“, „Diesseitigkeit“, „Welthaltigkeit“, „Ge­­­haltsästhetik“, „Social Composing“ oder „New Discipline“ firmierenden Bemühungen der jüngeren Komponistengeneration um Interdisziplinarität und Multimedialität werden jedoch nur in den seltensten Fällen – die an dieser Stelle besprochenen Komponistinnen und Komponisten sind Ausnahmen – mit dem intermedialen Erbe von Zimmermanns Schaffen verbunden, son­dern wenn überhaupt dann eher mit Cage, Kagel, Aperghis, Tsangaris, Dadaismus, Happening und Fluxus.

In der jüngeren Komponistengeneration sind Zimmermanns Experimente der Dehnung oder gar Aufhebung von Zeit kaum oder gar nicht bekannt. Ebenso wenig eine Rolle spielen die strenge Konstruktivität des seriell arbeitenden Komponisten, sein satirisches Naturell und politisches Engagement sowie seine ungewöhnlichen Besetzungen von Sinfonieorchestern fast ohne Streicher wie in der „Musique pour les soupers du Roi Ubu“ oder in „Stille und Umkehr“. Wenig Beachtung bei jungen Komponisten finden gegenwärtig auch seine hybriden Werke, die keinem bestimmten Form- oder Gattungsmodell folgen, wie das zwischen Totenmesse, Oratorium, Hör­spiel, Konzertstück und – so Zimmermanns eigene Bezeichnung – „Lingual“ changierende „Requiem für einen jungen Dichter“ oder das zwischen Konzertstück, Monodram, Kantate, Happening und – so die eigene Charakterisierung – „Ekklesiastischer Aktion“ schwankende letzte vollendete Werk „Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne“.

Hundert Jahre nach Zimmermanns Geburt und fast fünfzig Jahre nach seinem Freitod gibt es in seinem Denken in und über Musik noch – und vor allem wieder! – viel zu entdecken. Seine in Theorie und Praxis unter Beweis gestellte Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft könnte gerade heute mehr denn je dem allgemeinen Trend zu Geschichtsvergessenheit und Gegenwartsbesessenheit entgegenwirken. Und vielleicht erlangt sein vielgestaltiges Schaffen dereinst tatsächlich wieder Aktualität bei jüngeren Komponistinnen und Komponisten. Heitere Zuversicht verbreitet diesbezüglich jedenfalls Johannes Schöllhorn.

Es ist das Vorrecht der Jüngeren, nichts über Bernd Alois Zimmermann zu wissen, aber den Zimmermann-Preis zu bekommen. Doch als Langzeiteffekt fangen sie dann an, sich damit zu beschäftigen, nicht nur wegen des Preises, sondern weil Zimmermann ein Komponist ist, der nicht sofort alle euphorisch macht, aber auf eine stille und fast hartnäckige Weise da ist. Und wenn die Komponisten dann vielleicht vierzig sind oder fünfundvierzig, dann beschäftigen sie sich tatsächlich mit ihm. Solche Dinge passieren! – Ich glaube nicht, dass es ein Zufall ist, wenn jemand den Zimmermann-Preis bekommt, selbst wenn er oder sie die Musik von Zimmermann nicht kennt. Denn irgendwo schwirrt Zimmermanns Geist durch die Luft und sagt: „Der oder die würde mir gefallen!“

1 Die Äußerungen von Yasutaki Inamori stammen aus einem Gespräch mit dem Komponisten vom November 2017.
Alle weiteren Zitate anderer Komponisten stammen aus Gesprächen oder Emails vom August bis Oktober 2015.