MusikTexte 159 – November 2018, 83–84

Auf- und Abziehbildchen

Projektionen bei den Donaueschinger Musiktagen

von Rainer Nonnenmann

An die Stelle selbstverliebter Weltvergessenheit neuer Musik sind inzwischen vielfach Ansprüche auf obsessive Weltversessenheit getreten. Der Paradigmenwechsel speist sich aus dem Bedürfnis von Künstlerinnen und Künstlern, auf aktuelle gesellschaftliche und technologische Entwicklungen reagieren zu wollen. Doch zugleich ist es nur ein scheinbarer Vorzeichenwechsel, weil er erkauft ist durch verengende Negativbilder einer hartnäckig reproduzierten Unkenntnis der Ansätze engagierten Komponierens, die schon früher Material, Medien, Musikbegriff und Wahrnehmung zu revolutionieren versuchten. Bereits 1968 benannte etwa Herbert Marcuse im Hinblick auf die gesellschaftskritischen Implikationen der historischen Avantgarden sowie der damaligen Studentenproteste und Entwicklungen von Kunst, Literatur, Theater, Musik und Popkulturen ein bis heute zentrales Motiv neuer Musik: „Die Revolution muß eine Revolution der Wahrnehmung sein.“

Auch fünfzig Jahre später ging es bei den diesjährigen Donaueschinger Musiktagen in einigen Stücken um akute Themen: Medien, Automatisierung, Flüchtlinge, Prekariat, Kulturwandel. Anstelle von fundierten Lectures und Essays, die während der letzten Festivals systemisch bedingte Betriebsblindheiten der neuen Musik belichten sollten, kokettierten im Programmheft diesmal nur kleine Comics mit Abstrusitäten der Szene: Anmaßende Großkritiker geifern wutschnaubend ihre Weltsicht heraus; beflissene Seminaristen strunzen mit entleertem Wissen; eingefleischte Fans tragen immer noch schwarze Rollkragenpullis oder liebäugeln für ihren Nachwuchs mit klingenden Namen wie Alban, Arnold, Karlheinz, Hans Werner oder Luigi Prantelhuber; und selbstredend bekommt der Jazzhasser und negativ-dialektische Oberbesserwisser Teddy Adorno gehörig sein Fett ab. Das ist ein bisschen nett, auch ein wenig fies, aber kaum wirklich witzig und originell. In erster Linie ist es läppisch und ein Armutszeugnis für die Donaueschinger Musiktage. Denn zum totlachende Zerrbilder auf den Tod der neuen Musik entlarven nur die Schwäche derjenigen, die solche Klischees benötigen, um selber originell zu scheinen.

Dass die Auseinandersetzung mit Digitalisierung, Robotik, Virtualität und Künstlicher Intelligenz nicht der jungen und jüngsten Generation vorbehalten ist, belegte eindrücklich der mit dreiundsiebzig Jahren älteste Komponist des Festivals. Die deutsche Erstaufführung von Georges Aperghis’ Musiktheaterwerk „Thinking Things“ präsentierte ein technisches Versuchslabor mit humanoiden Umrissen, als sei die Apparatur identisch mit dem von ihr gezeugten maschinenhaften Frankenstein-Monster. Darin eingesperrt werden vier Akteure wie Versuchskaninchen gefilmt, mikrophoniert, projiziert und gerahmt von Roboter-Armen und -Beinen sowie überragt vom beweglichen Kopf eines Sprachcomputers. In Fortsetzung von „Luna Park“ (2011), wo sämtliche zwischenmenschlichen Kontakte ausschließlich medial vermittelt wurden, demonstriert Aperghis mit Hilfe seines langjährigen Interpreten- und Regieteams erneut eine szenische Dystopie, bei der Computer, Prothetik, Robotik, Reproduktions- und Kommunikationstechnik totalitär an die Stelle von menschlichem Sehen, Hören, Sprechen, Denken, Handeln treten. Der Dissoziation und Hybridisierung von Körper, Sinne, Geist korrespondieren mechanisch wiederholte Motorik und aus mehreren Sprachen zusammengesetzte Artikulationsfolgen. Die Lebenden vollziehen eine Anamorphose an tote Materie: Homo sapiens mutiert zum Homo cyborgensis.

Mit geringeren technischen und finanziellen Mitteln hatte Brigitta Muntendorf bei ihrem „Ballett für Eleven“ zu haushalten. Ausgerechnet die exponierte Vertreterin der „Digital Natives“ verwendete daher primär analoge Kostüme und Masken. Die Musiker des Ensemble Modern erscheinen mit verbundenen Augen unter klamottigen Silberhaar-Perücken sowie in vorproduzierten Videos, bei denen ihnen auf die geschlossenen Augen und Münder gemalte Bilder ganz anders gearteter Augen und Münder geklebt wurden. Statt selber sehen und hören zu können, werden sie folglich nur gesehen und gehört. Auf diese Weise wird der menschliche Körper als Projektionsfläche thematisiert. Hinzu kommen Videoflächen im Umriss der siebenhundert Kilometer donauabwärts gefundenen prähistorischen Venus von Willendorf. Die Videos zeigen vor allem die Musiker selbst, mit oder ohne Instrumente und Motorradhelme. Übertragen oder beim Betrachter geweckt werden dabei jedoch keinerlei Wünsche, Ängste, Gedanken, Phantasien oder Ideologien, die ja doch überhaupt erst Auslöser für Projektionen sind. Wie die gesamte Konzeption – Wirkung ohne Ursache – schienen auch Klang-, Raum- und Zeitgestaltung unausgereift.

Ein Höhepunkt des Festivals war Enno Poppes „Rundfunk“ für neun Synthesizer, obwohl oder gerade weil das Stück ohne gesellschaftspolitisches Narrativ auskommt. Die erstmals bereits für die Musiktage 2015 angedachte Komposition lässt neun Keyboarder verschiedene Max/MSP-Patches mit unterschiedlichen „Or­­gel“-Sounds und Stimmungen abrufen. Zu Beginn werden – wie oft bei Poppe – einzelne Töne stur wiederholt und erst nach und nach durch fraktale Verzweigungsprozesse variiert, erweitert und so verkettet, dass sich die mechanischen Repetitionen zu immer dichteren Texturen überlagern. So entstehen verschiedene Gestaltbildungen, kleine Melodien, virtuose Heterophonien, hochenergetische Interferen­zen, rauschhafte Klangbänder. In mehreren Anläufen treiben die sterilen Morsesignale sukzessive all jene Farben und idiomatischen Verwendungsmöglichkeiten hervor, die dem Multiinstrument Synthesizer ebenso eigen sind wie der Vielstimmigkeit des titelgebenden Rundfunks: spektrales Leuchten, sakrales Orgeln, wildes Flippern, jahrmarkthaftes Tingeltangel, schmieriges Alleinunterhalter-Gedudel, machtvolle Drones, wummernde Pulsatio­nen und harmonische Psychedelic-Rock-Sphärenflüge durch interstellare Nebel. Die Allusionen erscheinen zwar nur flüchtig, entfalten aber momentan stets packende Prägnanz und Intensität. Poppe schrieb „Rundfunk“ für sein vor zwanzig Jahren gegründetes Ensemble Mosaik, dessen Mitglieder nun allesamt fachfremd als Keyboarder agieren, ausgenommen der im Zentrum mit besonders anspruchsvoller Partie hervortretende Pianist Ernst Sur­berg. Die kybernetischen Vorgänge sind ebenso faszinierend wie über die Dauer von fast einer Stunde quälend. Rein radiophon wiedergegeben dürfte diese elektronische Musik kaum ohne Kopfschmerzen zu ertragen sein. Live performt und gesehen lässt sich indes erleben, wie jeder Spieler entweder nüchtern-distanziert als kleines Rädchen im komplexen Getriebe funktioniert oder die rhythmisch-klanglichen Emanationen – allen voran der Komponist-Dirigent selbst – mit ganzem Körper erfasst und gestisch mitgestaltet.

Bereits für 2016 angekündigt, doch erst jetzt uraufgeführt wurde Marco Stroppas „Come Play With Me“. Das Konzert für Solo-Elektronik und Orchester plaziert links neben dem Dirigenten ein senkrecht aufragendes Stahlgerüst mit acht perspektivisch anders gerichteten Lautsprechern. Ein Schelm, wer darin eine phallische Vergötzung der IRCAM-Technologie sieht. Die Elektronik konzertiert aufs engste mit dem von Pascal Rophé geleiteten SWR Symphonieorchester. Sie bildet mit den Stimmführern der Streicher ein Quartett, duettiert mit dem seinerseits sinustonartig klingenden Akkordeon, gesellt sich zu Naturtonketten der Hörner, singt mit vokalartigen Klangfarben und reagiert auf Intervallkaskaden des Tuttis mit ebenso auf- und abkletternden Splitterklängen. Indem sich die polyglotten Sounds chamäleonartig mit jeder orchestralen Spielweise und Farbe mischen, verfehlen sie ausgerechnet ihre spezifisch eigenen Möglichkeiten von flexibler Spatialisierung und Klangfarbenfülle jenseits des traditionellen Instrumentariums. Origineller wirkten die leuchtenden Klanglandschaften von Klaus Langs arkadisch flirrendem „parthenon“ sowie Francesco Filideis „Ballata N. 7“. Dekonstruierte Tanzmusik dringt hier in Gestalt rhythmischer Pulsationen und Ostinati immer wieder durch, um gegen Ende in eine surreale Übersteigerung des pastoralen Schönklangs der Kuhglocken-Episoden von Mahlers sechster Sinfonie zu münden, die analog zu den dortigen Hammerschlägen schließlich von Tutti-Akzenten und Pistolenschuss brutal abgeschnitten wird. Kollisionen von feinstem Hauchen und schreienden Panikattacken bestimmten auch Mirela Ivičevic´s klangsinnliches Donaueschingen-Debüt „White Case“.

Mit alternativen Musizierweisen experimentierte Koka Nikoladze. Der junge georgische Komponist gab vom verkabelten Dirigentenpult aus dem Klangforum Wien Anweisungen, auf deren Grundlage die Musiker dann als Tutti oder Solisten die auf den Tag der Uraufführung betitelte Improvisation „21.10.18“ gestalteten. Je nach Fähigkeit und Spielfreude der Instrumentalisten entstanden unterschiedliche Grade an Energetik, Spontaneität, Präsenz. Eduardo Moguillansky hatte für „Resilienztraining“ Sinustöne auf Schallplatten gepresst, um sie von vier Turntablisten scratchen und zu Interferenzen und Differenztönen überlagern zu lassen. Abgesehen vom Knacken und minimalen performativen Mehrwert der auf- und abgesetzten Saphire war jedoch nicht einzusehen, warum dieselben altbekannten akustischen Phänomene nicht viel einfacher von Sinusgeneratoren erzeugt wurden. Das norwegische Cikada Ensemble gastierte mit Agatha Zubels „Chamber Piano Concerto“, bei dem die Solistin Ing­frid Breie Nyhus zwei über Eck gestellte Flügel zu bespielen hatte. Und Rolf Wallin beendete seine Bearbeitung früherer Soloklavierstücke „Seven Disobediences“, indem er alle Musiker samt Dirigent Christian Eggen den schwarzen Fetisch Klavier wie bei einem kollektiven Ritual behutsam umkreisen, streicheln, betasten und beklopfen ließ.

Durch eigene Klanglichkeit zeichnete sich Malin Bångs Orchesterstück „splinters of ebullient rebellion“ aus, das den diesjährigen Preis des SWR-Orchesters erhielt. Die 1974 geborene Schwedin lässt im Rücken des Publikums zwei getippte Schreibmaschinen – „ultimative symbolische Darstellung des hingebungsvollen Schreibens sorgfältig reflektierter Texte“ – langsam nach vorne ins Orchester wandern, damit auch dieses vom „leisen Kampf gegen aktuelle Unterdrückung“ infiziert werde. Tatsächlich dürfen die Musiker Textfragmente sprechen, Lieder von Freiheit und Demokratie summen, und in ähnlicher Weise mit den Fingern auf dem Korpus ihrer Instrumente tippen. Dass dabei das Verhältnis zwischen Soli und Tutti den spezifischen Kommunikations- und Informationsmechanismen sozialer Medien entsprechen soll, statt einfach der seit Jahrhunderten gebräuchlichen Praxis des Konzertierens, entnimmt der erstaunte Leser erst dem Werkkommentar.

Direkte Einlassungen auf aktuelle Zeitfragen riskierten auch zwei Werke von Isabel Mundry. „Mouhanad“ basiert auf der Erzählung eines gleichnamigen syrischen Flüchtlings. Das transkribierte Interview wird vom SWR Vokalensemble unter Leitung von Florian Helgath chorisch gesprochen und immer wieder von losgelösten Konsonanten und Phonemen unterbrochen, die kompositorisch kaum mehr leisten als den Erzählfluss zu hemmen. Ein Pendant zu diesem chorischen Monolog ist Mundrys „Hey“ über die Aufnahme eines zufällig mitgeschnittenen Dialogs, in den ein Anwohner den achtzehnjährigen deutsch-iranischen Schü­ler verstrickte, der wenige Minuten zuvor beim Münchner Amoklauf 2016 neun Menschen mit Mi­grations­hinter­grund ermordet hatte: Ein fürwahr bizarres Tondokument verpackt in die harmlose Ummantelung von Ensemble Modern und Neue Vocalsolisten Stuttgart.

Sämtliche Konzerte dieser Musiktage folgten dem konventionellen Dispositiv: Musik auf der Bühne, Publikum im Saal. Dass dieses Standardformat selbst in Donaueschingen derart verabsolutiert wird, statt zumindest vereinzelt alternative Präsentationsweisen auszuprobieren, sollte nicht sein. Und der einzige Versuch, das SWR Symphonieorchester anders zu disponieren, führte bei Benedict Masons „Ricochet“ nur zu einer kümmerlichen Wiederholung dessen, was der britische Komponist hier und andernorts schon zu­vor gemacht hatte. Zwischen die Klänge der im Saal plazierten Musiker mischten sich außerhalb der Baar-Sporthalle spielende Fernorchester. Durch geöffnete Türen drang zartes Streichergewirr, und geschlossene Pforten verzwergten selbst kraftvolles Schmettern der Horngruppe zu dünnem Fisteln. Das Rudel der hohen Streicher wanderte im Saal umher, bildet kleine Spielkreise sowie Längs- und Querachsen, so dass Einsatzfolgen hin und her zuckten. Entgegen den reizvollen Raumwirkungen war das dabei Gespielte an Banalität kaum zu unterbieten: Kleine Skalen aufwärts oder abwärts, ein kurzes Pieps hier, ein erheiterndes Pups dort, kaum mehr als sich bei einem schlecht durchdachten Edukationsprojekt mit Kleinkindern auf die Schnelle zusammenpfriemeln lässt. Infolge der chronischen Unterforderung durch dieses „Kindergartenlieder-Niveau“ sah sich Schlagzeuger Jochen Schorer provoziert, bei der Abschlusspressekonferenz im Namen seiner Kolleginnen und Kollegen mit allem Nachdruck zu versichern, dass das Orchester wünscht, durch neue Werke stärker gefordert, ernstergenommen und weitergebildet zu werden. Diesem glaubhaften Verlangen sollte entsprochen werden, sonst hagelt es bald weitere Neue-Musik-Comics.