MusikTexte 159 – November 2018, 89–90

Wie wird es sich anhören (und aussehen und anfühlen)?

Zu den Darmstädter Ferienkursen

von Peter Kalal

Die diesjährigen Darmstädter Ferienkurse – die fünften unter der Leitung von Thomas Schäfer – standen im Zeichen der bisher nachhaltigsten Auseinandersetzung des Festivals mit seiner institu­tio­nellen Geschichte. Im Vorwort zum Programmbuch bestätigt Schäfer die allgegenwärtigen Rufe nach einem „strukturellen Wandel“ in der neuen Musik und setzte sich für institutionelle Reformen ein, die vor allem traditionell unterrepräsentierte Stimmen in die Darmstädter „Community“ einbeziehen sollten. Das viertägige „Defragmentation“-Programm – eine gemeinsame Initiative der Darmstädter Ferienkurse, der Donaueschinger Musiktage, der Berliner MaerzMusik und des Ultima Festival Oslo – brachte Wissenschaftler, Künstler und Kulturverwalter zusammen, um zu erörtern, „wie die aktuell in vielen Sparten geführten Diskurse um Gender & Diversity, Dekolonisierung und technologischen Wandel nachhaltig in den Institutionen der Neuen Musik verankert und kuratorische Praktiken in diesem Bereich reflektiert werden können“. Diese „Convention“ verlief allerdings nicht ganz reibungslos: Zu Anfang gab es Zoff, als Mitglieder der Gruppe Gender Relations in New Music (GRiNM) sich erhoben, um ihr Manifest zu präsentieren, bevor die erste Rednerin überhaupt ans Pult getreten war. Die Gruppe war 2016 unter dem Namen GRID (Gender Relations In Darmstadt) gegründet worden und warf nun der „Defragmentation“-Initiative einen „schockierenden“ Mangel an „transformativer Energie“ vor. Man befürchtete, dass die Darmstädter Einrichtung wenig mehr tun könnte als „Lippenbekenntnisse zu den Themen abzugeben und diese zu zerlegen [tokenize], anstatt sie direkt anzugehen“.

Tatsächlich glichen die „Defragmen­ta­tion“-Sitzungen manchmal zu sehr einer langweiligen akademischen Konferenz, aber die GRiNM hätte gut daran getan, die „Convention“ erst einmal anfangen zu lassen, bevor sie ihren Protest einlegte. Neben den üblichen Grundsatzreferaten und Vorträgen befreite sich „Defragmentation“ vom Konferenz-Schema mittels Workshops, die von der DJ/Aktivistin Terre Thaemlitz und GRiNM selbst angeboten wurden. Ein weiterer Beweis für den guten Willen der Veranstalter, wirkliche Veränderungen herbeizuführen, waren kuratierte Hörräume wie George Lewis’ „African Music after 1960“ mit Musik von Komponisten aus der Afrodiaspora, die aus der Geschichte der Neuen Musik „praktisch eliminiert“ sind.

GRiNM ergänzte ihr Manifest und ihre täglichen Zelt-Diskussionen noch um eine weitere Provokation. Als die Zuhörer in der ersten Woche aus einem Konzert kamen, warf GRiNM eine Flut von Flugblättern vom Sporthallenbalkon der Lichtenberg Schule: „Darmstadt 2020: 0% der Stücke stammen von weißen CIS-Männern.“ Wie beim Eröffnungsmanifest konnte der gut gemeinte Inhalt ihrer Kritik durch eine überstürzt erarbeitete Form kaum vermittelt werden – sicherlich gibt es kritische Aktionen, die weniger an Gymnasiasten-Mätzchen erinnern.

Das soll nicht heißen, dass GRiNM für die Entwicklung der neuen Musik unbedeutend wäre – im Gegenteil. Wenn es irgendeinen Zweifel an der Notwendigkeit eines gut funktionierenden Antagonismus zwischen Institutionen und ihren para-institutionellen Schatten gab, dann hat Darmstadt gezeigt, dass selbst fortschrittliches Kuratieren von Zeit zu Zeit die Machtstrukturen reproduzieren kann, gegen die es ankämpft. Obwohl Schäfer mit seinem Programm geschickt und ausgewogen durch die komplexen Fragen von Gender, Diversity und Dekolonisierung zu navigieren wusste, erwiesen einige bemerkenswerte Aussetzer die Notwendigkeit ständiger Wachsamkeit, und damit auch die von Gruppen wie GRiNM.

Ulf Langheinrichs Film „Full Zero“ thematisierte den Voyeurismus, indem er den Orgasmus einer Frau vorführte. In diesem Stück, das brutal sexualisierte Windungen der Tänzerin Luo Yuebing mit ohrenbetäubender Elektronik verbindet, fragt Langheinrich, wem die Gewalt nun angetan wird, und wer – sei es das Publikum oder der Künstler – der eigentliche Voyeur ist. Durch diese ambivalente Sicht­weise auf den Voyeurismus entzieht sich das Stück seiner endgültigen Interpretation und Langheinrich der Verantwortung für die gezeigten Bilder. Dennoch sollten wir uns im Jahr 2018 fragen, ob die fortgesetzte Ästhetisierung (und da­mit Instrumentalisierung) des weiblichen Orgasmus, ungeachtet behaupteter Ziele, nicht selber problematisch ist.

Im zweiten Durchlauf von „Série Rose“, einem von Monika Pasiecznik kuratierten Projekt, in dem das Verhältnis der Neuen Musik zu Erotik und Sexualität auf dem Prüfstand steht, präsentierte Johannes Kreidler seine neue Videoarbeit „Film 3“. Das Stück ähnelt seinen Vorgängern in dieser Reihe („Film 2“ wurde Anfang des Jahres auf dem Ultraschall-Festival in Berlin uraufgeführt) mit einer großen Ausnahme: die Kleidung. Auf den ersten Blick mag Kreidler dafür gelobt werden, dass er das einzige Stück beisteuerte, das die männliche Sexualität (Kreidlers eige­ne) den oft klischeehaften weiblichen Sexualisierungen, die das Programm dominierten, gegenüberstellte. Um sein Stück gegen banale Misogynie zu impfen, reichte es jedoch nicht aus, sich selbst auf der Leinwand mit einem Ständer zu präsentieren. Trotz der ironischen Verbrämung mangelte es sowohl an produktiver Differenzierung als auch an Provokation.

Sehr viel mehr beeindruckte im Série-Rose-Konzert das Stück „(your name here)“ für Stimme, Violine, Elektronik und Schattenspiel von Jennifer Walshe. Die Erinnerungen einer anonymen Frau an ihre ersten Liebeserlebnisse werden hier mit einer Geigerin gekoppelt, deren Silhouette sich hinter einem Schirm abzeichnet. Walshe stellte so mit einem gewissen Humor zeitgemäße Fragen nach der Sichtbarkeit, Anonymität und Wirkung von Musikerinnen.

Der Erfolg dieses Stücks unterstreicht die bedeutende Rolle, die Ausübende der „Neuen Disziplin“ gerade bei jenen institutionellen Reformen spielen, die in diesem Festival immer wieder diskutiert wurden. Der von Walshe geprägte Begriff „Neue Disziplin“ (vergleiche MusikTexte 149) bezieht sich auf kompositorische Praktiken, die neben dem Klang auch das Theatrale, Körperliche und Visuelle in den Vordergrund stellen. In einem Artikel für diese Zeitschrift, der auf Einladung Walshes zum Thema „Neue Disziplin“ geschrieben wurde (siehe ebenda), meint David Helbich: „Nicht erfinden wird gefeiert, sondern (nach-)machen, ausführen, sich selbst etwas aussetzen. Und dann teilen, mitteilen, andere auf Ideen bringen, reagieren lassen und selbst machen sehen.“ Eine solche Haltung schwang auch in einem Gespräch zwischen George Lewis und Georgina Born mit, das im diesjährigen Programmbuch zu finden war. Born stellte dabei fest, dass die Bildung einer Gemeinschaft, die traditionell unterrepräsentierte Stimmen aufnimmt, nicht bedeute, „nach neuen schwarzen Frauen zu suchen, die Musik à la ,Neue Komplexität‘ machen“: Es geht nicht bloß darum, Leute zu finden, die Innovationen im Hinblick auf Disziplinen, die in unserer Gemeinschaft bereits vorhanden sind, anbieten können. Lewis schlägt eine Alternative vor: Unsere Gemeinschaft muss weiterhin einen Zustand der „Créolité“ anstreben, der verschiedene Stimmen und deren Geschichten zusammenbringt – teilen, informieren, inspirieren, beobachten, handeln – als eine neue Pluralität. Für Born und Lewis bleibt die grundlegende Frage: „Wie wird es sich anhören?“ Zwei in diesem Festival nicht zu übersehende Komponistinnen, Celeste Oram und Natacha Diels, beide Ausübende der Neuen Disziplin, haben sich sowohl dieser Frage angenommen als auch eigene gestellt: Wie wird es aussehen? Wie wird es sich anfühlen?

Ein Höhepunkt des Festivals war Celeste Orams Musiktheaterarbeit „Tautitotito (Disputation Songs)“, die sich als eine skurrile Untersuchung der Kiwi-Identität durch mehrsprachige Ausflüge via Radio, kritische Theorie und Musikgeschichte erwies. Neben experimentellen Wetterberichten und Briefen aus der Zukunft wurde das Publikum mit einem imaginären Besuch Theodor W. Adornos in Neuseeland und einem Marionetten-Singspiel konfrontiert. Dabei gelang es Oram und ihrer Truppe, die Show über drei Stunden lang durchweg unterhaltsam zu gestalten und Denkanstöße zu geben. Der Anhang des Stücks war dann vielleicht wirklich etwas zu viel des Guten: eine Performance im Öffentlichen Raum, die ähnliche Themen wieder aufgriff, aber mit Selbstgefälligkeit flirtete.

Aus einer Vielzahl von Hauskonzerten im Rahmen des „OUREARS“-Projekts ragte Natacha Diels’ Installaton „I love myself deeply and unconditionally“ heraus. In Zusammenarbeit mit Sam Scranton hatte die Komponistin die Oetinger Villa in eine Geisterbahn verwandelt: zu gleichen Teilen aus Dayglo, Marina Abra­mo­vič und David Lynch. Von einem Reiseleiter durch verschiedene Klangräume geführt, wurden die einzelnen Besucher persönlich auf eine Reise geschickt, die der Selbstbestätigung dienen sollte, aber den vermeintlich persönlichen Weg der Selbstliebe immer wieder mit der Mahnung untergrub, nur denjenigen zu folgen, die schon vor uns da waren.

Der Erfolg der Stücke von Oram und Diels – und die Allgegenwart noch anderer von der Neuen Disziplin beeinflusster Konzerte, Workshops und Studios – verlieh dem Festival eine Atmosphäre, in der das Auftauchen einiger bekannter Darmstädter Figuren eher einen Missklang erzeugte. Als das Arditti-Quartett zu seinem Wochenend-Gastspiel eintraf, stellte sich die Frage, ob dieses Ensemble, das seit seinem ersten Auftritt 1982 eine feste Größe auf dem Festival darstellt, wirklich in der Lage und bereit sein würde, einen institutionellen Wandel zu unterstützen. Zweifel an der Rolle der Ardittis wurden jedoch durch ihre Aufführung von Ashley Fures „Anima“ für erweitertes Streich­quar­tett ausgeräumt. Die Präzision und Musikalität, mit der die Musiker spielten, hinterließ keine Bedenken hinsichtlich ihres Einsatzes für Fures transponder-basierte Klanggewebe.

Bleibendere Eindrücke vermittelten ansonsten die eher unkonventionell besetzten Ensembles. Auch wenn Nikel die Rock­star-Begrüßung, die das Ensemble bei seiner Rückkehr nach Darmstadt empfing, zweifellos verdient hatte, konnte es erst bei seinem Auftritt im Found-Footage-Konzert wirklich punkten. Clara Ian­nottas und Simon Løfflers „Soundtracks“ zu Peter Tscherkasskys „Outer Space“ beziehungsweise „Dream Work“ verwandelten – in Løfflers mit Wolverine-artiger Bodypercussion ausgestattetem Stück – das Ensemble selbst in einen visuellen Aspekt dieser Filme. Makelloses Spiel und brillante Herangehensweise forderten die Erwartungen an Klang und Bewegung auf ganz unterschiedliche Weise heraus.

Das US-amerikanische Posaunenduo RAGE Thorm­bones präsentierte schließlich ein meisterliches Programm, das alle etwaigen Vorstellungen von dieser Besetzung zunichte machte. Besonders bemerkenswert war „Proxy Medium“ von Lester St. Louis, welches das Posaunenduo neu erfand, indem es die beiden Instrumente durch Gummischläuche miteinander verband, so dass Matt Barbier und Weston Olencki durch den Trichter des jeweils anderen Instruments spielen konnten.

Es ist zu früh, um über Ver­än­derungen in Darmstadt jubeln zu können – schließlich handelt es sich um eine altehrwürdige Institution, und die Reformen werden eher langsam vor sich gehen. Was Darmstadt braucht, ist kon­struktive Kritik. Schon jetzt war die Dynamik zu erleben, die Schritte in die richtige Richtung hervorrufen können. Dank des unablässigen Einsatzes aller Beteiligten, die an der Umsetzung der Vorstellungen eines vielfältigen, zum Nachdenken anregenden Kuratierens gearbeitet haben, darf man für das Jahr 2020 auf eine weiterführende Vermischung aktueller ästhetischer Bewegungsbahnen mit verschiedenen Diversity-Initiativen hoffen.

Der Autor ist Doktorand der Philosophie an der New Yorker Columbia University und hat in Darmstadt am rein englischsprachigen Musikkritik-Seminar „Talking about Music“ teilgenommen, das von Kate Molleson und Peter Meanwell geleitet wurde.

Übersetzung: Gisela Gronemeyer