MusikTexte 159 – November 2018, 92–93

„Meine Musik ist immer politisch“

Gespräche mit Juan Allende-Blin

von Stefan Amzoll

Warum Juan Allende-Blin? Seine Kompositionen sind kaum bekannt. Seine Rundfunkarbeiten schmoren in den Archiven. Umfänglich seine Werkliste, schmal seine Diskographie. Seine gelungene Wiederherstellung der Debussy-Oper „La chute de la maison Usher“ nach Edgar Allen Poe blieb unberührt (dieser Rekonstruktion des Opernfragments widmet das jetzt erschienene Buch ein eigenes, in­struktives Kapitel). Nicht besser steht es um die mit sich selbst beschäftigte Welt der Moderne, deren Fürsprecher Allende-Blin war und in deren wertvollen Teilen auch geblieben ist: Sie ließ sich von ihm schmeicheln und fördern, nahm aber wenig Notiz von dem, was ihn selbst zuinnerst auszeichnet.

Vieles deutet darauf hin, dass der Funke seines bisherigen Werks zu verlöschen droht. Lässt Vergessen sich aufhalten? Die Autoren Christian Esch und Frank Schneider, beide Musikwissenschaftler, bejahen das unausgesprochen. Ihre Arbeit stellt sich gegen das Vergessen, indem sie profund einführt in das Leben und Werk einer markanten, aufklärerischen Figur der Moderne. Lebendig wird ein künstlerisch ausgefülltes, spannendes, erfahrungsreiches Leben.

Der Band ist nach Werktiteln, Stichworten und Lebensstationen geordnet, die den elf Kapiteln den Titel geben. Sie erfassen persönliche Erlebnisse, Kompositionen in ihrer Entstehung und Wirkung, vielerlei Begegnungen mit Zeitgenossen, und rekurrieren auf Geschichte und Zeitgeschehen. Allende-Blin ist jetzt neunzig. Schon früher hat er mit „Ein Leben aus Erinnerung und Utopie“ (Saarbrücken: Pfau, 2002) Zeugnis abgelegt. Das jetzt vorliegende Buch vertieft wesentlich das Wissen um Persönlichkeit und Werk. Und es hat einen eminenten Vorzug: Der Blick richtet sich periodisch auf Kompositionen und deren Hintergründe, etwa die Reihe der „Kontempla­tionen“, acht an der Zahl, oder die Spätwerke „Salutatio abeuntis“ und „Antiphonie“. Je eigene, individuelle Sichten darauf laden ein, sich der klingenden Musik zu nähern, sie zu hören.

Das erste Kapitel führt in die Kindheit und Jugend. Allende-Blin entstammt einem künstlerischen Haus in Santiago de Chile, wo er 1928 geboren wurde. Die Mutter Französin, der Vater Spanier, beide vorzügliche Pianisten. Da die Haushälterin der Familie Berlinerin war – mit einem jüdischen Kind im Gepäck entkam sie den deutschen Rassegesetzen –, schlug Juan auch deutschsprachige Wurzeln. Bei seinem Onkel, dem chilenischen Komponisten Pedro-Humberto Allende-Saron, seinerzeit befreundet mit Debussy und Ravel, begegnete ihm die hohe Schule des Komponierens früh. Begierig nahm er Musik auf, über Radioprogramme der BBC und Schellackplatten mit Aufnahmen von Gegenwartsmusik, darunter Schönbergs Variationen für Orchester, die der Komponist 1930 im Berliner Sender selbst dirigiert und kommentiert hatte. Im Haus der Familie befand sich eine hervorragend bestückte Bibliothek. Der junge Mann liest die chilenischen Dichter Santiago Arcus und Pablo Neruda, die Spanier Rafael Alberti und Federico García Lorca, die Franzosen Charles Baudelaire und Arthur Rimbaud und vieles mehr. Später setzte er Verse derselben in Musik. „Mit Pablo Neruda, dem Dichter und Sozialisten, habe ich mich ohnehin zeitlebens beschäftigt.“ Lorcas Ermordung 1936 durch Francos Schergen beschäftigt ihn mindestens so sehr wie Picassos „Guernica“-Gemälde von 1937. Jene von der faschistischen Legion Condors fast völlig zerstörte Stadt war väterlicherseits die Heimat seiner Vorfahren: „Guernica, durch das monumentale Bild Picassos und auch durch ein wunder­bares Klavierstück von Paul Dessau bekannt, war der Sitz meiner Familie.“

1951 kam Allende-Blin nach Westdeutschland. Schön­berg, Berg, Webern, der in Paris lebende Russe Iwan Wysch­ne­gradsky, die Dirignten Hermann Scher­chen und René Leibowitz, der Geiger Rudolf Kolisch blieben seine hauptsächlichen Bezugspunkte. Die Darmstädter Ferienkurse wurden für ihn unverzichtbarer Lernort, wovon fast ein halbes Kapitel handelt. Dort begegnete er den jungen Göttern seiner Sparte, dem harten Kern der Avantgarde: Stockhau­sen, Boulez, Nono, Maderna, Kagel, Messiaen (der sein Kompositionslehrer wurde), Cage und Philosophen wie Adorno. Sie alle lernte er persönlich kennen und schätzen. Fortan interessierten ihn die technische Höhe serieller Musik wie das Phänomen ihres so einzigartigen wie extremen Gegensatzes zu dem, was die Naziherrschaft an Schändlichem in der Musik angerichtet hatte.

Christian Esch und Frank Schneider sind als Musikwissenschaftler und Kenner von Biographie und Werk des Komponisten ideale Gesprächspartner. Schnei­der, geboren 1942, groß geworden und aus­gebildet in der DDR, sein Kollege, geboren 1961, sozialisiert in der Bundesrepublik. Beide bilden mit ihrem Protagonisten eine Art Trias, die gut zusammenstimmt. Die Interviewtechnik unterscheidet sich. Schneider fragt direkt, Esch indirekt, indem er die Aussagen des Gegenübers in seine Texte integriert. Frank Schneider, bis 2009 Intendant des Konzerthauses Berlin, hat freilich den Vorteil, weit mehr über Neue Musik in Ost und West zu wissen als Esch, der sich in seinen Kapiteln auf Ost-Verhältnisse so gut wie gar nicht einlässt. Solche spielen durchaus eine Rolle, denn Allende-Blin konnte als Chilene zu gegebener Zeit überall hinreisen, auch in die DDR. Er ignorierte oder verschmähte dieses Land keineswegs. Auf Hanns Eisler und Paul Dessau – beide siedelten aus dem Exil in die DDR über – hält er große Stücke. Dessaus Freundschaft mit Luigi Nono und Hans Werner Henze wie seine schützende Hand über DDR-Komponisten wie Reiner Bredemeyer, Friedrich Goldmann, Friedrich Schenker, Georg Katzer, Paul-Heinz Dittrich dürften Allende-Blin nicht entgangen sein. Vor allem Bertolt Brecht interessierte ihn: „Brechts Konzeption des Epischen Theaters war mein Vorbild, um konzertante und szenische Aktionen zu einer logischen Einheit zu bringen.“ Angewandt in dem Bühnenstück über das Exil „Des Landes verwiesen“.

„Meine Musik ist immer politisch.“ Ein Grundsatz, den er etwa für seine imaginäre Szene „Walter Mehring – ein Wintermärchen“ genauso geltend macht wie für sein Streichquartett. Umso deutlicher wird der Komponist selbstredend, je mehr er Dichtung in den Zusammenhang von Kompositionen stellt: Verse von Albert Ehrenstein, Erich Mühsam, Rainer Maria Rilke, Jakob van Hoddis, Stefan George, Jean Genet, Kurt Schwitters oder Texte der schon genannten Dichter.

Eine langjährige Freundschaft verband ihn mit dem einer jüdischen Familie in Böhmen entstammenden Musiker und Sänger Hanns Stein. Der Name kehrt in einzelnen Kapiteln immer wieder. Nachdem die Wehrmacht sich das Sudetengebiet unterworfen hatte, floh Stein über England nach Santiago de Chile, wo er der Kommunistischen Partei beitrat und 1971 Kampflieder von Eisler/Brecht auf Schallplatte brachte, darunter das „Einheitsfrontlied“. Nach dem Sturz Allendes 1973 („Er war ein überzeugter Kom­munist“, und: „Er war sehr enttäuscht über den DDR-Sozialismus“) emigrierte er mit Choly, seiner chilenischen Frau, in die DDR und lehrte an der Ostberliner Musikhochschule „Hanns Eisler“. Allende-Blin: Was nicht im Buch steht: Stein übersetzte spanischsprachige Texte von Dokumentarfilmen über Chile für das „Studio Heynowski & Scheumann“. Choly arbeitete für Radio Berlin International, den Auslandssender des DDR-Rundfunks. Unter Allende hatte ein Verwandter von ihr der staatlichen Institution ein Haus für ihre Korrespondenten angeboten und verkauft. Dass Stein am Begräbnis des unter gegenteiligen Vorzeichen nach Santiago geflohenen Erich Honecker, dem „ungeliebte Retter“, teilnahm, ist dem Komponisten mehr als eine Erwähnung wert. Denn er selbst arbeitete den Vorgang in sein NDR-Hör­stück „Letztes Geleit“ (1995) ein. Lange vorher, 1978, hatte er dem Freund den Tenorpart zur Uraufführung jener erwähnten Szenischen Aktion „Des Landes verwiesen“ in Westberlin übertragen. Drei Jahre später boten die „Fünf Lieder aus dem Ghetto“ für Tenor und sieben In­strumente abermals Gelegenheit, Hanns Stein einzubinden. Die Aufführung erfolgte seinerzeit vor ehemaligen Insassen des KZ Neuengamme. Auf Wunsch von Choly ging das Paar 1980 zurück nach Chile unter Pinochet. Stein erhielt dort bis zum Ende der Diktatur keine Anstellung. Aus Erinnerungssplittern entsteht ein kleines Porträt des seine sozialistischen Ideale nie aufgebenden Freunds.

Nirgends erlaubt der Künstler, sich auf wenige Genres, Techniken und Stile oder gar den Begriff Avantgarde festlegen zu lassen. Wiederkehrende Einlassungen findet der Leser etwa zur Lied- und Kabarettszene der Zwanzigerjahre in Deutschland, für Allende-Blin so legitimer Bereich wie die Avantgardemusik Stockhausens oder Nonos. Schon früh hatte er über das Radio Aufnahmen mit Ernst Busch, Friedrich Hollaender, Blandine Ebinger, Lotte Lenya, auch Marlene Dietrich, Hilde Hildebrandt und anderen gehört. Mit der später in Berlin lebenden Blandine Ebinger habe er sich brieflich ausgetauscht und auf ihre Mitwirkung in seinen „Berliner Nachtstücken“ nach Gedichten von Alfred Ehrenstein großen Wert gelegt.

Moralisches Bewusstsein zeigt sich im Verhältnis zu den Mitmenschen. Darin, so kündet das Buch nahezu durchgängig, sei Juan Allende-Blin geradezu beispielgebend. Erstaunlich die Kontaktfülle des Künstlers. Über die Kapitel verstreut finden sich Namen von Personen, zu denen er kreative oder einfach nur menschliche Beziehungen unterhielt. Das beginnt in der Gesellschaft seiner Kindheit und Jugend, setzt sich fort im Verhältnis zum Or­ganisten Gerd Zacher, seinem Lebens­partner bis zu dessen Tod 2014, und endet nicht, bevor er einen Großteil seiner Energien darauf verwendet, vergessene, verfolgte, verfemte Musiker, Komponisten, Sänger, Literaten der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das Buch porträtiert neben Hanns Stein eindrucksvoll den tschechischen Komponisten, Dichter, Sänger, Schauspieler und Kommunisten Emil František Burian (1904–1959) – der Anhänger der Dada-Kunst überlebte die Haft in den Konzentrationslagern Theresienstadt, Dachau und Neuen­gamme –, und den von Schönberg hochgeschätzten Komponisten jüdischer Herkunft Erich Itor Kahn (1905–1956), der 1933 nach Paris floh und über Aufenthalte in französischen Internierungslagern 1941 in die USA emigrierte.

Dass der im Sommer 1967 in Westberlin vom südkoreanischen Geheimdienst entführte und zu lebenslanger Haft verurteilte Isang Yun nach dreijähriger Haft in Seoul wieder freikam, verdankt sich auch der Initiative Juan Allende-Blins. Er organisierte damals den weltweiten Aufruf, der die Freilassung des Komponisten forderte. Mit Gerd Zacher durchschritt er schwierigste Verhältnisse, solche der Schmähung wie der Ausgrenzung angesichts der Stigmatisierung Homosexueller und neu aufflammender nazistischer Ausschreitungen. Ein künstlerisch unerhört produktives Paar, wovon manche Buchseite Näheres erzählt, und auch die Beschreibung von Orgelstücken, die er für Zacher komponierte, Kunde gibt. Gewichtig vor allem „Mein blaues Klavier“ für Orgel und Drehorgel von 1969/1970.

2017 übergab Allende-Blin der Akademie der Künste Berlin seinen künstlerischen und publizistischen Vorlass. Der schmort nun auch. Aus diesem Anlass wurde dort seine Komposition „Tortur“, Hommage auf den von ihm hochverehrten Jakob van Hoddis, gewidmet Gerd Zacher, mit zwei weiteren eigenen Werken aufgeführt. Motto des Konzerts: „Gleiches Recht für jede Liebe“. Das Buch vermerkt diese Komposition nicht, was kein Makel ist. Stattdessen offeriert es einen Phototeil, der über die Kontaktfülle des Künstlers zusätzlich Aufschluss gibt.

Was immer der Band herausarbeitet, er gehört nunmehr zu jenem sichtlich schrumpfenden Bestand an Schriften, welche sich der allgemeinen Fahrlässigkeit widersetzen, Kunst- und Kulturgut ungeprüft einfach liegen zu lassen, es abzutun mit dem Hinweis, es passe nicht in die Zeit und werfe im Übrigen nichts ab. Vor diesem Hintergrund kommt dem Buch „Immer auch ein politischer Impuls“ mit und über Juan Allende-Blin eine besondere Bedeutung zu.

„Immer auch ein politischer Impuls“. Juan Allende-Blin im Gespräch mit Christian Esch und Frank Schneider, Altenburg: Kamprad, 2018.