MusikTexte 159 – November 2018, 94

Was heißt eigentümlich?

Zu vier Compact Discs des Münchner Labels Neos

von Manfred Karallus

Man gebe wie man nehme, do ut des, sonst wird’s gefährlich. Seit längerem sei er, Ludwig Tieck um 1795, bestrebt gewesen, das Fremdartige, Fernliegende zu seinem Eigentum zu machen. Er nahm und beließ es beim Nehmen, die Aneignung gelang vorzüglich, bis er schließlich einsehen musste, dass er sich „über dieser Bemühung selbst verlor“.

Einen Identitätsverlust ähnlicher Art muss auch der syrische Gebetsmeister Isaac von Ninive (sechstes Jahrhundert) gekannt haben, als er sich von den Sternen abwandte und jene Stadt suchte, „deren Bewohner nicht mehr reisen und worin jeder erfüllt ist von dem, was er besitzt“.

Rupert Huber

Noch bis weit ins zwanzigste Jahrhundert stand in der Türkei die Weitergabe geistigen Eigentums, selbst eines einfachen Märchens, unter schwerer Strafe. Für den allzu freizügigen Umgang mit Information konnte einer sogar seinen Kopf verlieren, und zwar gänzlich.

Rupert Huber, Tatmensch, rastloser musikalischer Handlungsreisender und Expeditionsunternehmer zwischen Fernost und Nahebei, trägt den Kopf noch fest auf den Schultern, lässt sich gut genährt mit einem kapitalen Hecht in den Armen auf der Innenseite der CD abbilden und sieht nicht aus wie einer, der über seine Taten allzu viele Skrupel hat.

Einer seiner Importe – die Vertonung eines Ausschnitts aus dem „Mantelgedicht“ von Sharaf al-Din al-Busiri sowie des Gedichts „Die Seele der Rose“ von Galal-ad-Din Rumi – bezieht Zutaten aus drei Richtungen: der Türkei, Afghanistan und Oberägypten. Die Unternehmung gibt sich freisinnig und tolerant, versteht sich als „kulturübergreifend“, wobei nicht lange gefragt wird, von welcher Seite der Übergriff ausgeht.

Musik für alle jene Reisenden also, die die Neuzeit mit ihrem übergriffigen Tourismus massenweise produziert und auf die Straßen der Welt ausspuckt? Nicht nur. Ru­pert Huber kennt die Sehnsucht. Er kennt sie als Fernweh und als Heimweh. Das verbindet ihn mit der Romantik und mit Friedrich Rückert, der das Arabische der verwendeten Gedichte behutsam in westliches Sprachempfinden übertragen hat.

Auf einem orientalischen Teppich sitzend, betätigt Doris Huber, umgeben von einem ägyptischen Ensemble, zwölf Schalenglocken. Schon zu Beginn, mit dem Zusammenklang nacheinander angeschlagener Klangschalen um den Ton D, soll der Hörer durch die gegenläufigen Verschwebungen elektronisch verstärkter Klänge in jenen Zustand gebracht werden, der die „feste akustische und körperlich fassbare Orientierung eines ,Alltagsbewusstseins‘ verlorengehen lässt“. Ludwig Tieck wäre entzückt!

Isao Nakamura

Als „neokolonialistisch“ bezeichnet Youn­ghi Pagh-Paan ein Verhalten, das die Vorstellung nährt, dass alles, was die Welt und die Geschichte hervorgebracht hätten, zu jedermanns Verfügung stehe, jeder sich also „frei bedienen“ könne. „Ohne Respekt vor kulturellen Identitäten führt dies zu einem neuen, umfassenden Kulturanspruch nach der Devise: ,We take over.‘“ Ihre Schlagzeugkomposition „Ta-Ryong IV“ entstand als Antwort auf eine Einladung zu einem Grazer Symposion: „Wiederaneignung und Neubestimmung“. Das Stück unternimmt den Versuch, archaische rhythmische Elemente der koreanischen Volksmusik zu verarbeiten – „auch schamanische Rituale haben für uns Bedeutung“ – und diese differenzierten Wirklichkeiten in einer aufgeklärten Weise weiterzuentwickeln.

Schier umwerfend an dieser Schlagzeug-CD ist indes der Schlagzeuger selbst. Isao Nakamura, Neue-Musik-Enthusiasten seit einem Vierteljahrhundert als – ich wage zu sagen: weltbester Perkussionist bekannt, kann auf seinen Instrumenten natürlich alles, aber eben auch das Schwerste in Perfektion – nehmen wir die Kleine Trommel, dann den zum sauberen, homogenen Wirbel beschleunigten Einzelschlag mit anschließender Rückführung zum Tak-tak-tak – exemplarisch vorgeführt in Nicolaus A. Hubers Schlagzeugklassiker „dasselbe ist nicht dasselbe“. (Die englische Bezeichnung „Snare Drum“ macht es immer wieder erforderlich, darauf aufmerksam zu machen, dass das Stück secco, also ohne Schnarrsaiten auszuführen ist.)

Gunnar Geisse

II.4+V.4[100100+1100111_24+67_*36+*103] lautet der Titel, den Gunnar Geisse der längsten seiner vierunddreißig „Wannsee Recordings“ gab. (Die anderen sehen ähnlich aus.) Geisse ist E-Gitarrist beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Er entwickelte ein Instrument, das er „laptop guitar“ nannte: eine Erweiterung seines Hauptinstruments, der E-Gitarre, um den Computer, die es ihm ermöglicht, das analoge Spiel auf digitaler Ebene „fortzusetzen“. Leichter, hoher Grundpuls, flirrig und flüchtig, flimmernd und flatternd, jazzig, bisweilen sehr attraktiv, improvisatorisch bis an den Rand der Willkür. Geisse sieht sich im Einflussbereich bildender Künste: der „Date Paintings“ aus der „Today“-Serie von On Kawara; der inszenierten Fotografie von Jeff Wall, in deren Anlehnung er seine Samples auch gerne „akustische Fotografien“ nennt; und dann solcher todsicheren Inspirationsquellen wie Robert Rauschenberg, Willem de Kooning, Jack Daniels ...

Moritz Eggert

„Popmusik mag manchmal verlogen sein, aber sie ist es nicht immer“, lässt uns Moritz Eggert anlässlich einer neueren CD wissen, deren Titel „Muzak“ auf jene Musik abzielt, die man auch als „Kaufhausmusik“ oder „Fahrstuhlmusik“ bezeichnet. Das Werk ist David Bowie gewidmet, jenem Populismusgott, über den die ZEIT unter der Überschrift „Hitlergrüße aus London“ schrieb, er wäre ein Sexist gewesen und hätte Faschisten verehrt. Weiß das Eggert, wenn er das Lebendige als das Wahre preist und von den Übeln der heutigen Musikwelt so daherredet: „Adorno“, die „akademische Neue Musik“, „Darmstadt“ (id est Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik)? Weiß er, was es bedeutet, in einer von menschlichem Leben bedrohten Welt der­art unreflektiert „Lebendigkeit“ zu fordern?

Eggerts Musik hat Stärken, sie ist auf eigentümliche Weise anziehend, „catchy“: divertierend, ablenkend, unterhaltend. Und sie ist wie alle Popularmusik von dem Wunsch durchdrungen (er sagt es selbst): zu lieben und geliebt zu werden. Eine Frage nur: Warum gibt sich ein so wenig kritischer Komponist, den die Mu­zak angeblich „in den Wahnsinn treibt, nervt“, damit überhaupt ab?

Die vier Compact Discs sind 2017/ 2018 beim Münchner Label Neos erschienen, das sich beharrlich als eine der führenden Adressen für neue Musik etabliert hat. Ein Wermutströpfchen: Die Zeitspanne zwischen Einspielung und Veröffentlichung ist erheblich – sie beträgt bis zu zwölf Jahre und lässt neue Musik mitunter ziemlich alt aussehen.