MusikTexte 160 – Februar 2019, 85–86

Segen und Fluch

(Ir)Realitäten beim Festival rainy days der Philharmonie Luxembourg

von Rainer Nonnenmann

Vom Hotelfenster aus sieht man in Nacht und Nebel nur einige weiße und rote Lichter. Die surreale Szenerie klärt sich anderntags zur Umgebung der Philharmonie Luxembourg. Doch auch bei Licht besehen wirkt das Areal auf dem Kirchbergplateau der großherzoglichen Kapitale irreal, zumal am Wochenende, wenn das stählerne Wolkenkuckucksheim aus Europäischem Gerichtshof, Rechnungshof, Investitionsbank, Eurostat, Behörden und Unternehmen nur entvölkerte Hüllen sehen lässt und alle Baukräne still stehen, die dafür sorgen, dass hier bis Mitte der Dreißigerjahre dieses Jahrhunderts rund sechzigtausend Beschäftigte arbeiten sollen. Ausgerechnet inmitten dieser unwirklichen Hypothek auf eine ungewisse Zukunft fragt das Festival rainy days nach „Spuren der Wirklichkeit in der zeitgenössischen Musik“. Der Appell des Festivalmottos 2018 „get real“ folgte einem Trend unter jüngeren Komponistinnen und Komponisten, die sich unter Begriffen wie Diesseitigkeit, Neuer Konzeptualismus, New Discipline oder Social Composing selbst verschlagworten. Doch wie soll Realität in Musik gelangen, wo die Welt selbst irreal zu werden beginnt?

Segen und Fluch des zwölftägigen Festivals ist die vom französischen Architekten Christian de Portzamparc entworfene Philharmonie. Das Gebäude ist einer Kulturmetropole würdig und versinnbildlicht mit seinen rundumlaufenden kiemenartigen Säulenreihen die Idee der Semipermeabilität von Musik drinnen und Leben draußen. Das Konzerthaus ist durch Bus und Bahn bestens angebunden. Aber es liegt in einer wenig frequentierten, weil nicht urban gewachsenen und gastronomisch entwickelten Gegend. Und mit seinen zwanzigtausend Quadratmetern Gesamtfläche wurde es offenbar auch zu groß dimensioniert. Luxembourg hat nur hundertsechzehntausend Einwohner, das gesamte Großherzogtum lediglich sechshunderttausend, so dass es einfach zu wenige Menschen gibt, die sich für Musik, zumal für neue, interessieren. Selbst die luxemburgische Erstaufführung von Luciano Berios fünfzig Jahre alter „Sinfonia“ vermochte nur rund ein Viertel der tausenddreihundert Plätze im großen Auditorium zu füllen, und das trotz Heimspiel des Orchestre Philharmonique du Luxembourg unter Leitung von Baldur Brönnimann. Uraufgeführt wurde bei dieser Gelegenheit Francesca Veru­nellis „Tune and Retune“, wo ein abgedämpfter Anschlag der tiefsten B-Klaviersaite analog dem mitschwingenden Saitenchor nun im großen Orchester anfängt zu atmen, rauschen, leuchten, schließlich zu fauchen, brüllen, stampfen. Das Resultat war eine ebenso klanglich reiche wie in Idee und Verlauf fassliche Musik.

Das letzte Festivalwochenende begann mit einem musikwissenschaftlichen Symposion über verschiedene Realitätsebenen von Musik: räumlich, materiell, kulturell, soziologisch, politisch. Dass hierzu kaum Publikum erschien, war kaum anders zu erwarten. Schwerer wog der geringe Besuch der Konzerte, die sich vor allem an die lokale und regionale Bevölkerung richten. Die gastierenden Ensembles Resonanz, Nadar und Mosaik spielten überwiegend Repertoire und Novi­täten, die zuvor bei den einschlägigen Uraufführungsfestivals vorgestellt worden waren und deren erneute Besprechung sich an dieser Stelle erübrigt: darunter Enno Poppes „Rundfunk“ mit dem neun Synthesizer spielenden Ensemble Mosaik und Alberto Posadas sechsteiliger Klavierzyklus „Erinnerungsspuren“ mit Pianist Florian Hoelscher. Durch diese Folge­aufführungen tragen die rainy days zwar zur Finanzierung größerer interna­tio­naler Aufträge und Projekte bei, verfehlen aber zugleich die Funktion als Schaufenster für die örtliche Szene der neuen Musik, die – abgesehen vom ausgezeichneten Ensemble United Instruments of Lucilin (benannt nach „Lucilinburhuc“, dem historischen Namen Luxemburgs) – weder mit Interpreten noch Komponisten vertreten war, was schlicht auch daran liegt, dass es in diesem kleinen Land nur wenige Komponisten und Interpreten gibt. Ungleich stärker präsent ist die jeweilige nationale Musikszene dagegen bei Festivals in Holland, Dänemark, Norwegen oder Finnland, die deshalb für auswärtige Musikjournalisten attraktiver sind. Sie alle laden Journalisten aus dem Ausland ein, um international auf sich aufmerksam zu machen. Der Etat, der den rainy days hierfür zur Verfügung steht, verhält sich indes umgekehrt proportional zur Landesgröße, so dass sich gerade dieses Festival eines beachtlichen Presseechos erfreuen kann. Auch das ist knallharter Realismus: Geld verschafft Geltung.

Geleitet werden die rainy days seit 2016 von der Musikwissenschaftlerin und -jour­nalistin Lydia Rilling, die als Chefdramaturgin an der Philharmonie Luxembourg vor allem die zeitgenössische Musik verantwortet. Das seit Eröffnung des Gebäudes 2005 von Bernhard Günther programmierte Festival wird von der neuen Leiterin in Profil, Format und Erscheinungsweise weitgehend unverändert fortgesetzt.

Kontinuität stiftet auch der opulente Festivalkatalog. Wie der makellos weiße Prachtbau folgt auch der hochwertig aufgemachte Prachtband eher der Formel „think big“ als dem Motto „get real“. Mit 270 Seiten in großzügigem DIN-A4-Format und einem satten Kilo Gewicht taugt das voluminöse Buch nicht zum Gebrauch im Konzertsaal. Statt in Hand- und Westentaschen gehört es auf heimische Lesepulte, zumal es statt Werkkommentaren vor allem ästhetisch-philosophische Essays und Interviews zum Verhältnis Realität und neue Musik enthält. Hier überwiegen augenscheinlich Repräsentationszwecke das Bedürfnis nach Information. Und dennoch führt der Katalog mittels ganzseitiger Farbfotos ebenso charmant wie direkt ins Thema. Zu sehen sind Möhren, Radieschen, Salate und Fenchelknollen, die gerade frisch aus der Erde gezogen wurden, noch mit echter Mutterkrume dran, kühl, feucht, duftend, eine Erfahrung für alle Sinne. Aber halt, zwischen den Buchdeckeln handelt es sich ja bloß um Abbildungen! Doch sind die Fotos deswegen weniger „real“? Und welche Realitätswerte haben dann Musik, Ge­danken, Träume, Romane, Parallelgesellschaften, Virtualitäten, Filterblasen, Facebook, Fake und Fiction? Schon ist man mitten im Thema des „Festival de musiques nouvelles“.

Das Konzert des Quatuor Diotima bot erwartungsgemäß keinen emphatischen Realismus. Doch lieferte die hochgradig professionell arbeitende Quartettformation ein Pendant zum ebenso arbeitsteilig auf Optimierung und Effizienz bedachten bürgerlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Und wenn bei Helmut Lachenmanns „Gran Torso“ während des langen Bratschensolos das Publikum mucks­mäuschenstill alle Aufmerksamkeit den kaum hörbaren Streichgeräu­schen auf dem Saitenhalter schenkt, dann stellt es kollektiv eine – wie Joseph Beuys gesagt hätte – „soziale Plastik“ her, in der noch die schwächste Stimme demokratisch Gehör findet. Wer wollte da noch be­haupten, Quartette seien unpolitischer, alter Quatsch?

Im Rahmen der „Luxembourg Composition Academy“ erhielten acht junge Komponistinnen und Komponisten aus sieben Ländern Gelegenheit, eine Woche lang mit Franck Bedrossian und Joanna Bailie sowie den ortsansässigen United Instruments of Lucilin unter Leitung von Nacho de Paz eigene Partituren einzustudieren, zu revidieren und schließlich im Konzertsaal der Abtei Neimënster uraufgeführt zu erleben. Der vom Jazz kommende Nicolas Brochec verlängerte in „Vorsis“ ein präpariertes Klavier diskret durch elektronische Transformationen. Cameron Michael Graham schuf mit „Life in Pink“ ein zwar live gespieltes, der Wirkung nach jedoch installativ-statisches Ambiente. André Watts ergänzte Violine und Cello durch Große Trommel zu einem Streichtrio der besonderen Art, indem er den Schlagzeuger eine über das Trommelfell gespannte Saite streichen ließ, was allerdings kaum Differenzierungsmöglichkeiten erlaubte.

Der letzte Festivaltag bot unter dem Titel „Wunderkammer“ bei freiem Eintritt zehn Kurzkonzerte im Kammermusiksaal, auf der Experimentalbühne und im Foyer der Philharmonie. Die Klarinettistin Heather Roche präsentierte Solowerke von Komponistinnen des Projekts „#composingwikipedia“, bei dem die Online-Enzyklopädie nicht etwa selbst als Material oder Thema dient, sondern schlicht um Einträge zu bislang noch nicht vertretenen Komponistinnen ergänzt wird. Die Uraufführung von Huihui Chengs „Your smartest choice“ durch das Ensemble Mosaik bot ein abschreckendes Beispiel für Gamifizierung, bei der konzentrierte Rezeption durch dissoziierte Partizipation ersetzt wird. Über einen WLAN-Link wurde das Publikum auf den eigenen Smartphones ununterbrochen damit unterhalten, bunte Luftballons auszuwählen, zu lenken sowie zum Platzen zu bringen oder wahlweise vor herabfahrenden Nadeln zu bewahren, was neben den weitgehend unbemerkt spielenden Musikern aus den vielen Handy-Lautsprechern beiläufiges Knistern und Knallen hören ließ.

Verschiedene Realitäts- und Wahrnehmungsebenen zeigten und reflektierten die zuvor in Berlin uraufgeführten „Scenes from the Plastisphere“ des 1977 geborenen US-Amerikaners Rama Gottfried. Ähnlich einer Laterna Magica zeigen Videoprojektionen kleine Objekte in abstrahiert-verfremdeter Vergrößerung: Papiere, Folien, Fäden, Finger und eine Topfpflanze, in deren Baumkrone elek­tronische Vögel zwitschern. Die bewegten Bilder werden in Echtzeit von einem Graphikprogramm analysiert und dann durch ein Soundprogramm so sonifiziert, dass die Interdependenz von Sicht- und Hörbarem unmittelbar sinnfällig wird. Schließlich wurde die Projektionsfläche zusammengeknäuelt und in die Höhe gezogen, so dass darauf geworfene Licht­figuren dreidimensional wirkten und an einer Diskokugel reflektierte Strahlen darin wie silberhelle Fischchen im Netz zuckten. Das war großes Kino im Kleinen, voll Illusion, Zauber und Poesie, und zugleich wurden die verwendeten Techniken und medialen Dispositive durch Bühnenraum und Live-Performance desillusio­nierend offengelegt.

Das „spectacle finale“ im Grand Théâtre wurde dagegen zum größten Flop. Stefan Prins konzipierte sein aufwendiges Bühnenprojekt „Third Space“ für das Klangforum Wien und die von Daniel Linehan geleitete belgische Tanz-Company hiatus. Ein Gazevorhang zeigte Live-Videoausschnitte der dahinter hörbar agierenden Musiker und Tänzer. Die halbwegs interessante Trennung von Aktionen und Resultaten, Hör- und Sichtbarem bei gleichzeitig elegant-ausdrucksvollem Dirigat von Bas Wiegers, der als einziger vor dem Vorhang erschien, endete indes abrupt mit dem Wegziehen der Trennwand. Doch was dahinter erschien, war kein sagenhafter dritter Raum, sondern einfach die dämlich-nämliche Bühne, auf welcher der quälende Eineinhalbstünder fortan schonungslos seine ganze musikalische wie szenische Spannungs-, Belang- und Ideenlosigkeit offenbarte. Da war sie dann also, die nackte Realität, faktisch, haptisch, kahl und banal, ohne irgendetwas anders zu wollen, zu zeigen, zu sagen.