MusikTexte 161 – Mai 2019, 86

Dichotomien

Das Festival Teheran-Berlin Travelers 2 und eine Ausstellung

von Franziska Buhre

Zwischen Befehlsorgan und souveränem Generator musikalischen Ausdrucks kann die Trompete eine faszinierende Ambivalenz ausüben. Ihre Fanfare nimmt den öffentlichen Raum in Beschlag und duldet keine Abkehr, gleichzeitig signalisiert sie Durchsetzungsvermögen, militärischen Gehorsam und auch hymnische Überhöhung.

Während der offiziellen Feierlichkeiten zum vierzigsten Jahrestag der Gründung der Islamischen Republik Iran waren auf den Straßen Teherans politische Lieder zu hören. Das berichtete die Komponistin und Musikwissenschaftlerin Sara Abazari vor der Uraufführung ihres Werks für das Ensemble United Berlin, dem Veranstalter des Festivals „Teheran-Berlin Travelers 2“. In nur wenigen Tagen erarbeitete United Berlin unter dem Dirigat von Catherine Larsen-Maguire elf Kompositionen, darunter sieben Uraufführungen und vier mit Gästen beziehungsweise der gesamten Yarava Music Group aus Teheran, deren Leiter Mehdi Jalali ebenfalls eine Uraufführung beisteuerte.

Also Lieder zum Ruhm der Revolution, zur Erbauung, zur Bekräftigung des Status quo? Wie Abazari in ihrer Dissertation beschreibt,1 wurde im Iran ab Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die Militärmusik als eine der ersten akzeptierten westlichen Musikformen gelehrt, während nach der islamischen Revolution 1979 im Ministerium für Kultur und islamische Führung ein „Zentrum für Revolutionslieder“ eingerichtet wurde.

Ihre Komposition hat Abazari „…“40 genannt, also „Zitat, Fußnote 40“: „Die Revolu­tionslieder im Herzen des Stücks sind sehr flüchtig zu hören. Auf einer anderen Ebene zitiere ich Stücke, die mir persönlich nahe liegen, etwa von Schumann, Ives, Webern oder Alireza Mashayekhi. Man muss sie nicht bemerken, die Zitate tauchen auf und verschwinden wieder. Ich habe bewusst keine iranischen Instrumente gewählt und mich für eine eher tiefe Besetzung entschieden.“

Schlagwerk, Bassklarinette, Bratsche, Kontrabass, Klavier und Trompete verhalten sich disparat zueinander, wobei kurze Allianzen entstehen, im dunklen Grollen von Kontrabass und Klavier etwa, oder wenn messerscharfe Trommelwirbel und Trompetenkommandos ins Leere laufen. Die Instrumente wirken, als würden sie torkeln, kein Ansatz einer Erzählung vermag alle zu einen, die Ahnung eines funktionierenden Miteinander hat sich in dysfunktionale Einzelstimmen verkehrt – sehr vielsagend über die Atmosphäre in einem Land, in dem existentielle Zweifel den Alltag zermürben und kaum individuelle Formen von Erinnerung und Gedenken geduldet werden. Eine künstlerisch kluge Bestandsaufnahme des Vakuums aus Pflichten, Ungewissheit und unerwarteten Geschehnissen, in welchem die Menschen im Iran gegenwärtig leben.

Alireza Mashayekhi hingegen spannt mit seinem Werk „Teheran-Berlin 2019“ den Bogen in die deutsche Hauptstadt. Der 1940 geborene Komponist gilt als Wegbereiter der Neuen Musik im Iran. Er studierte in Wien und Utrecht und kehrte in den Neunzigerjahren zurück, um sein Wissen mit nachfolgenden Generationen zu teilen und nachhaltige Strukturen für Ensembles zu etablieren. Fagott, Flöte, Klarinetten, Posaune und Trompete schwelgen in seinem Stück durchaus in Melodien und dramatischen Zuspitzungen, Stolz und Wissbegier erklingen besonders nuancenreich bei den Bläsern. Die Streicher verleihen Klangfülle, wobei das Cello zuerst solistisch, am Schluss in flirrender Umgebung mit schwärmerischem Gestus die Hoffnung zu artikulieren scheint, über die extremen Gegensätze der beiden Städte Teheran und Berlin hinaus ließe sich Verbundenheit herstellen. Folgerichtig summen alle Musikerinnen und Musiker den letzten Ton gemeinsam.

Die Komponistin Fozieh Majd, geboren 1938 und eigens zur Uraufführung ihrer „Ballad for seconds“ aus Teheran angereist, verzichtet dagegen auf Klavier und Schlagwerk und lotet für Bläser und Streicher mit den iranischen Lauten Tar und Setar die Zwischenstadien von Sekundintervallen aus. Kristalline Strukturen werden unmerklich zu pulsierenden Gebilden, die Sekunde ist das Prisma, das Klänge in Spiegelungen und Echos auffächert und so ein erstaunliches Spektrum an Höreindrücken offenbart. Denkt man an die Ornamentik der Mosaike aus Millionen kleiner Spiegel oder glasierter Steine in der islamischen Architektur, wirkt das Werk noch eindrucksvoller.

Das Verhältnis von Mashayekhi und Majd zum Festival for Arts Shiraz-Persepolis könnte unterschiedlicher nicht sein. Über das Festival, das von 1967 bis 1977 in der Stadt Schiras und der antiken Stätte Persepolis veranstaltet wurde, zeigte die Galerie Savvy Contemporary im Rahmen der MaerzMusik die Ausstellung „Arche­o­logy of the Final Decade“. Kurator Vali Mahlouji hat zehn Jahre nach Spuren, Artefakten und Erzählungen des Festivals geforscht und präsentierte Fotos, Programmhefte, Plakate und seltene Fernsehaufzeichnungen in Sinne einer neuen Lesart damaliger Bestrebungen. Während der Ausstellungseröffnung rief er ins Gedächtnis: „Die meisten Künstlerinnen des Festivals waren Iraner, gefolgt von Künstlern aus Indien und aus dem globalen Süden. Von iranischer Seite her gab es ein Interesse, den Künsten aus Indien und Japan gegenüberzutreten. Ritualkulturen aus Afrika und Asien wurden als zeitgenössisch betrachtet, denn von ihnen konnte ein Wissenstransfer in Richtung der westlichen Avantgarde ausgehen.“ Werke von Masha­yekhi wurden beim Festival gespielt, er selbst aber boykottierte es und verbreitete die Ansicht, für die meisten Iraner sei es eine Show von Europäern für Europäer gewesen.2

Fozieh Majd hingegen verfolgte ein anderes Ziel: Sie war Beraterin des Kuratorenteams und ab 1969 Direktorin des „Zen­trums für Forschung und Sammlung der regionalen Musik“, eingerichtet vom National Iranian Radio and Television (NIRT), dem Hauptträger des Festivals. Majd brachte ins öffentliche Bewusstsein, dass neben klassischer iranischer Musik noch reiche regionale Musiktraditionen existieren und sorgte für Aufführungen von Gruppen aus Aserbaidschan, Kurdistan, Khorasan, Belutschistan und von der Insel Qeschm. Ihr Werk als Komponistin und Forscherin wäre in Programmen zeitgenössischer Musik, besonders in Europa, noch mehr zu würdigen. Sie war nicht so laut wie Masha­yekhi, der sich schon früh elektronische Musik angeeignet hat, und wurde als Frau nicht ebenso selbstverständlich gehört. Der Fokus, den United Berlin auf iranische Komponistinnen und Komponisten legt, ist lobenswert. Doch es fehlt an integrativen Konzertprogrammen, die nicht auf der Dichotomie West versus Naher Osten, Neue Musik versus traditionelle Musik, „Avantgarde“ versus Folklore fußen.

1Sara Abazari, Musik und Macht im Iran 1868–2012, Institut für Analyse, Theorie und Geschichte der Musik, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. 2013, unveröffentlicht.

2A New East-West Synthesis, Conversations with Iranian composer Alireza Mashayekhi by Bob Gluck, https://econtact.ca