MusikTexte 162 – August 2019, 91–98

Die Quadratur des musikalischen Kreises

Aspekte des Streichquartettschaffens im einundzwanzigsten Jahrhundert

von Rainer Nonnenmann

Mit Streichquartett muss gekämpft werden, bissig und liebevoll.

Wolfgang Rihm1

Komponistinnen und Komponisten, die kein Streichquartett schreiben, muss man inzwischen fast suchen. Interesse an der altehrwürdigen Gattung gibt es in allen Richtungen und Generationen. Das Streichquartett ist kein Museumsstück oder erstarrtes Fossil inmitten einer wirtschaftlich, kulturell, sozial, politisch und medial radikal veränderten Landschaft, sondern ein Bestandteil seiner Umwelt, mit der es lebendig interagiert. Während man Orchesterwerke nicht zwangsläufig mit der Gattung Symphonie verbindet, ist der Sog der Gattung Streichquartett unausweichlich, und das selbst bei erweiterter oder vervielfachter Besetzung. Eben diese Rückkopplung an eine bestimmte Tradition macht die Spezifik des Streichquartetts aus. Allerdings stellt sich dabei stets die Frage, auf welcher Ebene es sich noch um Quartette im Sinne der Gattung handelt oder lediglich um Stücke für diese Besetzung. Oft erweist sich der Bezug zur Gattungstradition gerade dann als besonders wirksam, wenn die Tradition gar nicht bewusst beschworen, zitiert oder alludiert wird, sondern versucht wird, sie mittels Abweichungen, Ausweitungen und Neuerungen von Kompositions- und Spieltechnik, Material, Besetzung, Aufführungspraxis und Verräumlichung zu brechen.

Das anhaltende Interesse am Streichquartett verdankt sich auch der Arbeit vieler ausgezeichneter Quartettformationen, die neue Werke in Auftrag geben und bei einschlägigen Konzertreihen und Festivals zur Aufführung bringen. An die Stelle älterer Ensembles wie Alban Berg, Arditti, Emerson, Juilliard, Kronos oder LaSalle sind längst erstaunlich viele jüngere, teils eigens auf neue Musik spezialisierte Formationen getreten: Asasello, Diotima, Elysion, JACK, Kairos, Kuss, Leipziger, Minguet, Mivos, Stadler, Sonar und andere. Sowohl die Formation als auch die Gattung sind keine Untoten, denen die Herz-Lungen-Maschine eines leerlaufenden Musikbetriebs bloß zu künstlicher Fortdauer verhilft. Vielmehr wird das Streichquartett weiterhin gebraucht als ein lebendiger Vorstellungs-, Reflexions- und Innovationsraum, so lange Künstlerinnen und Künstler „bissig und liebevoll“ mit ihm ringen und es neugierige Interpreten und Rezipienten dafür gibt.

Der folgende Überblick behandelt gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, vor allem aber nach 2000 entstandene Werke, um systematisch einige zentrale Aspekte zu skizzieren, mit denen diese sich von der Gattungs­geschichte abheben und zugleich damit verbunden bleiben: Transformation, Applikation, Multiplikation, Kommunikation, Spatialisation und Tradition. Da sich die meisten Werke unter mehreren Kategorien fassen lassen, widmet sich das letzte Kapitel unter dem Aspekt Expression allein Wolfgang Rihm, dessen umfangreiches Quartettschaffen stellvertretend für ein Œuvre steht, das sich wie viele andere gerade solchen Kategorisierungsversuchen widersetzt.

Transformation

Seit George Crumbs „Black Angels“ (1970) und York Höllers „Antiphon“ (1977) gibt es elektronische Verstärkungen, Zuspielungen und live-elektronische Transformationen des Streichquartetts. Höller hatte am Pariser Ircam Quartettklänge aufgenommen und am Computer verarbeitet, um sie wie ein unsichtbares zweites Quartett mit dem live spielenden Streichquartett zu kombinieren. Mit ganz anderer Computertechnologie entstanden am Ircam später auch Marco Stroppas „Spirali“ für in den Raum projiziertes Streichquartett (1987–1988) und Jonathan Harveys viertes Streichquartett (2004), in dem die gespielten Klänge live-elektronisch transformiert, verklirrt, transponiert und punktgenau nach exakt komponierten Rhythmen über Lautsprecher spatialisiert werden. Das Stück besteht aus sieben Zyklen, die jeweils von tonlosen Streichgeräuschen ausgehen, um sich dann zu anderen Klanglichkeiten zu entfalten. Huschende Gesten, atemhaftes Fauchen, flirrende Figuren, weite Linien oder volltönende Akkorde werden elektronisch zerflattert, verzittert und rotiert. Wie bei akusmatischer Musik schaffen wechselnde Verhallungen und Raumprojektionen charakteristische Akustiken wie von Gebäuden und Landschaften bis hin zu kosmischen Weiten, die visuelle Assoziationen und Narrative suggerieren. Je nach den im Raum wandernden Klangflächen oder regelmäßigen Bewegungen, tänzerischen Rhythmen und Repetitionen meint man Insektenschwärme, Weltraumflüge, Meditationen, Phantasie- oder Traumreisen zu erleben. Der vom Buddhismus beeinflusste Komponist beschrieb das Verhältnis zwischen Quartett und Elektronik lapidar: „The quartet is the dreamer, the spatialisation the dream ...“2

Ebenfalls am Ircam realisierte Chaya Czernowin die Elektronik ihres Streichquartetts „Hidden“ (2013/2014), ein dreiviertelstündiges Werk mit weiträumigen Klangflächen und Extremen zwischen dumpfem Rauschen und hohem Sirren sowie großen Lautstärken und Klängen am Rande des Hörbaren, die mehr atmosphärisch als akustisch wirken. Vor diesen Flächen erscheinen kleine Aktionen des live spielenden Quartetts mit übergroßer Präsenz und durch elektronisch gestreckte Diminuendi wie in Zeitlupe. Eine andere Erweiterung erfährt das Streichquartett in der „Music for five stringed instruments“ (1996, revidiert 1998) von Jay Schwartz. Das Quartett zuzüglich Kontrabass wird durch Gitarrenverstärker so verzerrt und über Lautsprecher räumlich abgestrahlt, dass durch den Saal sirrende Liegeklänge, Akkorde, Drones und Glissandi resultieren. Forcierte Spieltechniken bei gleichzeitig anschwellender Lautstärke und Rockgitarren-Verzerrung steigern das Geschehen körperlich-lustvoll zu rauschhaften Klangwolken.

Stefan Prins schuf mit „Infiltrationen 3.0“ für Streichquartett, zwei FX-Pedale und Live-Elektronik (2016) eine andere Version seiner „Infiltrationen“ (2009), bei denen vier flach auf Tischen liegende E-Gitarren von vier Spielern verschieden traktiert und mit Elektronik kombiniert werden. Zentrales Thema der gesamten Werkserie sind „infiltrations of technology and technology-based decisionmaking of human (inter)action and vice versa“.3 Bei „Infiltrationen 3.0“ liegen nun Streichinstrumente und diverse andere Utensilien wie auf Werkbänken, um sie mittels Feinmotorik und Mikrophonen abtasten und abhören zu können. Saiten und andere Bauteile werden gequetscht, gewischt, geschabt, getupft, geschlagen und in seltenen Fällen auch ordinario gestrichen. Die Partitur dafür wird in Echtzeit generiert und auf vier miteinander vernetzten Laptopbildschirmen wiedergegeben, damit die vier Musiker spontan darauf reagieren können. Die Anweisungen betreffen Spielarten, Klangmaterialien sowie Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis, um einen gerade gespielten Klang entweder sofort zu repetieren oder eine längere Passage später zu wiederholen. Pausen der Musiker werden automatisch mit vorproduzierten elektronischen oder konkreten Klängen gefüllt (Metall, Maschinen, Sprache, verzerrte Klassik und Popmusik). Zudem werden die Instrumentalklänge von zwei weiteren Spielern über FX-Pedale transformiert und verhallt sowie vom Komponisten mittels einer Switchbox abermals manipuliert. Eine Ebene „infiltriert“ die andere. Umgekehrt können auch die Musiker Einfluss auf Partitur und Klangverlauf nehmen, indem sie mit ihrem Spiel die Elektronik verdrängen und über eine Menüleiste auf den Computerbildschirmen für sich und die anderen Spieler neue Anweisungen abrufen. Die Instrumentalisten sind folglich sowohl Knechte als auch Herren des netzwerkartigen Interaktionsmodells, bei dem der von Technologie massiv „infiltrierte“ analoge Apparat primär als Spielkonsole mit neuer digitaler Interaktions- und Wirkungsweise dient.

Wieder anders funktioniert die Elektronik in Malte Giesens „Divertimento (modifications des surfaces)“ (2014). Der Typus frühklassischer Unterhaltungsmusik wird hier mittels Passagen aus zwei Mozart-Divertimenti in die Gegenwart weitergedacht, indem sirrende Boffer-, Glitch-, Scratch- und Noise-Sounds die Gattung aus der bürgerlichen Kammer in den anderen sozialen Raum der Club- und Jugendkultur verlagern. Bei „stock footage piece 1 : business“ für Streichquartett und Video (2018/2019) zieht Giesen dagegen Parallelen zwischen der Arbeitswelt des international agierenden Quatuor Diotima – das die Uraufführung bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik 2019 spielte – und den Professionals globaler Industrie-, Dienstleistungs- und Finanzkonzerne. Hier wie dort sind hohe Spezialisierung, Arbeitsteilung, Team­fähigkeit und Leistungsorientierung gefordert. Das Streichquartett erscheint so als eine spezielle Ausformung der von Max Weber beschriebenen protestantischen Kapital- und Wirtschaftsethik.

Sarah Nemtsov wiederum sieht für „Weggeschliffen – Streichquartett“ (2018) lediglich elektronische Verstärkung und Effekte ad libitum vor. Der anfangs extrem dichte, energetische und wenig binnendifferenzierte Gesamtklang weicht Passagen mit charakteristisch hervortretenden Spieltechniken: voller Bogen, Tremolo, Glissando, Springbogen, Streichen mit Reibestöcken, Pizzikato, Perforation, Flageolett, abreißende Crescendi und Hauchen auf dem Steg. Der Reihe nach werden so verschiedene Optionen des quadratisch-praktischen Blocks Streichquartett „weggeschliffen“.

Applikation

Ergänzungen des Streichquartetts durch ein fünftes Instru­ment haben eine lange Tradition in klassischen Klavierquintetten, Flöten-, Oben-, Klarinetten- und Hornquintetten. Nach dem Vorbild von Arnold Schönbergs zweitem Streichquartett fis-Moll, bei dem im dritten und vierten Satz eine Sopranstimme auf Gedichte von Stefan George hinzutritt, erweiterte auch Hans Zender seinen viertei­ligen Zyklus „Hölderlin lesen“ für Streichquartett mit Sprech- beziehungsweise Frauenstimme und wahlweise Tonband (1979, 1987, 1991, 2000) durch späte Oden-Fragmente von Friedrich Hölderlin. Auch Steve Reich integrierte per Tonband zugespielte Sprache in sein elek­tronisch verstärktes Streichquartett „Different Trains“ (1988). Kurze Wortfolgen „from New York“, „before the war“, „to Chicago“ sowie Zuggeräusche werden von den Instrumentalisten als rhythmisch-melodische Patterns imitiert. Wieland Hoban konterkarierte die kodifizierte Besetzung des Quartetts in „Scheinzeit“ für Kontrabass und Streichquartett (2008), indem er die ziselierte Rokoko-Sitzgruppe durch einen unvermittelt losbrechenden Kontrabass sprengt, der sich wie ein lautstark knarrender Massiveichenschrank in das empfindsame Meublement drängt, um es entsprechend „aufzumöbeln“.

In „rota“ (2008) implantierte Johannes Schöllhorn eine Kontrabassklarinette als widerborstigen Fremdkörper ins Streichquartett. Das Stück folgt rekursiven Prozessen zur Hervorbringung selbstähnlicher Strukturen, bei denen eine Ausgangskonstellation nach einem bestimmten Prinzip abgewandelt und das Resultat erneut demselben Variationsverfahren unterworfen wird, so dass eine Kette aus Derivaten von ebenso großer Varianz wie Verwandtschaft resultiert. Im Werkkommentar offenbarte Schöllhorn dieses Verfahren durch eine analoge Folge etymologischer Ableitungen des titelgebenden Begriffs „rota“ („…rose – rota – rota – rott – roug – roul – roun – roun – rout – rowd – roya“) mit in verschiedenen Sprachen, Zeiten und Kulturkreisen entsprechend unterschiedlichen Bedeutungen: Volkstanz, Zupfinstrument, Schriftrolle, Rund­tanz, Rondeau.4 Durch angeglichene Rhythmik, Dynamik, Artikulation, Register sowie tänzerische oder kantable Repetitionen, Läufe, Liege- und Mehrklänge vollzieht die Kontrabassklarinette eine erstaunliche Anamorphose an das Streichquartett. Die instrumentale Störung wird – wie das Sandkorn in der Auster – gleichsam mit Perlmutt überzogen, bis sich Streich- und Blasklänge kaum mehr unterscheiden. Schöllhorn treibt mutwillig einen spaltenden Keil mitten in die Gattung und folgt mit der kunstvollen Integration der zwischen zweiter Geige und Bratsche plazierten Kontrabassklarinette umso mehr dem seit Haydn gattungsspezifischen Konzept eines möglichst konsistenten Material- und Strukturzusammenhangs.

Multiplikation

Zu etwas Neuem umgebaut wird das Quartett auch durch Vervielfachungen. Giacinto Scelsis „Ohoi“ für sechzehn Streicher (1966) ist eine instrumentale Multiplikation seines dritten Quartetts (1963), die sich gemäß dem kosmologischen Untertitel „Die schöpferischen Prinzipien“ von einem einzigen Ton zu flirrenden Texturen verzweigt und am Ende wieder auf einen Ton ausdünnt. Aus dem vierten Quartett (1964) wurde „Natura renovatur“ für elf Streicher (1967). In „Aroura“ für zwölf Streicher (1971) von Iannis Xenakis basieren die in unterschied­lichen Geschwindigkeiten parabelförmig auseinanderstrebenden und sich überlagernden Glissandolinien – wie in „Metastaseis“ (1953/1954) – auf mathematischen Prinzipien beziehungsweise stochastischen Modellen. Mehrfachquartette sind auch Steve Reichs „Triple Quartet“ (1999) und seine Version von „Different Trains“ (1988) für Streichorchester (2000).

Das wohl am größten besetzte Multiquartett ist Horat¸iu Rădulescus viertes Streichquartett (1976–1987). Ein in der Mitte des Saals spielendes Quartett wird von acht weiteren Quartetten an den Rändern des Auditoriums umgeben. Insgesamt gelangen also hundertvierundvierzig teils skordierte Saiten zum Einsatz. Um den immensen Aufwand zu reduzieren, kann auch ein einzelnes Quartett alle anderen acht Quartette einspielen, um die Aufnahmen dann während des eigenen Live-Spiels um das Publikum herum von Lautsprechern wiederzugeben.

Adriana Hölszkys „Hängebrücken“ (1989/1990) besteht aus zwei unabhängig aufführbaren Streichquartetten, von denen das eine im oberen, das andere im unteren System der Partitur notiert ist. Beide Quartette – mit Widmung „an Schubert“ – lassen sich aber auch simultan spielen, indem die zwei Ensembles zuzüglich einiger weiterer Takte die beiden Notensystem unter sich aufteilen. Hölszky wollte, „daß die ,unendliche‘ Schubertsche (horizontale) Zeit in die Vertikale umgekippt wird“. Die übliche chronologische Abfolge verschiedener Techniken, Gesten und ganzer Abschnitte wird so simultan überlagert und zu gesteigerter Polyphonie verdichtet: Doppelgriffe, Liegeklänge, gezupfte oder geschlagene Impulse, tonlose Spielweisen und „,Paganini‘-Gesten“ mit Arpeggien, Vorschlägen, Skalen, Trillern, Tre­moli, Akkordfolgen und warmen „,es­pres­si­vo‘-Gesten“. Hinzu kommen „,Schu­bert‘-Felder“, bestehend aus verfremdeten Zitaten aus dem langsamen Satz von Schuberts Streichquartett d-Moll („Der Tod und das Mädchen“). Für den Fall, dass keine zwei Ensembles verfügbar sind, kann auch hier ein einzelnes Quartett die Partie des zweiten aufnehmen und dann simultan zum eigenen Live-Spiel zuspielen.

Enno Poppe komponierte bereits in jungen Jahren mehrere Streichquartette, bevor er „Tier“ (2002) und „Buch“ (2015/2016) veröffentlichte. Eine Quadratur des Quartetts ist sein „Wald“ für vier Streichquartette (2009/2010). Die Vervierfachung des traditionellen Apparats ermöglicht neue Quartettbildungen aus vier Bratschen oder vier Celli, verschiedene Doppel-, Tripel- und Quadrupelquartette in mehr­chöriger Gegenüberstellung, sowie vier autonome Streichquartette eines übergeord­neten Meta-Quartetts.

Oliver Schneller legte seinem „Amber“ für zwei Streichquartette (2012) eine elektronische Sequenz zugrunde, die er zunächst auf Tonhöhen, Amplituden und Dauern analysierte, um die ermittelten Quantitäten dann auf das verdoppelte Streichquartett zu übertragen. Die resultierende „Musik aus Musik“ lässt den Ursprungsklang allenfalls noch schemenhaft erahnen, zieht daraus aber ihre einheitsstiftende Wirkung. Der Titel „Amber“ charakterisiert den Vorgang, bei dem die elektronische Sequenz durch das instrumentale Medium wie ein Insekt im Bernstein eingeschlossen wird. Die zwei Quartettformationen sind so aufgestellt, dass sie sich an der Mittelachse beider Violoncelli symmetrisch entsprechen. Sie verhalten sich demzufolge stereophon zueinander oder wahlweise kontrastierend als Vorder- und Hintergrund.

Kommunikation

Obwohl der Form- und Werkbegriff in der Gattung Streichquartett stark ausgeprägt ist, wurden gerade hier besonders früh und oft mobile und offene Formen erprobt. Das liegt primär an der für die Gattung essentiellen Kommunikation und flexiblen Interaktion der vier Musiker, die einst Goethe mit der Unterhaltung von „vier vernünftigen Leuten“ verglich. Elemente von Indetermination, Aleatorik und Variabilität finden sich in Pierre Boulez’ „Livre pour quatuor“ (1949), Franco Evangelistis „Aleatorio“ (1959), Henri Pousseurs „Ode“ (1960/ 1961), den einzigen Streichquartetten von Witold Lutosławski (1964) und Earle Brown (1965), André Boucourechlievs „Archipel II“ (1968) und Christian Wolffs „Lines“ (1970). Roman Haubenstock-Ramati notierte sein erstes Streichquartett (1973) in sogenannten „Mobiles“. Das „mobile B“ ist wie ein schachbrettartiges Kreuzworträtsel angelegt, das aus allen vier Richtungen gelesen und gemäß am Rand notierter Vorgaben zu Saiten und Dauern unterschiedlich realisiert werden kann, entweder spontan oder gemäß einer vorab ausgearbeiteten Version. Der Werkbegriff wird dabei aufgelöst und gleichzeitig durch die nicht minder gattungstypische Emphase des kommunikativen Zusammenspiels gestützt.

Mauricio Kagels Streichquartette I und II (1965/1967) thematisieren Konventionen des Quartettspiels, indem sie diese negieren. Beide Stücke sind „Instrumentales Theater“ zum Zweck der Selbstreflexion des Quartettspiels, bei dem nicht-klingende Ereignisse und der institutionelle Rahmen der Aufführungspraxis mitkomponiert sind: Auf- und Abtreten der Musiker, Verständigung mittels Gesten und Blicken, traditionelle Rollenverteilung und Hierarchie, körperliche Bewegungen und An­stren­gungen. Zu Beginn von Quartett I betritt der Cellist allein die Bühne, wo er sich vorwurfsvoll nach den fehlenden Kollegen umsieht, schließlich zu seinem Platz geht, den Stuhl einen Augenblick zögernd in der Hand hält, sich dann aber auf den Stuhl des ersten Geigers setzt. Nach kurzem Verweilen erhebt er sich wieder, um sich dann doch auf seinen angestammten Platz zurückzuziehen. Die feste Ordnung des Streichquartetts mit tonangebenden Primarius wird so durch einen kleinen revolutionären Akt hinterfragt und auf diese Weise neu in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt.

Kagel verweigert den Musikern außerdem den eingeübten Zugriff auf ihre Instrumente. Die Saiten werden mit Stricknadeln, Streichhölzern, Büroklammern, Metallstiften, Papier- und Klebestreifen präpariert sowie traktiert mit Plektren, Reibestöcken, Holzstangen, Münzen und einem dicken Lederhandschuh über der Griffhand, der jede präzise Tongebung verunmöglicht. Ebenso soll der erste Geiger Griffbrett und Griffhand des zweiten Geigers unter einem Tuch verdecken, um diesem die verlangten Lagenwechsel und Flageoletts zu erschweren. Mit Ausnahme des bereits aufgetretenen Cellisten spielen die Musiker zunächst außerhalb der Bühne, um dann nacheinander zu erscheinen und sich zur traditionellen Quartettbesetzung zu formieren. Spezielle Regieanweisungen machen die Gattung auch als soziales Phänomen kenntlich: Die Musiker sollen Höflichkeiten austauschen, Blicke wechseln, Zeichen geben, sowie auf vier Stühlen in der Bühnenmitte und vier weiteren Stühlen am äußersten Bühnenrand unterschiedliche Konstellationen durchspielen: intim geschlossener Quartettkreis, solistische Eskapaden, autistische Abwendungen, weitest mögliche Entfernung aller voneinander. Hinzu kommt das Spiel mit konventionellen Genres: Geiger und Bratscher zupfen ihre Instrumente wie Mandolinen, als würden sie eine Serenade begleiten, deren Melodiestimme der bloß stumm auftretende Primgeiger jedoch verweigert. Und während die Geiger ihre Instrumente bequem wie zu klein geratene Gamben auf den Schoß nehmen, muss der Cellist versuchen, sein Instrument verkehrt herum wie eine überdimensionierte Geige mit der Schnecke auf dem Boden zu spielen.

Den Kommunikations- und Sozialcharakter der Gattung brachte keiner so lakonisch auf den Punkt wie der Fluxuskünstler George Brecht in seinem String Quartett (1962). Die „Partitur“ dieser Performance besteht lediglich aus einem kleinen Ereigniskärtchen mit der Anweisung „ shaking hands“. Die Spieler betreten die Bühne und geben sich wie zur Begrüßung gegenseitig die Hand – fertig.

Georg Nussbaumers „QuartettQuartett“ (2010) unterstreicht dagegen den Spielcharakter der Gattung. Es handelt sich um ein Kartenspiel in der Art eines „Quartetts“, bei dem üblicherweise Rennwagen oder Düsenjets nach Gewicht, Motorleistung, Drehzahl und Höchst­ge­schwin­digkeit ausgespielt werden. Bei Nussbaumer enthalten die Karten Angaben berühmter Streichquartette: Dichte des ersten Klangs, höchster beziehungsweise tiefster Ton, kürzester beziehungsweise längster Ton, Anzahl der Töne in Takt 88. Der jeweils extremste Wert sticht die Karten der Mitspieler. Notenkenntnisse vorausgesetzt kann dieses „QuartettQuartett“ von jedem gespielt werden. Kammermusik ist hier nicht hochprofessionalisierten Musikern überlassen, sondern gemäß der Tradition privater häuslicher Unterhaltung als Kartenspiel jedem zugänglich. Zudem wird der Leistungs- und Überbietungswettstreit, der die Gattung seit zweihundertfünfzig Jahren befeuert und die Interpreten immer wieder vor exorbitante Herausforderungen stellt, durch die absurde Isolierung technischer Daten parodiert.

Spatialisation

Den üblichen Rahmen von Kammermusik sprengte bisher keiner spektakulärer als Karlheinz Stockhausen in seinem „Helikopter-Streichquartett“ (1992/1993). Das Stück folgt dem alten Menschheitstraum vom Fliegen und ist „allen Astronauten“ gewidmet. Es entspricht der dritten Szene der Oper „Mittwoch“ (1995–1997) aus der Heptalogie „Licht“. Die vier Musiker sitzen jeder in einem Hubschrauber, mit dem sie abheben, zwanzig Minuten lang über dem Konzertort kreisen und dabei durch Clicktrack koordinierte Glissando-Linien tremolieren, die sich mit den pulsierenden Turbinen- und Rotorgeräuschen mischen. Über Mikrophone und Kameras wird das Geschehen in den Konzertort auf vier um das Publikum verteilte Videowände und eine Achtkanalanlage übertragen. Die Open Air-Flugshow hat augenscheinlich nichts mehr mit Kammermusik zu tun, verändert die Situation im Saal für das Auditorium jedoch nur wenig, weil sich wegen der rein medialen Vermittlung aller Ereignisse kaum unterscheiden lässt, ob draußen im Freien wirklich alles in Echtzeit passiert oder bloß Video- und Audioaufnahmen reproduziert werden. Den Live-Charakter unterstreicht indes ein Moderator – zu seinen Lebzeiten Stockhausen selbst –, der zu Anfang die Musiker und Piloten vorstellt, Technik und Verlauf des Stücks erläutert und nach der Aufführung die Akteure wieder im Saal begrüßt.

Konträr zum herkömmlichen Dispositiv verhält sich auch das dreiviertelstündige erste Streichquartett „im Raum“ (2005/2006), das Dieter Schnebel erst im Alter von fünfundsiebzig Jahren schrieb. Äußerlich klassisch viersätzig weicht die Faktur gleich zu Beginn von der Gattungstradition ab, denn in der Mitte der Bühne sitzt nur der Cellist – vielleicht als Reminiszenz an Kagels erstes Streichquartett. Die anderen Streicher befinden sich dagegen möglichst weit im Raum verteilt: erste Geige in einer Ecke der Bühne, zweite Geige und Bratsche links beziehungsweise rechts hinten im Saal. Anfangs wandern Pizzikati von Instrument zu Instrument, so dass eine Impulsfolge durch den Raum kreist. Ähnliches geschieht mit zeitlich versetzten Umspielungsfiguren, Einzeltönen, Rauschklängen und Repetitionen. Mit zunehmender Konturierung des Materials verdichten sich die Partien zu einem vierstimmigen Satz und auch die Spieler nehmen nacheinander auf dem Podium Platz. Das Publikum erlebt so hör- und sichtbar die Zusammensetzung der zuvor dissoziierten Formation.

Im zweiten Satz stecken die Musiker ihre Köpfe so eng wie möglich zusammen, indem sie über den auf dem Boden liegenden Noten einen verschworenen Kreis bilden. Das Gattungsideal verinnerlichter Hausmusik wird so in Szene gesetzt und Kammermusik als eine Kunstform kenntlich, deren Hermetik mehr für die Spieler selbst als für ein Publikum bestimmt ist. Der Bezeichnung „Scherzo“ entsprechen rhythmische Verschiebungen 4 + 3, 5 + 2, 6 + 1 innerhalb eines obligaten Siebenachtel-Metrums sowie perkussive Aktionen mit Bögen, Fingerkuppen, Knöcheln und Nägeln auf Saiten und Korpus. Mit dem Wechsel zu herkömmlichem Bogenspiel wenden sich die Musiker abrupt voneinander ab. Mit den Rücken zueinander spielen sie fortan in antiphonaler Gegenüberstellung von Ober- und Untersatz demonstrativ nach außen. Später gestalten sie auch homophone Tutti-Aktionen blockweise sitzend oder nebeneinander aufgereiht zum Publikum gerichtet. Die wechselnden Formierungen verdeutlichen typische Charaktere und Satztechniken des Quartettspiels: private Kammer- und öffentliche Konzertmusik, Introversion, Extroversion, Polyphonie, Mehrchörigkeit, Homophonie und orchestrales Tutti. Im dritten Satz „Adagio“ verdichtet Schnebel durch den Raum laufende Unisono-Linien stellenweise zu klassisch-romantischen Motivkernen, Seufzersekunden, Begleit- und Terzpendelfiguren, choralartigem Idiom und endlich zu einem skelettierten Zitat des Anfangs von Anton Bruckners fünfter Sinfonie.

Im Raum verteilt sind die Musiker auch beim dritten Streichquartett „strings (Echo VII)“ (2008/2012) von Robert HP Platz und dessen medialer Erweiterung „Strings“ für Streichquartett, Sopran und Elektronik nach Gedichten von Alban Nikolai Herbst (2017). Georg Friedrich Haas lässt in seinem dritten Streichquartett „In iij. Noct.“ (2001) die Musiker nicht nur räumlich getrennt agieren, sondern idealerweise auch in völliger Finsternis. Sie entbehren folglich sowohl die gemeinsame Sicht auf die verbal notierte Partitur als auch ihre übliche Verständigung mittels Gesten und Blicken. Verbunden sind sie allein durch die Klänge und konzentriertes Aufeinander-Hören.

Tradition

Dem Verhältnis von kompositorischer Selbstbehauptung und übermächtiger Tradition stellen sich viele Komponistinnen und Komponisten bevorzugt in Streichquartetten. Zu einem Schlüsselwerk des Quartettschaffens nach 1960 wurde György Ligetis fünfsätziges zweites Streichquartett (1968). Die von Penderecki, Michael von Biel und anderen bereits erweiterten Spiel- und Klangpraktiken wurden hier durch Anknüpfungen an Beethoven und Bartók wieder bewusst in eben jenen von Haydn und Beethoven über Schönberg und Webern überlieferten Gattungsanspruch gestellt, der sich als Tradition des fortgesetzten Bruchs mit der Tradition beschreiben lässt.

Eigens thematisiert wird das Verhältnis zur Tradition auch in den vier Streichquartetten von Alfred Schnittke sowie in Jörg Widmanns fünfteiligem retrospektivem Quartettzyklus. Die Auseinandersetzung mit bestehender Musik kennzeichnet auch das Schaffen von Daniel Smutny. Sein viersätziges erstes Streichquartett (2009) spielt mit der klassisch-romantischen Tradition ähnlich dem Pluralismus von Bernd Alois Zimmermann, Schnittke oder dem „inklusiven Komponieren“ von Wolfgang Rihm: „Mein Komponieren heißt Integration verschiedener Heterogenitäten und schauen, was sich als Zwischenraum, Reibung dabei bildet.“5 Charakteristische Gesten von Beethoven, Brahms, Janáček und Berg bis zur zeitgenössischen Musik prallen in einer Fülle und Härte aufeinander, die die Ausdruckskraft des zersprengten Materials ebenso blitzhaft entfaltet wie aus distanziertem Blickwinkel in seiner historischen Bedingtheit relativiert. Smutnys „So zaghaft diese Worte der Nacht“ für Streichquartett (2008) bezieht sich auf Helmut Lachenmanns „Gran Torso“. Atemhafte Streichgeräusche auf Steg, Zarge und Saitenhalter wirken wie eine Stilkopie. An der unteren Hörschwelle ist die intrikate Rhythmik passagenweise anhand sichtbarer Spielbewegungen mehr ahn- als hörbar. Erst gegen Ende wird die Lachenmannoide Klangwelt plötzlich durch tickende Flageolett-Ostinati ersetzt und als uneigentliche Musik aus Musik ironisiert.

Den Blick über den Tellerrand der europäischen Musikgeschichte weitete der koreanisch-deutsche Komponist Isang Yun. Seinem 1960 beim IGNM-Weltmusikfest in Köln uraufgeführten dritten Streichquartett folgten später drei weitere Quartette, in denen er ebenfalls interkulturelle Synthesen von europäischer Tradition, internationaler Avantgarde und der Musik seines Heimatlands Korea intendierte. Die westlichen Streichinstrumente werden mit variierten Spieltechniken, Glissandi, Vibratio­nen und mikrotonalen Schwankungen wie in traditioneller koreanischer Musik gebraucht. An die Stelle von struktureller Arbeit und Polyphonie tritt ein fortwährend fluktuierender Klang. Westliche und fernöstliche Tradi­tionen verbinden in ihren Quartetten auch Tōru Takemitsu, Younghi Pagh-Paan, Toshio Hosokava, Unsuk Chin, Misato Mochizuki, Malika Kishino und andere. Über die abendländische Musikgeschichte hinaus blickt auch der aus Südafrika stammende Kevin Volans, der in Köln bei Stockhausen und Kagel studierte. In seinem zweiten Streichquartett „Hunting: Gathering“ (1987) verwendet er Rhythmen, Skalen und Timbres afrikanischer Mbira- und Eintonflötenspieler als Patterns wie in Minimal Music. Auch in anderen Werken versucht er, den „Afrika-Virus“ in die westliche Musik einzuschleusen. Friedrich Cerha wiederum lässt gleich zu Anfang seines ersten Streichquartetts (1989) – dessen elf Abschnitte durch verschiedene „maqām“-Skalen jeweils einen anderen rhythmischen, klanglichen und gestischen Charakter erhalten – die Bratsche wie einen Vorsänger mit einem vierteltönigen Melos heraustreten, das sich unverkennbar dem Vorbild arabischer Musik verdankt.

Expression

Einen eigenen Kosmos bildet das Quartettschaffen von Wolfgang Rihm. Schon als Vierzehnjähriger schrieb er ein „Quartett in g“ (1966) und als Achtzehnjähriger seine Streichquartette opus 2 und opus 10 (1970). Bis heute komponierte er dreizehn Streichquartette, weitere zehn Stücke für Streichquartett – darunter den Zyklus „Fetzen“ (seit 1999) und „Dithyrambe“ für Streichquartett und Orchester (2000) – sowie etliche Quartette mit Zusatzinstrumenten wie Akkordeon oder Klarinette. So verschieden alle diese Werke zur Gattungstradition stehen, so unterschiedlich äußerte sich Rihm auch verbal zum Streichquartett. Mal grenzte er sich bewusst davon ab, indem er das Streichquartett pragmatisch zur bloßen In­strumentalkombination neutralisierte, mal verstand er das Quartett wegen dessen klanglicher Homogenität und Spannweite von der Bass- bis zur Sopranlage doch wieder im Sinne der polyphonen Gattungstradition als ein „in sich mehrfach dialogisches Instrument“.6

Nach verbreiteter Meinung produziert Rihm Musik wie er atmet, also permanent und ohne Unterlass gleichsam aus dem Bauch heraus. Die „tagebuchartige“ Trias seines fünften, sechsten und siebten Streichquartetts (1981–1985) entstand – obwohl über einen längeren Zeitraum – angeblich rauschhaft in einem Zug. Rihms Ideal des „vegetativen Komponierens“, das sich ohne Rücksicht auf Strategien, Rezepturen, Systeme, Formmodelle oder Materialtheorien gleichsam naturhaft fortzeugt, stützt die Auffassung, sein spontaneistisches Schaffen würde keine thematisch-motivische Arbeit und großformalen Architekturen kennen. Dennoch finden sich in der Sammlung Wolfgang Rihm der Paul Sacher Stiftung in Basel einige tausend Seiten an handschriftlichen Skizzen, Fragmenten und für manche Werke umfangreiche Vorstudien und Verlaufspläne.7 Dass sich Rihms Musik nicht auf triebhaftes Wachstum reduzieren lässt, zeigt eindrücklich die konstruktive Verwendung von Kernintervallen, Zentralmotiven und formal wirksamen Ableitungen in „Grave“ für Streichquartett (2005), wo rhetorische Figuren zudem ebenso existentielle wie persönliche Botschaften vermitteln.

Das Stück ist „in memoriam Thomas Kakuska“ dem Alban Berg-Quartett gewidmet, dessen Bitte nach einem Requiem für dessen soeben verstorbenen langjährigen Bratschisten Rihm umgehend nachkam. Am Anfang stehen Siebentonakkorde mit einer aus dem Namen „Kakuska“ abgeleitete multiharmonische Spannung zwischen a-Moll, es-Moll und A-Dur, die sich in einem nachfolgenden polyphonen Espressivo mit Seufzersekunden sowie oktavgespreizten Nonen und komplementären Septimen fortsetzt. Als die Musik bereits in vollem Gang ist, wird sie plötzlich von einem mehrmals ins Fortissimo anschwellenden Siebentonklang unterbrochen. Nach fahlem Streichgeräusch auf den Stegen spielt die Bratsche – vom Cello karg begleitet – einen regelrechten passus duriusculus, einen chromatischen Abstieg, der im Nichts einer Generalpause verebbt. Das alles sind rhetorische Figuren von Aufschrei, Schmerz, Sterben und Tod. Es folgt ein gebrochener dis-Moll-Septakkord in Form eines liegenden Kreuzes, dessen vier Töne fis-dis-cis1-ais ­alle Kreuzvorzeichen haben, und dessen Spitzenton enharmonisch verwechselt und oktaviert dem vorherigen Tiefpunkt des entspricht. Das ist tonsymbolische Ohren- und Augenmusik in bester Barocktradition. Der katholisch erzogene Komponist wendet seinen Epitaph zu einem „Resurrexit“, indem er den „schweren Gang“ durch Nacht und Tod unversehens zur Auferstehung der Stimme des verstorbenen Bratschers verwandelt.

Nachdem die Bratsche zunächst im dreistimmigen Satz weitgehend ausgespart wurde, um die vom Tod geschlagene Lücke klaffen zu lassen, darf sie sich anschließend umso prominenter hervortun, zunächst noch in Abspaltungen des Kreuzmotivs stockend, dann mit vollem Vibrato, weiten Kantilenen und einem schleppenden Walzer „un poco più animato“ immer höher, schneller, kräftiger. Der Totentanz wird jedoch plötzlich von schweren Tutti-Akzenten abgeschnitten. Das Geschehen versiegt erneut in tonlosen Bogenstrichen und zersprengten Kreuzfiguren. Im vierfachen Piano schließt sich ein choralartiges „Grave (un poco più lento)“ an, ein expressiver Klagegesang aus Dur- und Moll-Akkorden mit ungewöhnlich modulierenden Vorhalts- und Durchgangstönen. Nach starkem Tutti-Unisono a wirkt die schnell abwärts glissandierende verminderte Oktave c 1-cis der Viola sowohl als neuerliches Todes- wie als Auferstehungssymbol, denn im jähen Absturz erfolgt durch das ebenso harmonisch alterierende wie christlich symbolische Kreuzzeichen zugleich die rettende Aufhellung der Moll- zur Dur-Terz. Die Trauermusik verebbt schließlich in richtungslosen Repetitionen, atemhaften Bogengeräuschen und trockenen Einzeltönen. Den Schlusspunkt setzen erneut dissonante Siebentonakkorde wie zu Anfang. Trotz verheißener Erlösung bleibt der Schmerz des Verlusts.

1Wolfgang Rihm, Kommentar zum fünften Streichquartett „Ohne Titel“ (1981–1983) (1985), in: Derselbe: ausgesprochen.
Schriften und Gespräche Band 2, Mainz: Schott, 1998, 330.

2Jonathan Harvey, Werkkommentar zum vierten Streichquartett (2003), www.fabermusic.com, Stand: 22. Februar 2019.

3www.stefanprins.be, Stand: 13. März 2019.

4Johannes Schöllhorn, Werkkommentar zu „rota“, in:
Programmbuch Wittener Tage für neue Kammermusik 2009, Saarbücken: Pfau 2009, 71.

5Daniel Smutny zitiert nach Hans-Peter Jahn: Mit roman­tischem Kalkül Trümmerlandschaften bauen. Einige Be­merkungen zu Daniel Smutnys neuen Kompositionen, in: Daniel Smutny, Porträt-CD der Reihe Edition Zeitgenössische Musik des Deutschen Musikrats, Mainz: Wergo. 2012.

6Silvia Ragni, Der Taumel der Gegensätze im Gleichgewicht. Gespräch mit Wolfgang Rihm (1991), in: Wolfgang Rihm, ausgesprochen, Band 2, siehe Fußnote 1, 219.

7Vergleiche Joachim Brügge, Wolfgang Rihms Streich­­quar­tette. Aspekte zu Analyse, Ästhetik und Gattungstheorie des modernen Streichquartetts, Saarbrücken: Pfau 2004, 125.