MusikTexte 165 – Mai 2020, 68–74

„Anekdotische Musik“ – mit einem Lächeln

Brunhild Meyer-Ferrari im Gespräch über Luc Ferraris „Hétérozygote“ und „Presque rien“

mit Christoph von Blumröder, Maximilian Domma, Marcus Erbe und Leopoldo Siano

Christoph von Blumröder (CvB): Wenn man so will, dann hat unsere heutige Veranstaltung [am 18. Januar 2013], also das Gespräch und das anschließende Konzert, eine gewisse Vorgeschichte dergestalt, dass wir bereits vor rund einem Jahrzehnt miteinander in Kontakt standen in der Absicht, Luc Ferrari hier zu Gast zu haben, ihn seine Musik präsentieren zu lassen und mit ihm zu diskutieren, was sich damals leider nicht mehr realisieren ließ. Insofern holen wir das Vorhaben heute in notgedrungen reduzierter Besetzung nach: Wir sprechen über Luc Ferraris Werk und dabei über einen ganz besonderen Aspekt, der sich als eine wesentliche Tendenz der jüngeren Musikgeschichte etabliert hat, nämlich seine Musique anecdotique, die Anekdotische Musik. Dabei drängt sich unweigerlich als Erstes die Frage auf, wie es dazu gekommen ist, dass Luc Ferrari solch eine Idee entwickelt hat. So etwas geschieht doch in der Regel nicht über Nacht.

Brunhild Meyer-Ferrari: Nein, es geschieht nicht über Nacht. Ich denke, es kam dadurch, dass er viele Tonaufnahmen gemacht hat, um damit Filme zu belegen. Er war oft mit einem Freund unterwegs, sie drehten Dokumentarfilme. Luc übernahm den Ton und der Freund das Bild. Und so hatte Luc viel Tonmaterial gesammelt, das er für die Filme gar nicht brauchte. Er ließ sich dann dazu verleiten, dieses Tonmaterial auf seine Weise zu verarbeiten und zu benutzen. Dabei sagte er sich: „Mit diesem Klangmaterial kann man so gut komponieren wie mit Tönen.“ So kam es zu seinem ersten Stück „Hétérozygote“ [Petite symphonie intuitive pour un paysage de printemps, 1963–1964], in dem er die Klänge bearbeitet, verformt oder mit anderen Geräuschen gemischt hat, so dass das Narrative nicht mehr so evident war. Eben durch die Tatsache, dass es mit Tönen unterlegt war oder mit einem anderen Geräusch, das mit jenen nichts zu tun hatte. Die verschiedenen Bilder in „Hétérozygote“ waren von Intermezzi, von Zwischenspielen, unterbrochen. Diese waren nun entweder reine Musique concrète oder Musique concrète, die mit Instrumenten unterlegt war.

CvB: Es wird sicherlich der Veranschaulichung dienen, wenn wir das erste Werk „Hétérozygote“ der Musique anecdotique etwas näher betrachten.

Ferrari hat sie „Musique anecdotique“ genannt, aber mit einem Lächeln, da der Begriff eigentlich sehr pejorativ ist. Diese Bezeichnung hat er aber so gelassen und die Musik weiterhin Musique anecdotique genannt, weil sie schließlich auch so ist.

CvB: Zum Werk „Hétérozygote“ haben Sie dankenswerterweise ein paar Skizzen, Arbeitspläne mitgebracht. Was könnte man sich denn als Erstes anschauen, um einen Eindruck zu konkretisieren?

Vielleicht können wir einmal die Sequenz 3 nehmen. Das sind Misch-Seiten, Misch-Vorbereitungen. Die Bogenlinien sind meistens Wellen, die er sehr viel benutzt hat und die jedes Mal auch ein Bild von einem anderen trennen. Die sind immer dazwischengelegt.

CvB: Da sieht man jetzt V 1, 2, 3, 4“.

Das sind die Misch-Spuren, mehr kann ich dazu aber kaum sagen. Das ist eindeutig, denke ich. Das ist vorne rechts, vorne links, hinten rechts, hinten links.

CvB: Das heißt, Luc hat die Komposition vierkanalig ausgearbeitet. Aber für die Konzertwiedergabe hat er eine stereophone Abmischung hergestellt?

Ja, stereophon. Damals gab es diese Akusmatik so wie heute noch nicht. Er wollte auch ein leicht aufführ­bares Stück machen, und das konnte man mit vier Kanälen nicht, oder nur schlecht. Er hat immer stereophon gearbeitet. Das war ihm wirklich ein Anliegen. Nicht nur aus praktischen Gründen, sondern er meinte: „Man hat zwei Ohren, und das muss genügen.“

Marcus Erbe (ME): Aber wurde dann bei der Realisation überhaupt vierkanalig abgehört? Oder kam es letztlich, obwohl es die räumlichen Angaben wie vorne links, vorne rechts und so weiter gab, zu einem stereophonen Abhören?

Ja, er hat ein bisschen mit den Kanälen gespielt, wenn er davor saß. Aber meistens war es stereophon, weil es schon so gemischt war, dass man nicht mehr eingreifen musste oder durfte. Nehmen wir das nächste Beispiel: Hier sieht man die Flötenmelodie, das ist das Ende der ersten Sequenz. Damit, wie er das angeordnet hat, bin ich nicht ganz zurechtgekommen, denn ich bin nach den Zahlen oben gegangen, nach den Sekunden. Ich denke, für ihn war die Reihenfolge noch nicht ganz klar, als er diese Skizzen gemacht hat.

CvB: Maximilian Domma durfte die Skizzen für seine Magisterarbeit über „Hétérozygote“ verwenden und kann möglicherweise einige Fragen detaillierter beantworten.

Maximilian Domma (MD): Die Frage, inwiefern die Sequenzen hier schon in ihrer Reihenfolge festgelegt sind, kann ich so genau auch nicht beantworten. Sicher ist, dass Ferrari die Sequenzen einzeln bei Null beginnend entsprechend ihrer Länge mit einer Zeitlinie in Sekundenangaben versehen hat. Hier zeigt sich aber bereits, wenn er „Première séquence. Fin“ schreibt, dass an dieser Stelle die erste Sequenz in der zweiten Sequenz ihr Ende findet.

„La flûte et le Manitou war die Einführung, und hier ist jetzt wirklich das Ende dieser Einführung, danach kommt das erste Bild. Das ist alles sehr fein notiert. Hierbei geht es um Improvisa­tion, was die Mischung betrifft.

CvB: Es ist, teilweise in Sekundeneinheiten, eine sehr differenzierte Notation, die vorgibt, wie bestimmte unterschied­liche Materialien ineinander spielen oder geklebt werden müssen, was damals noch die gängige Methode war.

Die zweite Sequenz beginnt mit Steinen, die am Strand geworfen werden. Und hier ist das Spiel der Wellen, damals arbeitete er mit Wellen. Er hat zum Beispiel Aufnahmen von Meereswellen kopiert und sie zu gleicher Zeit ablaufen lassen. Daraus hat sich ein Phasenbild ergeben, was er mit einem Gerät damals nicht realisieren konnte. Das war sehr beeindruckend. Wenn man heutzutage diesen Phaseneffekt er­halten will, kriegt man ihn nicht mehr so recht zustande, auch mit neuen Geräten nicht. Luc ist es nicht gelungen, und auch den meisten anderen nicht, nicht in dieser Lebendigkeit .

CvB: Luc hatte also die Materialien schon gesammelt, und in diesem Stadium ging es darum, aus den Materialien eine Komposition herzustellen, und zwar anders, als es der Ausdruck „anekdotisch“ vermuten lassen könnte. Da ist nicht einfach improvisatorisch etwas zusammengewürfelt worden, sondern er hat im Gegenteil sehr planvoll organisiert.

Alles ist sehr präzise organisiert. Alle Elemente, die er hinzugefügt hat, also das Instrumentenspiel oder andere Klänge, die er noch dazu aufgenommen hat, zum Beispiel die Frauenstimmen, sind sehr genau überlegt und zeitlich berechnet.

CvB: Gibt es vielleicht zur Veranschaulichung einen Überblick über das Werk für diejenigen, die nicht so vertraut mit „Hétérozygote“ sind?

MD: Wenn das dieselbe Ordnungsstruktur ist, wie ich sie kenne, wäre es eine Möglichkeit, zumindest in der obersten Reihe die einzelnen Tableaus zu zeigen.

Das ist eine Erweiterung gewesen, die für die Bühne bestimmt war, daraus hat er aber nie etwas gemacht. Hier sieht man die Bühne und die verschiedenen Charaktere. Da sind Komik, Dramatik, alles wird wiederholt.

MD: Hier sieht man die Schnelligkeit der Musik.

Weiter sieht man hier die Bilder, das alles sollte ein Bühnenspiel werden, aber dazu ist es nie gekommen. Das sind die Vorbereitungen zu diesem Bühnenspiel und den verschiedenen Bildern mit Tänzern, mit dem Publikum, das daran teilnehmen sollte. Ich kann mich nicht genau erinnern, was er damit vorhatte. Ich denke, damals wollte er einfach ein komplettes „Spektakel“ machen, so sprach man damals darüber. Er hat es dann aber bei einem Stereostück belassen.

CvB: Man kann erkennen, dass es unterschiedliche Sequenzen gibt. Laut seiner Einführung ist die Komposition in acht Bilder gegliedert: Ouvertüre, erstes Bild „Die Flöte und der Manitu“, Zwischenspiel 1, zweites Bild „Die Meteore“, drittes Bild „Der Strand“, Zwischenspiel 2, viertes Bild „Die Grotte (oder in Ordnung bringen)“, fünftes Bild „Arithmetik“, sechstes Bild „Vom Morgengrauen bis mittags auf dem Markt“, Zwischenspiel 3, siebtes Bild „Das Gefängnis“, Zwischenspiel 4, achtes und abschließendes Bild „Geometrie des Himmels“.

Dazu schreibt er: „In der Biologie bedeutet ,Hétérozygote‘ eine Pflanze, deren Heredität gemischt ist. Dies will bedeuten, dass in dieser Komposition versucht wird, eine Sprache zu erfinden, die sich sowohl auf einer musika­lischen wie auf einer dramatischen Ebene befindet. Man könnte diese Art von Musik eine anekdotische Musik nennen. Auch wenn die Organisation von Ereignissen rein musikalisch ist, so rechtfertigt die Wahl der Situa­tionen sich auf zwei Stufen, derjenigen der Musik und derjenigen der Anekdote. Die Anekdote wird jedoch kaum formuliert und mag verschiedenartig interpretiert werden. Hier wird der Hörer eingeladen, seine eigene Geschichte dazu zu erfinden und, wenn nötig, diejenige, die der Autor suggeriert, abzulehnen. Genauer gesagt schlägt der Autor einen anekdotischen Komplex mit möglicherweise mehreren Bedeutungen vor. Das Werk, dem eine Ouvertüre vorausgeht, besteht aus acht Bildern, die von Zwischenspielen getrennt sind oder auch nicht. Und wollte man das Paradox weiter treiben, könnte man sagen, dass die Titel der Bilder fakultativ und die Zwischenspiele ebenfalls Bilder sind […]. ,Hétérozygote‘ wurde zwischen Dezember 1963 und März 1964 komponiert und dauert siebenundzwanzig Minuten.“

ME: Ich finde es interessant, dass diese Idee einer semantischen Vieldeutigkeit auch in gewisser Weise in der Tradition der Musique concrète, der Musique acousmatique vorhanden ist. Der Unterschied ist vielleicht, dass das Angebot an den Hörer, etwas an der Musik zu interpretieren oder innere Bilder dazu zu entwickeln, mit weitaus abstrakteren Klängen gemacht wird. Bei Lucs Stücken sind es konkretere Klang­ereignisse, aber dennoch tritt, wenn man die Stücke hört, ein ähnlicher Effekt ein; obwohl man eine Strandlandschaft vernehmen kann, kann man sich nie ganz sicher sein, was man eigentlich hört, weil das Bild dazu fehlt. Das ist ein interessanter Effekt, der sich vielleicht von Kompositionen, die mit abstrakteren Materialien arbeiten, noch unterscheidet, weil die Unsicherheit beim Hörer unter Umständen noch größer ist. Es ist irgendetwas da, was greifbar ist, aber letztendlich kann man es doch nicht so richtig fassen.

Das war auch seine Absicht. Er wollte schon das Anekdotische, nur nicht das Narrative. Mit diesem Stück hat er Pierre Schaeffer sehr geärgert, weil man den Ursprung der Klänge erkennt und die Klänge nicht verformt und somit abstrakt geworden sind, wie es von der Musique concrète gefordert wurde. Das war die Maxime. Schaeffer hat sich wirklich darüber aufgeregt und Luc war sehr enttäuscht. Er hatte wirklich geglaubt, dass es gefallen würde. Und so haben sich die beiden voneinander entfernt, leider. Luc ist aber dabei geblieben, bis zum Schluss, denn er hat in den letzten Jahren ein Stück komponiert, das „Les Anecdotiques“ heißt und tatsächlich aus Anekdoten besteht, aus Bildern, die er auch auf Reisen aufgenommen und fast so gelassen hat, wie die Aufnahmen waren. Nehmen wir das Stück „The Ranch“. Da ist eigentlich sehr wenig Arbeit dran. Es ist Mischarbeit, Schneidearbeit, aber es ist keine Verfremdungsarbeit. Dieses Mal ist es sehr eindeutig. Der Reiter, der durch das Flüsschen reitet, und dann die Cowgirls in ihrem Dia­log mit den Tieren [Klangbeispiel auf YouTube].

CvB: Dies ist ein sehr schönes Beispiel dafür, dass es nicht ganz ohne Humor montiert wurde. Die Menschenstimmen am Anfang werden mit den Tierstimmen mehr und mehr zur Symbiose geführt. Das lässt einen doch herzlich schmunzeln, wenn man so etwas hört.

Er war von all diesen Stimmen sehr eingenommen Es war etwas Besonderes, das wir nicht jeden Tag hören. Das wollte er natürlich vortragen. Und den Humor hatte er schon immer, in allen Stücken. Es gibt kein Stück, in dem nicht auch Humor steckt. Aber zur gleichen Zeit tritt in jedem Stück eine Tragik auf. Das kommt ganz besonders in seiner Sinfonie „Histoire du plaisir et de la désolation“ zum Vorschein, ein Stück für großes Orchester. Darin gibt es viel Humor, aber es endet sehr traurig und tragisch. Das ist in vielen seiner Stücke der Fall, ob das nun elektroakustische Stücke sind oder instrumentale. Ein anderes Beispiel aus „Les Anecdotiques“ ist „Les portes du Rove“. Es handelt sich um ein Tor, das zu einem Tunnel führt, durch den ein Wasserkanal aus den Bergen ins Mittelmeer fließt. Aufgenommen wurde es in der Nähe von Marseille, in l’Estaque, einem Fischerdorf. Jedenfalls hört man das Tor [Klangbeispiel auf YouTube]. „Les Anecdotiques“ war ein Stück, das er für das Deutschlandradio Berlin gemacht hat.

CvB: Das Beispiel verdeutlicht, dass die Komposition solcher anekdotischer Musik auf einem gleichsam analytischen Hören der Umwelt basiert. Das Quietschen hat eine bestimmte Tonhöhenstruktur, und – wie mit Musikinstrumenten dargeboten – wird dem Hörer sozusagen bewusst gemacht, dass unterschiedliche Tonhöhen wahrgenommen werden können.

Das sind keine Musikinstrumente, das ist das Tor. Das ist nur das Quietschen, das Luc geschnitten und gemischt hat. Unterlegt wurde später nur der Rhythmus.

ME: Ist es nur ein Aushören der Umwelt, oder ist nicht auch ein spielerisch-instrumentaler Teil dabei? Ich hatte das Gefühl, das Tor wurde nicht nur einfach mikrophoniert, sondern gespielt. Wie wurde das bedient? Hat Luc das gemacht?

Luc hat es gespielt. Wir waren zu mehreren, und möglicherweise habe ich das Mikrophon gehalten in der Zeit, wo er damit gespielt hat.

ME: Ich finde, es gibt eine gewisse Parallele zu dem Beispiel mit der Ranch, nur dass dort der Eingriff nicht stattgefunden hat. Das eben ist der tolle Effekt: Man sieht diese Rinder nicht. Aber wenn man diese Ebene ausgeschaltet hat, dann konzentriert man sich automatisch auf das, was man hört. Und was man hört ist, dass in dieses Muhen kleine Floskeln eingebunden sind.

Wenn man das Stück in einem Musiksaal hört, hat es natürlich wieder eine ganz andere Wirkung. Man hört es sehr viel mehr als Musik.

CvB: Das ist ein entscheidender Gesichtspunkt, dass etwas vermeintlich Alltägliches in einen abweichenden künstle­rischen Kontext gesetzt wird, und so hört man etwas anderes. Da denkt man an die surrealistische Collage und an das Ready-made. Hat Luc das beeindruckt?

Ja, absolut. Die ganze surrealistische Zeit damals hat ihn sehr beeindruckt und interessiert. Sicherlich besteht da ein Zusammenhang, auch wenn es wahrscheinlich unbewusst ist.

CvB: Auf jeden Fall zeigt sich, dass ein kunstgeschichtlicher Kontext besteht. Ich glaube, für seine musikalische Arbeit im engeren Sinne war es signifikant, dass er nicht nur musikalisch gedacht hat.

Er hat immer auf sehr verschiedenen Gebieten gedacht. Er machte Filme, Musik, Collagen, außerdem hat er sehr viel Poetisches geschrieben. Zwischen seiner In­strumentalmusik und seiner Musique concrète, der elek­troakustischen Musik, bestehen immer verschiedene Welten. Diese Welten hat er immer mehr miteinander vermischt, so gab es Instrumentalmusik mit Begleitband ...

CvB: Persönlich finde ich sehr viele Stellen in „Hétérozy­gote“ amüsant, und besonders fasziniert mich das vierte Bild „Die Grotte“, mit der ich Bayreuth und das Festspielhaus assoziiere.

Es ist Bayreuth, das sind die Bühnenproben.

CvB: Wie kam es dazu, dass Luc da hineinkam, an einem Wagner-Porträt hat er doch nicht mitgewirkt?

Nein, aber wir haben damals für das Fernsehen eine Reihe unter dem Titel „Jedes Land feiert seinen großen Mann“ produziert. Dafür hatten wir die Idee, Wagner in Deutschland zu filmen, und sind mit dem ganzen Team im Zug nach Bayreuth gekommen, aber ohne irgendeine Erlaubnis einzuholen, und deshalb durften wir nicht ins Festspielhaus hinein. Wir mussten uns immer vor der Aufsicht verstecken, um unsere Aufnahmen zu machen. Es hat aber geklappt, der Film ist ganz schön geworden. Immerhin konnten wir in einigen Logen und auch das Publikum filmen, und natürlich die Inszenierungen. Luc sollte auch eine Musik zu Joris Ivens Film „Pour le Mis­tral“ komponieren, aber während der gesamten Drehzeit gab es keinen Windhauch. Das war natürlich tragisch für das gesamte Filmteam. So sind wir dann auf das Morvan-Plateau gestiegen, um dort Wind zu finden, aber auch dort wehte er nicht. Aber wir durften in das Observatorium hinein und haben dort begonnen, gegen die Türen zu schlagen und allerhand Geräusche zu machen. Das Ganze ist auch in „Hétérozygote“ zu hören.

MD: Sind es diese Aufnahmen, die in dem Observato­rium entstanden, die er in seinen Skizzen unter „Maison abandonnée“, also Verlassenes Haus“ eingebracht hat? Damit hat er mich ganz schön in die Irre geführt.

Bei dieser Gelegenheit durfte er in einem Segelflugzeug mitfliegen, und der Pilot, der ihn geflogen hat, drehte schöne Kurven. Er nannte das die trägen Achter, weil er in einer Acht flog. Auch das ist in „Hétérozygote“ enthalten und wiederholt sich immer wieder. „Les huites paresseux“ nannte er es.

MD: Das findet man im letzten Bild.

CvB: Das vorletzte Bild „Das Gefängnis“ provoziert zu fragen: Gibt es eine bestimmte politische Konnotation?

Nein, da nicht.

MD: Es finden sich auf jeden Fall einige Aufnahmen, die unter „Maison abandonnée“ abgelegt sind.

Genau, das ist „Un rêve dans un rêve“. Dort hat er eine Schauspielerin nur diesen einen Satz sprechen lassen, „Ein Traum ist ein Traum“, für einen Film über Edgar Allan Poe. Das hat er dann so verarbeitet, dass es wie ein Traum oder wie ein Gefängnis klingt.

MD: Bedeutet das, dass die französischen Übersetzungen des Gedichts ein spannender Einfluss für Luc waren und er sie deshalb verwendete? Es gibt zum Beispiel von Stéphane Mallarmé eine sehr bedeutende Übersetzung von „A dream within a dream“.

Bei ihm war es das Klangliche dieses Satzes, „Un rêve dans un rêve“, das Musikalische in der Stimme und der Aussprache, das ganz anders klingt als „A dream within a dream“. So hat er den Satz in vielen Sprachen aufgenommen und in seiner Komposition verwendet, auch wenn er nicht genau jedes Wort verstanden hat, weil er in vielen verschiedenen Ländern aufgenommen hat, in denen er die Sprache manchmal überhaupt nicht verstanden hat. Und doch ist es ihm gelungen, aus ihnen die Absichten und Emotionen zu erfassen. Für ihn war immer faszinierend, das Gesprochene zu hören. Ohnehin war es ihm sehr wichtig, in all seinen Stücken das Soziale zu behandeln, wiederzugeben und darüber zu berichten.

MD: Die Sprachmelodie mittels der Sprachaufnahmen ist in seinem kompositorischen Verfahren sehr wichtig.

CvB: Lassen Sie uns jetzt noch über die Idee des „Presque rien“ sprechen.

Manchmal war es so, dass Luc Tonaufnahmen gemacht hat, rein aus Liebe zum Klang, zur Atmosphäre, zu dem Bild, das er sich selbst dazu gemacht oder das er erlebt hat. So kam es vor, dass er zuvor nie benutzte Klänge, die er auf Bändern gespeichert hatte, nach Jahren herausholte und verarbeitete. Das Stück „Presque rien Nº 1“ hat er in einem Fischerort in Jugoslawien aufgenommen. Dort hatte er nachts seine Mikrophone auf das Fenstersims gelegt, gegenüber der Meeresbucht mit dem Fischerhafen, nur eine Straße trennte uns von ihr. Dann legte er sich mit den Kopfhörern wieder ins Bett. Das Band lief einfach weiter, bis es Tag wurde. Diese Tag für Tag immer wiederkehrende Szene faszinierte ihn, dieses Erlebnis, dem Tagesanbruch nur mit dem Ohr beizuwohnen. Er hat es dann geordnet und wieder beiseitegelegt. Das Stück ist erst sehr viel später erschienen,

CvB: Was gab den Anstoß, es zu veröffentlichen?

Ich glaube, jemand hatte ihn gefragt, ob er ein neues Stück hätte. So kam es dazu, dass er es vor einem Publikum vorführte. Danach erst kam ihm die Idee, es zu veröffentlichen. Das war „Presque rien Nº 1“. Es dauerte dann etwa zehn Jahre, bis „Presque rien Nº 2“ erschien, und einige weitere Jahre später kam „Presque rien mit Mädchen (Nº 3)“. Das letzte, „Presque rien Nº 4“ [„La remontée du village“, 1990–1998] war ein Spaziergang durch das Städtchen Vintimille in Italien, bei dem wir aufgenommen haben, wozu er danach komponierte. Unsere eigenen Stimmen haben wir verändert, denn sie waren zu redselig. Das war das letzte Stück. Hinterher hat er noch das „Presque rien mit Instrumenten“ für Orchester geschrieben und ein anderes „Après presque rien“, ebenfalls für Orchester. Zudem hat er zwei Filme gemacht, „Presque rien ou le désir de vivre“, „Die Lust zu leben“. Das waren Filme für den Südwestfunk Baden-Baden über zwei Hochplateaus in Frankreich. Das eine ist eine wunderschöne, seltsame Gegend wie eine Wüste, von der er berichtete, wie die Bauern leben. Das zweite ist „Plateau du Larzac“. Dort war es zu der Zeit sehr problematisch, weil die Armee das Land der Bauern beschlagnahmen wollte, um dort ihre Schießübungen zu machen. Die Bauern haben schließlich gewonnen. Das war die Problematik dieser Filme, die er ohne Ereignisse, ohne Story produzierte. Beide ­Filme hat er mit Schauspielern gemacht. Es waren die „Presque riens“, die das Ereignislose bedeuten, das Unspektakuläre, das er hervorgehoben hat und das ihn interessierte.

CvB: Das hat einen meditativen Aspekt, der Titel an sich schon ist provokativ. Er lautet „Fast nichts“, und damit ist man herausgefordert, zu überlegen, warum es sich nicht um gar nichts, sondern um „Fast nichts“ handelt.

Leopoldo Siano (LS): Ich würde sagen, im ersten Stück, „Presque rien Nº 1“, ist es nicht abwegig, in der Tat vom musikalischen Ready-made zu sprechen. Deswegen ist der Bezug zu Marcel Du­champ sehr treffend. Andererseits geht es nicht um eine bloße Soundscape, eine Klanglandschaft, die zur Kunst erhoben wird. Wenn man aufmerksamer zuhört, versteht man, dass es um eine komponierte Klanglandschaft geht. Man begegnet Unregelmäßigkeiten der Sinne. Die Folge der Ereignisse scheint unlogisch zu sein. Man hört zwei Mal denselben Dialog und versteht es als eine paradoxe Klanglandschaft, eine surreale Klanglandschaft. Das ist ganz typisch für Ferrari. Er spielt mit Sein und Schein, mit Realität und Surrealität. Aber ich glaube, das echte „Presque rien“ ist das erste. In der Tat macht er hier fast nichts. Aber in den weiteren „Presque rien“-Stücken macht er immer mehr.

Die dürften eigentlich nicht mehr „Presque rien“ heißen. Nur, weil sich wenig ereignet, dürfen sie noch so heißen. Es ist das Prinzip der „Presque riens“, das Konzept eines durchgehenden Erlebnisses, ohne hörbaren Eingriff in einen „plan-séquence“, wie eine Filmsprache.

LS: Dieses surrealistische Moment ist sehr wichtig.

Ich glaube auch, dass es sehr wichtig ist. Aber im Gegensatz dazu hatte Marcel Duchamp die Absicht, zu erstaunen, uns zu erstaunen. Und Luc hatte diese Absicht nicht. Er hatte nie die Absicht, Skandale hervorzurufen oder jemanden vor die Stirn zu schlagen. Deshalb denke ich, dass dort zwischen den beiden ein Unterschied besteht. Im zweiten Stück erweitert er das „Presque rien“ durch seine eigene Stimme, durch seine Anwesenheit, die Anwesenheit des Komponisten, die dann in sehr vielen Werken immer stärker wird. Das heißt, er ist immer vorhanden. Das spielt als Autobiographie mit. Die Autobiographie ist für ihn ein Gegenstand der Komposition, ein Konzept in der Kreativität, wie die Tautologie, wie andere Ideen, die er verarbeitet hat. In „Presque rien Nº 2“ ist seine Stimme bereits zugegen, und das ist eines der ersten Male, dass er seine Stimme bewusst in einem Stück benutzt hat.

ME: Nun ist das Stichwort Soundscape mehrfach gefallen. Ich finde es interessant, zu schauen: Was macht die Wikipedia-Gemeinde aus Komponisten? Ich weiß nicht mehr, ob es der deutsche oder der englische Wikipedia-Eintrag zu Luc Ferrari war, aber man konnte dort sinngemäß lesen, dass er gewissermaßen der Vorreiter der Soundscape-Kunst gewesen sei. Ich finde es interessant, zu beobachten, wie solche Zusammenhänge konstruiert werden. Gibt es eine gewisse Bewunderung der Soundscape-Artisten für Luc Ferrari?

Vielleicht.

CvB: Diese Künstler beziehen eine starke Motivation ihrer Arbeit im Sinne engagierter akustischer Ökologie. Hat das für Luc auch eine Rolle gespielt?

Nein, das war nicht in Lucs Sinn.

CvB: Aber er hatte ein stark ausgeprägtes soziales Bewusstsein und Engagement. Könnte man das erste „Presque rien“ als ein Beispiel dafür nehmen, dass er den Zuhörern zeigt: Nehmt euch ein Magnetophon und macht das Gleiche, das ist nicht mein kompositorisches Privileg?

Ja, es war seine Absicht, junge Leute einzuladen, sich ein Mikrophon zu nehmen und anderswo wieder zu hören, was sie aufgenommen hatten, und damit etwas zu schaffen, zu experimentieren. Bewusst etwas zu hören und aufzunehmen, weil das Ohr dadurch geschult wird. Sicher hat er das gesagt, und die anderen waren ihm böse und sagten: Du weißt sehr genau, dass wir so etwas nicht können! Das war vielleicht ein wenig unfair von ihm.

LS: In diesem Sinne verstehe ich den Titel „Presque rien“ dann wieder als eine ironischen Rechtfertigung. Sie hatten zur anekdotischen Musik gesagt, dass er diesen Ausdruck mit einem Lächeln gebraucht hat. Ich könnte mir vorstellen, dass der Titel „Presque rien“ auch verwendet wurde, weil es ganz und gar nicht Nichts für ihn war, sonst hätte er es doch nicht zu einer Komposition erklärt. Wenn später seine eigene Stimme dazu kommt, wirkt es erst recht so, als habe es eine leichte ironische Brechung, wenn der Titel dann „Fast nichts“ heißt.

In den „Presque riens“ hatte er keine Ironie im Sinne. Es ist eher etwas Kontemplatives, wenn er seine eigene Stimme darin verwendet. Eine hörbare Beobachtung der Natur. Und eben das Autobiographische, was damit Fuß fasst und hinterher immer mehr zunimmt.

LS: Aus meiner Sicht hat es immer auch etwas sehr Intimes, gerade im zweiten „Presque rien“. Man fühlt sich als Zuhörer nahezu als Voyeur, weil man etwas hört, was man vielleicht besser nicht hören sollte. Indessen freut man sich und fühlt sich geborgen, und das ist etwas, das ich so nur von Ferrari kenne.

Wir sind dann Voyeure von Luc, der Voyeur ist.

LS: Es ist das „Presque rien“, das etwas Ephemeres ist, das man normalerweise nicht festhalten kann, und er hat es dennoch geschafft, es auf Band zu bringen.

Es ist etwas sehr Intimes, das stimmt.

LS: Eine wichtige Besonderheit der Musik ist der Raum, was eigentlich ein Paradox ist. Vorher haben wir gesagt, dass Ferrari immer stereophon gearbeitet hat, nie komplexe Räume verwendete. Nichtsdestoweniger ist der Raum wesentlich, weil seine Klänge selbst einen speziellen Raum in sich haben. Bei keinem anderen Komponisten habe ich den Raum derart tief erlebt. Ferrari als Komponist nimmt den Hörer an die Hand und führt ihn in seinen Raum, aber nur, um ihm eine gewisse Freiheit zu lassen. Als Hörer fühlt man sich als Komplize des Komponisten, vor allem, weil man dessen Stimme hört. Als Hörer weiß man immer, dass der Komponist anwesend ist. Und umgekehrt weiß der Komponist immer, dass der Hörer auf der anderen Seite ist. Apropos autobiographischer Aspekt: Im Falle von Ferrari geht es nie um Selbstdarstellung. Er erzählt von der Welt, die er sieht und hört, und von den Menschen, denen er begegnet. In diesem Fall geht es um eine erotische Beziehung in der Welt in einem weiten Sinn.

Absolut. Es geht nicht darum, sich selbst darzustellen, sondern darum, eine Reportage zu machen. Nun ist es bei den Tonaufnahmen für Luc immer äußerst wichtig ge­wesen, wie er seine Mikrophone hält, welche er benutzt und wie er aufnimmt. Jeden Klang, den er aufgenommen hat, konnte er als seinen eigenen Klang wiedererkennen. Die Tonaufnahme war für ihn etwas sehr Intimes, weil er genau wusste, wie er aufnehmen wollte und von wo aus, wo er sich hinstellen sollte. Da war immer eine Überlegung in den Tonaufnahmen. Das war auch schon der Anfang eines Stücks, die Tonaufnahme selbst war schon der Anfang einer Komposition für ihn, weil er ohne diese Klänge diese Komposition nicht hätte verwirklichen können. Er hätte sie nicht von jemand anderem übernehmen können, er musste sie selbst machen, erleben.

CvB: Sie haben vorhin gesagt, dass häufig Aufnahmen erst viel später verwendet wurden, wenn die Zeit reif war. Wie war das denn in der Regel beim Komponieren, wenn im Grunde das Aufnehmen bereits den Beginn einer Komposi­tion darstellte? Hat Luc das Material nach der Aufnahme reifen lassen und danach mit einer gewissen Beliebigkeit musikalisch verwendet, oder hat er mit einer ganz speziellen Vorstellung für ein späteres Werk Aufnahmen gemacht?

Generell war es selten, dass er sich bereits bei den Aufnahmen ein bestimmtes, fertiges Stück vorstellte. Und nichtsdestoweniger waren die Aufnahmen bereits Teile einer Komposition, die noch keine Form angenommen hatte, aber die schon irgendwie existierte. Er hätte die Aufnahmen auch nicht anders verwenden können, als er es dann letztendlich gemacht hat. Es hatte schon seine Richtung.

CvB: Das bedeutet, die Aufnahme hatte ihre Richtung insofern, als ihm beim Hören der Aufnahme bereits klar war, wie er sie verwenden müsste? Und trotzdem war es während der Aufnahme keine gezielte Aufnahme?

Nein, es waren nur selten gezielte Aufnahmen. Wenn sie gezielt waren, dann nur deshalb, weil ihm zu einem Stück noch etwas fehlte. Zum Beispiel brauchte er bei „Presque rien Nº 4“ noch irgendetwas Klangliches, weshalb wir hinaus aufs Land gingen und nochmal Kühe aufnahmen. Andere Tiere hat er auch aufgenommen, aber dann nicht verwendet, die liegen noch da. Er war nur selten ohne Aufnahmegerät unterwegs. Das war für ihn wie eine Handtasche, eine Begleitung, die er irgendwie brauchte, ohne dass ein Ziel dahinter stehen musste, was er damit machen wollte.

LS: Er muss ein riesiges Archiv angesammelt haben.

Das stimmt, ein Archiv mit mehr als hundert Bändern. Gerade bin ich dabei, diese zu digitalisieren, und es ist eine riesige Arbeit, aber auch eine schöne. Ich möchte sie auch niemand anderem überlassen, ähnlich mache ich es auch mit seinen Partituren. Das Tage­buchähnliche ist, wenn auch nicht ausgesprochen, in seinen aufgenommenen Klängen enthalten. Er hat auch sonst Tagebuch geführt und ein Theaterstück „Journal intime“ geschrieben. Mit all seinen Ideen, politischen und sentimentalen Betrachtungen, Sorgen, Lebensbetrachtungen, die dort zum Ausdruck kommen. Der Text wird von einer Schauspielerin gesprochen, die in der Ichform spricht, aber den Komponisten darstellt. Für Luc war diese Darstellung wichtig, weil es wie zwei Personen in einem Menschen sind, das Weibliche und das Männliche. Er hatte viel Weibliches in seiner Person, und das war für ihn wichtig, das zu wissen, zu leben und zu nutzen. Er hatte kaum männliche Freunde, hauptsächlich Frauen. Er ist unter Frauen aufgewachsen, und möglicherweise wurde darum diese Rolle von einer Frau gesprochen.

CvB: Angesichts dieser Hunderte von Stunden an Aufnahmen: Nach welcher Systematik sind diese organisiert, nach Aufnahmedaten oder thematisch?

Nach Aufnahmedatum, sonst fände man kaum ein Ende. Die Themen sind oft so komplex, dass man nicht nur ein Thema darauf setzen kann, weil vieles innerhalb eines Stücks aus unterschiedlichen Ecken kommt.

CvB: In diesem Sinne hat dann die Aufnahmekollektion eine autobiographische Ordnung und war wohl Lucs Möglichkeit, sich zu orientieren. Gab es die Situation, dass er einem bestimmten Klang in seiner Sammlung nach einem speziellen Monat und einer Gegend, die er besucht hatte, nachspürte?

Das wusste er auswendig. Beim letzten Konzept, an dem er einen Monat vor seinem Tod arbeitete, von dem ich noch keine Vorstellung hatte, weil dieses Konzept nur in seinem Kopf bestand und wir noch nicht darüber gesprochen hatten, bat er mich, ihm zu helfen. Jedes dreizehnte Tonband wurde aus dem Regal genommen, auf das Bandgerät gelegt, und es sollte jeweils ein kleiner Ausschnitt daraus kopiert werden, wo auch immer dieser innerhalb des Bands sei. Wir arbeiteten einen Tag daran, dann kam der fatale Schluss, und drei Jahre später überlegte ich, ob ich es nicht vollenden sollte. Das Stück, das daraus entstanden ist, heißt „Dérivatif“, der Titel, den Luc vorgesehen hatte. Es war eine sehr schmerzhafte Freude für mich, das Stück zu bearbeiten. Die Klänge sind mir so verbunden, dass ich sie nicht vergessen kann. Selbst wenn ich sie nicht eigenhändig aufgenommen habe, sondern der Partner, aber ich mit zugegen war. Die Atmosphäre spielt eine Rolle, die Umgebung, wer daran teilgenommen hat.

CvB: Das Auswahlkriterium, jedes dreizehnte Band zu nehmen, hat auch einen fatalen Beigeschmack, insofern die Dreizehn vielen als Unglückszahl gilt.

Ich muss dazu sagen, dass ich mich getäuscht hatte. Erst hinterher habe ich entdeckt, dass er jedes elfte Band benutzen wollte, während ich jedes dreizehnte genommen habe. Das war mir wohl in falscher Erinnerung geblieben.

CvB: Abergläubisch war Luc nicht, oder? Es wäre verstörend gewesen, wenn es eine Deutung mit Dreizehn als Unglückszahl gegeben hätte.

Keineswegs. Doch er hatte Vorahnungen in seinen letzten Stücken, über die er mit Humor gesprochen hat. Sein letztes Orchesterstück heißt „Morbido Symphonie“, wobei „Morbido“ im Italienischen zart und weich bedeutet. Als er krank war, hatte er einen Schmerz, den er als „morbido“ empfand, nicht morbide. So hat er also die Sinfonie geschrieben, zu der aber nur zwei Sätze entstanden sind. Darin hat er ein Band verwendet, das er einmal für ein Theaterstück gemacht hatte, und darin schreit jemand: „Ich habe meinen Besen zerbrochen!“ Das ist auch etwas Hinweisendes, aber voller Humor. Der Sprecher ist voller Humor, und die Art, in der Luc es verwendet hat, ist voller Humor. Sich selbst gegenüber war Luc nie tragisch, nur seine Weltsicht war tragisch. Luc hat sehr unter der Ungerechtigkeit in der Welt gelitten.

CvB: Wir hatten bereits gestern im privaten Gespräch die Gelegenheit, über die Unveränderlichkeit zu sprechen, dass die Menschen nichts dazulernen, über die Katastrophen, die über die Jahrhunderte hinweg passiert sind. Luc hat versucht, künstlerisch dagegen zu arbeiten.

Das war seine Aufgabe. Für ihn war es wichtig, so gut er konnte, mit seinen künstlerischen Mitteln dagegen anzukämpfen. Für ihn stand fest, dass jeder Künstler eine Meinung zu vertreten, einen Kampf durchzuführen hat. Ein Kampf ist nicht nur für Politiker da, jeder muss mitmachen, auch der Künstler.

Dieses von Hanitra Wagner transkribierte Podiumsgespräch wurde am 18. Januar 2013 im Musikwissenschaftlichen Institut der Universität zu Köln geführt.