MusikTexte 166 – August 2020, 3–4

Hochsicherheitstrakt

Wie Corona unser Konzertleben infiziert

von Frank Hilberg

Es wird danach nicht mehr so sein, wie es vordem war. Mit solchen Binsenweisheiten ist man natürlich immer auf der sicheren Seite.

Als Mitte März das öffentliche Leben abgeschaltet wurde, geschah das schlagartig: keine Restaurants mehr, Kinos, Konzertsäle, keine Geschäfte außer Supermärkten und Baumärkten (nicht aber Buchläden – denn offensichtlich ist das Brett vorm Kopf wichtiger als das Buch vor der Nase), dann Schulen, Kindergärten et cetera, pp. Wissen wir alles, wir haben es erlebt. Es liegt aber jetzt, nach der ersten Welle, hinter uns. Der Wiedereinstieg ist mühsamer als das Ausschalten. Die Wiederbelebungsversuche gehen mit Einschränkungen einher – und hier schlägt die Stunde der Entscheider. In Bezug auf Musik wurde auf der Grundlage atemberaubender Ahnungslosigkeit entschieden. Zunächst verantwortlich war die Bühnenberufsgenossenschaft. Das ist nicht etwa ein Gartenzwergverein, sondern das sind die Spezialisten für Bühnenfragen – und wer gegen die Regularien verstößt, verliert seinen Versicherungsschutz (kann sich also gleich beerdigen lassen). Sie machen es schnell und hart und umfassend. Die Abstandsregelung für Bläser auf der Bühne heißt nun „zwölf Meter in Blasrichtung“. Ja, so sollen Entscheider klingen: kraftvoll, packend, plausibel. Wer sich aber nun schon mal mit Blasinstrumenten auseinandergesetzt hat und annähernd weiß, wie rum man sie ungefähr richtig hält, weiß auch das: Oboen und Klarinetten blasen zum Boden, vor die Füße der Musiker. Ja, wären dann also die zwei Etagen unterm Bühnenboden zu räumen? Oder sollten – im Gegenteil – dero Holzbläser auf einzelne, zwölf Meter hohe Podien plaziert werden, was eine ziemlich schwindelerregende Angelegenheit sein kann, wie jeder weiß, der schon mal von einem Zehnmeterturm aus auf ein Schwimmbecken geblickt hat (und dann doch lieber den klandestinen Rückmarsch auf der Treppe angetreten hat). Fagotte und Tuben blasen nach oben, da ist ja in der Regel viel Luft. Wenn nicht, müssten also die Dachgeschosse geräumt, oder die Bläser entsprechend abgesenkt werden. Hörner blasen nach hinten, tja, da wird es halt in der Regel eng, muss man halt das Nachbarhaus räumen. Blasrichtung nach vorne haben eigentlich nur Trompeten, Posaunen und Querflöten. Und die standen sicherlich vor Augen der Entscheidungswichtel, denn was sonst als Garstigkeiten, als eine Dusche an infiziertem Aerosolregen kann da vorne aus so einer Trompete schon rauskommen?

Ja, was kommt denn bei einer Trompete vorne eigentlich raus? Schall vielleicht? Nicht Sprühregen? Aber wie soll ein Wichtel denn so etwas wissen? Auch das nachgeschobene Pseudo-Argument „Bläser und andere atemintensive Instrumente“ bringt in seiner Unwissenheit nicht viel – denn wie anders als durch absolute Atemkontrolle kommen denn aus diesen gefährlichen Instrumenten überhaupt Töne heraus? Jeder schnaufende Streicher emittiert doch mehr Aerosol als ein Bläser. Dennoch bedurfte es vierer Untersuchungen unabhängiger medizinischer Institute und eines FAZ-Artikels mit der erhellenden Überschrift „Mit einer Trompete kann man keine Kerze ausblasen“, bevor das Gewisper der Wichtel verstummte und so etwas wie Rationalität einkehrte. Zwei Monate später also: Abstandsregelung auf der Bühne von drei Metern. Die Angabe variierte von Woche zu Woche und auch zwischen den Städten, Landkreisen und Ländern, dann war aber plus-minus das Maß.

Wobei das mit der Rationalität auch so eine Sache ist. Im Mai sollte in Köln ein Streichquartett aufgenommen werden, das dann aber absagte, weil man mit einer Distanz von zwölf Metern eben nicht Streichquartett spielen könne. Wieso denn zwölf Meter bei einer Abstandsregelung von drei Metern zwischen jedem Musiker? Plaziert man jeden Quartettisten auf dem Eckpunkt eines Qua­drats von drei Metern Kantenlänge, ist doch der größtmögliche Abstand, die Diagonale, nur vier Komma zwei Meter … Ja sicher, antwortete das Quartett, die Rechnung ist richtig, aber man sei angehalten worden, mit dem Blick zum Publikum und eben auf einer weitgestreckten Kreislinie zu spielen … Die Stunde der Blockwarte ist nur selten eine Sternstunde der Kunst.

Es folgte jedenfalls eine allgemeine Flucht ins Internet – in vielen Fällen von den gescholtenen öffentlich-recht­lichen Rundfunkanstalten finanziert. YouTube-Channels wurden gegründet und es kam, wie es kommen musste: Die freischaffenden Künstler hatten nicht nur dreistellige Beträge zusammenzukratzen, sondern mussten auch das tun, was sie am schlechtesten können: eine audiovisuelle Präsentation erstellen. In den meisten Fällen: schlechtes Licht, schlechtes Bild, fahrige Dramaturgie, schlechte Aufnahmequalität. Homemade halt. Nichts dagegen, denn es zeigt den Willen zur Kunst, die Lebendigkeit der Akteure, mannigfaltige Ideen zwischen Exzentrik und Ex­travaganz mit einem klaren Mittelpunkt: das heimische Wohnzimmer. Irgendwie auf der Strecke bleibt meist – obwohl oft brillant gespielt – die Musik.

Ab Anfang/Mitte Juni regte sich wieder Leben … „komm in den totgesagten Park“… denn es wollten ja alle seit Monaten: wieder proben, spielen, präsentieren. Für ein Publikum. Aber die Verhältnisse, sie sind nicht so. Und hier beginnt der Bericht aus dem Hochsicherheitstrakt. Szenario: ein Konzerthaus mit 1900 Plätzen. Zugelassene Publikumszahl: 120. Verhältnis Betreuer-Publikum: eins zu drei (geschätzt). Man wird vollvermummt zu seinem Sitzplatz geführt, darf die Gesichtsmaske aber erst ablegen, wenn die Musiker die Bühne betreten (warum das so ist, hat sich auch durch gründliches Nachdenken nicht erschlossen), doch nein, man wird nicht am Boden angekettet. Niemand rührt sich, räuspert sich oder hustet gar. Schweigen breitet sich aus. Dann treten die Musiker auf, im Gänsemarsch, voll vermummt, die Bläser mit schwarzem Flor über den Stürzen. Ritueller Beifall bricht schütter hervor und erstirbt rasch. Man spielt. Die Musik quält sich durch den Raum, als müsse sie durch Gelatine schwimmen. Die Streicher haben keine Pultnachbarn mehr, jeder muss selbst blättern, keiner kann sich verstecken, der nächste Mitspieler sitzt ja drei Meter entfernt. Die Folgen: matschige Einsätze, matschige Rhythmen, matschige Intonation. Skurrile Effekte auch: Warum klingen die ersten Violinen plötzlich so scharf? Jeder gibt sein Bestes, aber es ist nicht mehr, was es einmal war. Nach einer Stunde wird man dann wieder entlassen. Jeder geht durch einen anderen, genau bestimmten Ausgang. Draußen leuchtet noch eine Restsonne, tiefes Durchatmen, ab nach Hause in die Splendid isolation.

So, verlassen wir die Dystopie der Realität und fragen: Was wird wohl bleiben für die nächste Zeit? Nicht alles wird schlecht sein. Zum Beispiel bin ich sicher, dass sich die Vor-Corona-Monsterkonzerte – Betreten des Konzertsaals um 20 Uhr, um 22 : 30 Aufspringen im Schluss­akkord des letzten Stücks, um noch die letzte Bahn zu erwischen – überlebt haben werden. Vermutlich wird es vermehrt zwei einstündige Konzerte hintereinander geben. Im Übrigen bin ich in meinem fünfundvierzigjährigen Konzertleben noch niemandem begegnet, der zwei Stunden am Stück hätte Musik hören können (und ich lasse es mir auch nicht einreden). Weniger ist mehr (wenn es das richtige ist).

Vielleicht entwickelt sich auch eine Medien-Kultur, bei der die Musik die zentrale Rolle spielen wird (ach Moment, da gab es doch diese Kästen, aus denen vollkommen bilderlos nur Klänge kamen …).

Es wird – insbesondere unter den freien Künstlern – viele Verlierer geben. Und vermutlich, auch das ist eine schlechte Nachricht, werden die Vermarktungstalentierten wieder überproportional gewinnen. Ein Kollateralnutzen könnte sein: Es werden auch viele Sonntagsmaler wieder zu dem werden, was sie schon immer waren: Sonntagsmaler.

Die wirklich schlechte Nachricht könnte aber lauten: Wir werden uns noch weitaus mehr voneinander isolieren als es vor Corona schon gewesen ist: Filterblase, Dialoghemmung, Separatismus, Variantenblindheit. Oder kurz: das Leben mit verspiegelten Sonnenbrillen. Von innen verspiegelt, wohlgemerkt.