MusikTexte 166 – August 2020, 81

Stimme der dialektischen Vernunft

Zum Tod von Hartmut Lück

von Max Nyffeler

Er hat nie das Rampenlicht gesucht. Der am 4. Juli verstorbene Bremer Musikjournalist war ein guter Zuhörer, aber kein Wortführer. Ehemalige Studienkollegen berichten, dass er in gemeinsamen Diskussionen zwei Stunden lang schwieg, um am Schluss zur Verblüffung aller die Wortgefechte in wenigen Sätzen so zusammenzufassen, dass niemand zu widersprechen wagte. Auf Außenstehende konnte seine Zurückhaltung wie Kommunikationsverweigerung wirken. Sie war aber vielmehr Ausdruck einer lebenslang eingeübten Introspektion und wurzelte in einer angeborenen schweren Sehbehinderung, die ihn zu Distanz zur Welt und den Mitmenschen zwang, und die ungarische Musikwissenschaftlerin Éva Pintér, mit der er seit 1982 verheiratet war, zu seiner ständigen Begleiterin im öffentlichen Raum machte. Erst mit über fünfzig Jahren erhielt er dank einer Operation soviel Sehkraft, dass er sich auch allein unter Leute begeben konnte.

Den eingeschränkten Radius kompensierte er auf erfinderische Art: Als leidenschaftlicher Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel erkundete er in stundenlangen Straßenbahn- und Busfahrten minutiös die Topographie fremder Städte – eine strukturelle Wahrnehmung der Welt anstelle der visuellen. Die Expeditionen resultierten in einer Sammlung von über zweitausend Stadtplänen aus allen Weltgegenden. Sie bildet gleichsam die Hobby-Abteilung seines umfangreichen Archivs, dessen professioneller Teil nebst Mengen an Büchern rund zwölftausend CDs aller Sparten umfasst. Auch beruflich hatte seine Sehbehinderung eine positive Kehrseite: Da er bei öffentlichen Auftritten keine Texte vom Manuskript ablesen konnte, perfektionierte er die freie Rede – eine Tugend, die im musikwissenschaftlichen Bereich nicht allzu häufig anzutreffen ist.

Hartmut Lück wurde 1939 in Posen in eine bürgerliche Familie hineingeboren. Sein Vater, Spross einer deutschstämmigen Posener Familie und renommierter Sprachwissenschaftler, starb 1942 an der Front. Zum Kriegsende flüchtete seine Mutter mit ihren drei Söhnen nach Lübeck, wo er in einfachsten Verhältnissen aufwuchs. In Marburg, München und Bremen studierte er, den Spuren seines Vaters folgend, Sprachwissenschaft mit den Schwerpunkten Slawistik und Germanistik; Musikwissenschaft war nur Nebenfach. 1975 wurde er an der Uni Bremen promoviert. In seiner Doktorarbeit „Fantastik, Science-fiction, Utopie. Das Realismusproblem der utopisch-fantastischen Literatur“ bildet die russische Science fiction-Literatur einen Schwerpunkt, wobei ihm seine guten Russischkenntnisse zu Hilfe kamen. Die osteuropäischen Kulturen fanden sein besonderes Interesse. Schon als Student sammelte er jüdische Witze, sein Name taucht in der Erstausgabe des Kultbuchs von Salcia Landmann von 1960 unter „Spender von Witzen und Anekdoten“ auf.

Das breite Wissensgebiet wirkte sich befruchtend auf seine musikpublizistische Arbeit aus, die sich häufig um Themen am Schnittpunkt von Musik und Gesellschaft drehte. Er veröffentlichte Texte und Interviews über Luigi Nono, Helmut Lachenmann, György Kurtág, Zoltán Jeney, Karl Amadeus Hartmann, Hans Werner Henze und viele andere, schrieb für den Weserkurier und die Frankfurter Rundschau, gestaltete Sendungen für Radio Bremen (wo er auch an der legendä­ren Reihe „Roll over Beethoven“ beteiligt war), den Deutschlandfunk und den Hessischen Rundfunk, führte das Bremer wie das Kölner Konzertpublikum in Werke nicht nur zeitgenössischer Musik ein. 2005 gab er zusammen mit Dieter Senghaas den Sammelband „Vom hörbaren Frieden“ heraus. Über vierzig Jahre lang war er Jurymitglied im Preis der deutschen Schallplattenkritik und war auch in den MusikTexten immer wieder mit Beiträgen präsent.

Hartmut Lück war ein politisch engagierter Musikkritiker aus innerer Überzeugung, doch respektierte er stets die Eigengesetzlichkeit der Musik. Eine Wertung könne sich nie aus der politischen Botschaft, sondern einzig aus der ästhetischen Stimmigkeit ergeben, schrieb er 2005 im Aufsatz „Musik in einer unfriedlichen Welt“: „Das Kunstwerk ist in erster Linie Kunstwerk, und nur als solches kann es jene karthartische Wirkung entfalten, die politische Gehalte als sinnfällig, nachvollziehbar und anspornend erscheinen lässt.“ Eine Stimme der dialektischen Vernunft, die bei der stets aktuellen Frage nach dem Wert der Musik für die Menschen nicht vergessen werden sollte.