MusikTexte 167 – November 2020, 87–88

Wundersame Donauversickerungen

Donaueschinger Musiktage und anderes in Köln und im Radio

von Rainer Nonnenmann

Üblicherweise werden Festivals zwei, drei Jahre im Voraus geplant. In Zeiten der globalen Seuche steht bei Musikveranstaltungen jedoch augenblicklich alles Wer, Was, Wann, Wo, Wie und Wieviel unter Vorbehalt. Vier Tage vor Beginn hatten die Donaueschinger Musiktage noch ausführliche Informationen zu Abstands- und Sicherheitsregeln verschickt. Doch schon tags darauf wurde das Festival komplett abgesagt. Zu viele Risikogebiete, Reise- und Beherbergungsverbote – letztere freilich nur für Urlauber – ließen den programmverantwortlichen Südwestrundfunk das Handtuch werfen. Die seit März erfolgte Neukonzeption des Festivals sowie alle Aufbauten, Proben, Uraufführungen, Verträge und Hotelbuchungen von Komponistinnen, Interpreten, Technikern und nicht zuletzt Publikum waren mit einem Mal hinfällig. War diese Entscheidung wirklich nötig und verhältnismäßig? Immerhin hatten die Musiktage die Publikumszahlen drastisch reduziert und ein behördlich genehmigtes Hygienekonzept entwickelt.

Ähnlich ergeht es gegenwärtig anderen internationalen Festivals und Konzertveranstaltern. Im November scheinen indes Wien Modern und Rainy Days in Luxembourg stattzufinden. Wenn der internatio­nale Flugreisen-, Gastspiel- und Tourneebetrieb wegbricht, den schon die Fridays-for-Future-Bewegung kritisiert hatte, wird das Musikleben auf absehbare Zeit regionaler und lokaler. An die Stelle ab­ge­sag­ter Konzerttermine internationaler Orchester in großen Philharmonien treten Solorezitals, Kammermusik und örtliche Ensembles sowie Veranstaltungen in kleineren Spielstätten. In den Metropolen bleibt daher die Dichte, Vielfalt und Qualität der Konzertprogramme noch auf absehbare Zeit erhalten. Wie in Köln sind auch andernorts zahlreiche Konzerte für die Herbst- und Wintermonate angekündigt. In kleineren Städten und ländlichen Regionen dagegen droht musikalische Provinzialität und Verödung.

Donaueschingen in Köln

Bei den Donaueschinger Musiktagen wäre dieses Jahr auch das Ensemble Musikfabrik aufgetreten. Der Flexibilität der Kölner Formation und der ebenfalls durch Konzertausfälle gebeutelten Kölner Philharmonie war es zu danken, dass zumindest ein Konzert der Musiktage vor anwesendem Publikum stattfinden konnte. Statt an die Donauquelle brachte das Ensemble drei Uraufführungen an den Rhein. Darüber hinaus wanderten eine Festivalproduktion und ein Probenmittschnitt des abgesagten Eröffnungskonzerts ins Radio: welch wundersame Donauversickerungen!

Das nach Köln verlegte MusikfabrikKonzert bot mit Carola Bauckholts „Implicit Knowledge“ eine für die Komponistin typische Übertragung von Alltagsklängen auf gewöhnliche Instrumente. Ein langsam, tief und leise anlaufender Sire­nenton steigerte sich zu ohrenbetäubendem Heulen. Zeitgleich wurden alle Stadien dieses Crescendo mit entsprechenden Instrumentalimitationen kombiniert. Dem markerschütternden Alarmsignal folgten dann zugespielte Schab- und Nagegeräusche eines Kaninchens, die sich in analoges Schmatzen und Knabbern der Musiker verwandelten sowie in Aufnahmen von Stimm- und Atemlauten der Sängerin Truike van der Poel, die dann ihrerseits wieder instrumental adaptiert wurden. Originalklänge und deren instrumentale Mimikry bildeten faszinierende Symbiosen.

Wie Bauckholt hat auch Gerald Barry bei Mauricio Kagel in Köln studiert. Sein „No People“ ließ das Ensemble nonstop in grob stampfendem Viervierteltakt Marschfetzen spielen, wie „eine besoffene Karnevalskapelle beim Kotzen“, so die Interpretationsanweisung. War das als Kommentar des Iren zum Brexit gemeint? Oder als Abwatschung der seit 1921 in Donau­eschingen gespielten Avantgarde? Or what? Die zersplitterten Melodien, Rhythmen und Extremlagen verlangten vom Ensemble unter Leitung von Mariano Chiacchiarini jedenfalls stocknüchterne Konzentration und hohe Virtuosität.

Peter Ablingers exakt zweiundvierzigminütiges „Concerto“ integrierte schließlich ein genauso langes mäßig originelles Gespräch der Musikwissenschaftler Diedrich Diedrichsen und Theresa Beyer über Musik in eine eher beiläufig wirkende Meta-Musik, die weniger dem Hören selbst zu dienen schien als der Reflexion der verschiedenen Arten des Hörens von Worten und Klängen.

Musiktage im Radio

Zwei Konzerte der Donaueschinger Musiktage waren immerhin im Radio zu hören, eines davon mit Probenmitschnitten, von sechs Stücken, gespielt vom SWR-Symphonieorchester unter Leitung von Titus Engel. Die jeweils unter zehn Minuten dauernden Kompositionen für kleines Orchester entstanden im Hinblick auf die besonderen Hygienebedingungen des seit März umgeplanten Festivals und hätten im Eröffnungskonzert anstelle großbesetzter Werke uraufgeführt werden sollen. Den Anfang der nun zu Ursendungen transformierten Uraufführungen machte Klaus Langs „ionisches Licht“. Inspiriert durch die Obertonreihe des pythagoreischen Monochords sowie die Lichtgotik der Kathedrale von Chartres ließ sich diese funkelnd instrumentierte Musik ebenso gut programmatisch als atmosphärisches Seestück erleben. Das leuchtende Sirren evozierte imaginäre Blicke über das Ionische Meer mit seinem silbrigen Dunst, seinen mikrotonal aufgerauhten Flächen, weich anrollenden Paukenwirbeln und sanft gekräuselten Klangwellen über dunkel ruhenden Tiefen. Cathy Millikens „Piece 43 for Now“ begann mit einer spieltechnisch variierten Eintonmusik der Solotrompete à la Scelsi, die sich zum orchestralen Klangfarbenstrom weitete. Lola Romeros flatterhaftes „Displaced“ ließ kollektive und individuelle Aufschreie, scharf, laut und verzerrt, immer wieder neu ansetzen und allesamt resignativ verzittern. Oliver Schnellers polychrom schillerndes „The New City“ huldigte den phantastischen Zeichnungen des Architekten Lebbeus Woods. Michael Wertmüller drehte schließlich den Stilmixer auf hyperventilierende Maximalgeschwindigkeit. Sein ebenso reißerisches wie ironisch überdrehtes „The Blade Dancer“ verwirbelte zackige Motorik mit keckem Eulenspiegel-Klarinettensolo, lasziver Jazzposaune, neosymphonischer Hollywood-Pathetik, atemloser Verfolgungsjagd und pompösen C-Dur-Sieges­trümpfen.

Für das Ensemble „MAM.manufaktur für aktuelle musik“ hatte die britische Sän­gerin und Komponistin Elaine Mitchener ein „Inszeniertes Konzert“ konzipiert, das im Radio seine Räumlichkeit, Visu­alität und Choreographie freilich verlor. Die Auftragskompositionen sollten sich alle auf Texte der 1928 geborenen jamaikanischen Schriftstellerin und feministischen Kulturtheoretikerin Sylvia Wynter beziehen und nicht weniger leisten als eine „musikalische Erforschung des Menschseins“. Heraus kamen Jason Yardes notorisch-plapperndes „The Problem with Humans“ und Matana Roberts’ auf vorsprachliche expressive Artikulationsweisen kon­zen­­triertes „Gasping for air considering your purpose Dissolving“, gewidmet einigen durch Polizeigewalt umgekommenen Af­ro­amerikanern. Laure M. Hiendl steuerte „White RadianceTM“ bei, eine ohnehin bereits radiophon wirkende Collage verschiedener Texte, Aufnahmen und Anspielungen auf Fitness, Kommerz, Werbung, Pop und Pornographie, deren chilliger Gleichlauf und softer Grove die beklemmenden Ablenkungs-, Beruhigungs- und Unterdrückungsmechanismen des alle Lebensbereiche normierenden Kapitalismus subtil entlarvte.

Kölner Konzerte

Gleichzeitig konnten die normalerweise nach Donaueschingen reisenden Kölner diesmal zuhause Konzerte mit neuer Musik erleben, die sie sonst verpasst hätten. Die jungen Kölner Ensembles Trio Ab­strakt, Kammerensemble hand werk und Kollektiv3:6Koeln präsentierten in diesen Tagen dramaturgisch stimmig durchkomponierte Konzerte mit insgesamt sieben Uraufführungen. Unter dem doppeldeutigen Titel „Klasse Spahlinger“ spielte hand werk zwei Kammermusikwerke des ehemaligen Kompositionslehrers an der Freiburger Musikhochschule neben Stücken seiner Schüler Alan Hilario und Jonas Baes.

Das Trio Abstrakt stellte Werken von Michael Finnissy und Peter Ablinger zwei Novitäten des 1989 geborenen Holländers Corné Roos zur Seite. Der in Den Haag von Yannis Kyriakides, Calliope Tsoupaki und Gilius van Bergeijk sowie in Köln von Markus Hechtle ausgebildete Komponist ergründete „das flirrende Innere“ der akustischen Eigenschaften von Beckenpaar, Klavier und Baritonsaxophon, deren genau ausgehörte obertonreiche Mixturen und Schwebungen sich gegenseitig erhellen. Im Solo „für Salim Javaid“ verlieh der im Titel genannte Saxophonist einer anfangs klaren Melodie durch immer mehr Multiphonics, Blasgeräusche und unterschiedliche Ansprachen auf dem Instrument schrittweise völlig neue Konturen.

Das 2018 von drei Komponistinnen und sechs Musikern gegründete Kollek­tiv3:6Koeln bot ein räumlich-szenisches Konzert in der von Geigerin Lola Rubio erstmalig für neue Musik erschlossenen Rafffactory in Köln-Ehrenfeld. Längs der alten Werkshalle reihte Vladimir Gui­cheff Bogacz das auf acht Solisten erweiterte Ensemble konform den Corona-Abstandsregeln wie eine Perlenkette auf. Die Musiker verdichteten diskrete Klappen-, Zungen-, Blas- und Schlaglaute sukzessive zu tumultösen Polyphonien und fu­riosen Soli. Wild, energetisch, körperlich und exzessiv schienen diese befreienden Ausraster alle restriktiven Hygieneverordnungen lustvoll durchbrechen zu wollen. Georgia Koumarás graphisch notiertes „Lucid Dreamers #3“ entfaltete weit gespannte Klangflächen und Farzia Fallahs „the simultaneity of nine dispositions“ ließ ein Trio und zwei autonom im Raum agierende Duos sich wechselseitig durchdringen. Nicolas Berge arbeitete in „hyperconnect control“ ähnlich Alexander Schubert mit einem Setup aus exakt synchronisierten Spielaktionen, Lichtblitzen, elektronischen Verstärkungen und Zuspielungen greller Glitch-, Noise- und Game-Sounds. Alle Dimensionen waren verbunden, so dass die Spielerinnen ihre Klänge zuweilen auch gegenseitig über Bewegungssensoren an den Handgelenken kontrollieren konnten. Der willkommene Ersatz für die Donaueschinger Musiktage bot einmal mehr einen Beleg dafür, aus wie vielen verschiedenen Quellen neue Musik an die Öffentlichkeit tritt.