MusikTexte 169 – Mai 2021, 94

Beckmesser’s Choice

Ausgewählte Scheiben neuer Musik

von Max Nyffeler

Klarheit und Strenge

„Im Laufe der Jahre bemerkt man, dass manche Ereignisse früherer Tage sich hartnäckig im Gedächtnis festgesetzt haben. Das können menschliche Begegnungen sein, das Erlebnis eines bestimmten Orts oder eine einschneidende Erfahrung“, sagte der fünfundachtzigjährige Roger Reynolds 2019 im Gespräch mit dem JACK Quartet, das im Begleitheft zu zwei späten Streichquartetten abgedruckt ist. In „not forgotten“ demonstriert er, wie sich Erinnerung und Gegenwart auch musikalisch durchdringen. Die ersten fünf Teile beziehen sich auf den Seerosenpark von Claude Monet in Giverny, auf Iannis Xenakis, Elliott Carter, To ̄̄̄̄̄ru Takemitsu und den Ryoanji-Tempel in Kyoto. Das letzte Stück „Now“ schlägt wieder den Bogen zum Beginn, so dass sich eine Kreisstruktur ergibt – Vergangenes ist in der Gegenwart unaufhörlich präsent. Die Konzeption ist charakteristisch für den Komponisten, der solche Aspekte von Zeit auch in seinen elektronischen Kompositionen abgehandelt hat. Sie korrespondiert mit der abstrakten Klanglichkeit seiner Musik. Die beiden Quartette auf dieser CD illustrieren aufs Schönste die Klarheit und Strenge einer hohen musikalischen Intelligenz. (Mode, 2020)

Nordic Feeling

Die musikalische Sozialisation von Páll Ragnar Pálsson begann in einer isländischen Rockband und fand ihre Fortsetzung in Estland, wo er Musik studierte und die Sängerin Tui Hirv, seine spätere Ehefrau, kennenlernte. Mit ihr und dem isländischen Caput Ensemble hat er nun die Porträt-CD „Atonement“ produziert. In den fünf Stücken des ehemaligen Rockers öffnen sich weite Räume, in denen Innen und Außen ineinanderfließen. Die Musik oszilliert zwischen Traum und Wachen, die glissandierenden und flackernden Texturen bilden große Wellenbewegungen, die im Nichts beginnen und im Nichts enden, und in weiten Melodiebögen schwebt darüber die biegsame Sopranstimme. Die Texte stammen von der isländischen Dichterin Ásdis Sif Gunnarsdóttir, Andrei Tarkowski (aus „Stalker“) und schwedisch-estnischen geistlichen Gesängen. Magie der Einsamkeit trifft auf verhaltene Ekstase – nordic feeling. (Sono Luminus, 2020)

Experimenteller Musikzirkus

Mit einem bezaubernden Stück für Toy Piano von Stephen Montague eröffnet Dorrit Bauerecker ihr Album „One Woman Band“, und danach demonstriert sie mit Witz und Verve, was sie sonst noch alles draufhat. Zu ihrem Arsenal an Klang­erzeugern gehören Klavier, Perkussion, Mundharmonika und der eigene Körper mit Pfeifen und Singen, und im Dialog mit live ausgesteuerten Stimmen von Tonträger auch Sprechgesang („Gichtgriffel und Achterbeene“ von Niklas Seidl). Mit den Akkordeon- und liegenden Keyboardtönen erzeugt sie wabernde Sphärenklänge („gfätterle“ von Oxana Omelchuk), und zur Auflockerung spielt sie zwischendurch ein fein artikuliertes Clavecin-Stück von Rameau. Ihr „Experimental Music Circus“ ist ein bunter Krämerladen voller klanglicher Wundertüten, deren Inhalte, der Reihe nach ausgepackt, dank einer klugen Reihenfolge die Aufmerksamkeit stets wach halten. Die Ak­tionen der umtriebigen Performerin wirken schon beim reinen Hören hochgradig theatralisch, so dass sich eine DVD-Produktion glatt erübrigt. Der innere Film genügt. (Kaleidos, 2020)

Musik eines Einzelgängers

Was lange währt, wird endlich gut: Die Aufnahmen der sechs Kammermusikwerke von Eckart Beinke, die nun unter dem von den Beatles entlehnten Titel „Dear Prudence“ auf CD erschienen sind, entstanden bereits 2007 und blieben mangels Finanzierung lange liegen. Doch sie haben ihre Frische und Originalität bewahrt, vielleicht gerade, weil es sich um die Musik eines Einzelgängers handelt, der zur verkopften Avantgarde Distanz gehalten hat und seinen eigenen Weg gegangen ist. Jedes Werk hat sein unverwechselbares Gesicht, was mit der charakteristischen Instrumentierung, aber auch mit der kompositorischen Binnenstruktur zu tun hat. In der harmonischen Anlage mancher Werke zeigt sich der Einfluss des Spektralismus – einer von Beinkes Lehrern war Gérard Grisey. Die bunte Schar der Interpreten – sie gehören zum Umfeld des Oldenburger Vereins oh ton, den Beinke 1990 gegründet hat – rückt mit ihrer Spielfreude die Werke ins beste Licht. (edition zeitklang, 2020)

Sensibles Klanginstrument

Die Marimba ist ein Schlaginstrument, und passend dazu ist die japanische In­strumentalistin Kuniko Kato auf dem Cover in dynamischer Pose abgebildet. Doch der schnelle Eindruck täuscht. Für den „Tribute to Miyoshi“ – so heißt ihr Album mit Werken von Akira Miyoshi (1933–2013) – behandelt sie die Marimba vor allem als sensibles Klanginstrument mit einem Spektrum, das von der zarten Tremolofläche und weichgezeichneten Lineatur bis zur kraftvollen Tonkaskade reicht. Es ist eine bildlose, nur ihrer inneren Logik folgende Musik mit introvertierten Zügen und lebendig gestalteten Details. Die in Raum und Zeit frei sich entfaltenden Klangfiguren laden zum aufmerksamen Hören ein. (Linn Records/Outhere, 2020)

Exquisiter Farbreichtum

Und gleich noch einmal Japan, aber mit anderer Perspektive. Noriko Kawakami, die 1987 nach Europa kam und zuerst bei Klaus Huber, dann bei Nicolaus A. Huber studierte, hat im kulturellen Spannungsfeld zwischen Ost und West zu ihrer eigenen Musiksprache gefunden. Es ist die Sprache einer starken Persönlichkeit. Der Zugriff auf das Material verrät eine klare Vorstellung vom Klang und seiner Dramaturgie, der exquisite Farbenreichtum trägt zum Eindruck einer hohen, von kreativer Energie gesteuerten Ereignisdichte wesentlich bei. Fließende Strukturen wechseln sich ab mit extremen Kon­trasten, dramatische Zuspitzungen werden plötzlich unterbrochen durch die statische Exposition von vertrauten musiksprachlichen Versatzstücken, die im vorgegebenen Kontext der Verfremdung anheimfallen. Die Inspiration für ihre musikalischen Einfälle holt sich die Komponistin bei Baudelaire, Chagall und Joyce, im körperhaften Zeitempfinden und in der sorgfältigen Modellierung der Ein- und Ausschwingvorgänge darf man den Einfluss fernöstlicher Kunstpraktiken ver­­muten. Auf ihre Werke trifft der Begriff „durchgearbeitet“ zu, im alten beethovenschen Sinn der handwerklichen Beherrschung und geistigen Durchdringung des Materials. Heute, da die meisten Komponisten gern mit der Hurtig­ruten unterwegs sind, ist das ein rundweg erfreuliches Zeichen. (Neos, 2020)