MusikTexte 171 – November 2021, 28–33

Romantische Vermittlung neuer Musik

Struktur und Ausdruck in Jörg Birkenkötters „Schumann ist der Dichter“

von Rainer Nonnenmann

Alles, was zwischen unserm Auge und einem entfernten zu Sehenden als Mittler steht, uns den entfernten Gegenstand nähert, ihm aber zugleich etwas von dem seinigen mitgiebt, ist romantisch.
Clemens Brentano1

Dieses Orchesterstück ist genuin neue Musik vom Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts und beginnt doch mit ebenso genuin romantischer Musik aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Gleich in den ersten Takten zitiert Jörg Birkenkötter den Beginn der Durchführung des Kopfsatzes von Robert Schumanns vierter Symphonie: Einem als Fermatentakt gehaltenem sf-Unisono es der Blechbläser und Streicher folgen in Streichern und Holzbläsern tremolierte Sechzehntelfiguren, die wie bei der Fortspinnung des Hauptthemas der Exposition in punktierte Legato-Sekundfälle münden, abrupt abbrechen und einer erneuten Fermate des Ausgangstons weichen. Anstelle dieser zweiten Fermate verselbständigt Birkenkötter die sich überlagernden Sechzehntelketten und Legatobögen zu einer clusterartigen Aufspaltung. Zudem glissandieren die Streicher unterschiedlich schnell bis zu zwei Oktaven aufwärts, während sie aus plötzlichem Piano ins fff crescendieren. Binnen kürzester Zeit verkehrt sich Schumanns kraftvoller Einklang und kurze dynamische Öffnung zu einem in schrillen Höchstlagen von Holzbläsern, Trompeten und Streichertremoli zersprengten Mehrklang.

Die sowohl nacheinander einsetzenden als auch bis zum Ende von Takt 4 ihr dynamisches Maximum versetzt erreichenden und abbrechenden Stimmen formen eine Hüllkurve wie von einer sich einschwingenden und dann zunehmend metallisch grell ausschwingenden Glocke, als sei diese gesprungen. Den Eindruck verstärken ausklingende Anschläge und Akkorde von Cymbales, Klavier, Celesta und Harfe derselben Tonhöhen. Statt Schumanns erneutem Unisono folgen während der zweiten Fermate in Takt 5 nur schemenhafte Nachklänge im pedalisierten Klavier sowie dunkel schwebende Resonanzen auf dem per Tonhaltepedal fixierten chromatischen Cluster der tiefsten Oktave. Aus den drei Takten bei Schumann spannt Birkenkötter einen sich davon immer weiter entfernenden fünftaktigen Bogen. Das Zitat romantischer Musik vollzieht dabei von einem Moment zum anderen eine hundertfünfzig Jahre überbrückende Metamorphose zu neuer Musik.

Birkenkötter komponierte „Schumann ist der Dichter“ 2004 im Auftrag der Dortmunder Philharmoniker, die sich anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Dortmunder Oper für ihre Abonnementskonzerte in der Jubi­läumssaison jeweils eine Fanfare eines zeitgenössischen Komponisten wünschten. Den Schluss des Konzerts mit der Uraufführung von Birkenkötters Stück sollte Schumanns vierte Symphonie bilden. Der 1963 in Dortmund geborene Komponist – Schüler von Nicolaus A. Huber und Helmut Lachenmann, seit 2011 Professor für Komposition an der Hochschule für Künste Bremen – griff diese programmatische Verbindung auf, indem er sich in­strumentatorisch, harmonisch, gestisch, strukturell und formal sowohl mit Schumanns Symphonie als auch mit dem darin verschiedentlich anklingenden Topos „Fanfare“ auseinandersetzte. Diese Kombination kam ihm besonders entgegen, da er auch sonst als Komponist neue Musik in Kenntnis der Musik der Tradition schreibt:

Adorno sprach in Bezug auf „Zwielicht“ aus Schumanns „Liederkreis“ op. 39 von der „unendlich produktiven Umdeutung Bachs“. In diesem Sinne halte ich als Komponist eine Beschäftigung mit der Musik der Vergangenheit aus dem Blickwinkel heutiger Problemstellungen für ungemein wichtig, auch als mögliches Korrektiv eines sich gelegentlich verfestigenden Avantgarde-Akademismus einerseits und der Gefahr der Verflachung und Banalisierung von Musik durch allzu sorglose Verwendung jedweden Materials andererseits. Für die Musik ist nicht allein das „jetzt“ entscheidend. Indem Neue Musik ihre Vergangenheit im Blick behält und ihr Erbe weiterträgt, und zwar dadurch, dass ihr Auge (besser: ihr Ohr!) zugleich stets in die Zukunft gerichtet ist, wird sie zum authentischen Ausdruck unserer Gegenwart. Der Raum zwischen Tradition, Gegenwart und Zukunft ist nicht leer.2

Birkenkötters Auswahl und Behandlung zweier Schumann-Zitate eröffnet zugleich einen programmatischen Aspekt. Der markante Tuttiton des Anfangs entspricht dem Initial von Schumanns Nachnamen, der dieses es in eigenen Werken – etwa „Carnaval“ opus 9 – als Chiffre für persönliche Botschaften verwendete. Mit demselben Ton beschwört Birkenkötter Schumanns vierte Symphonie und Persönlichkeit. Die Setzung, Aufspaltung und Auflösung des Namenstons lässt sich wie ein Psychogramm des romantischen „Dichters in Tönen“ en miniature verstehen: Wie Schumanns Leben nehmen der aus der vierten Symphonie zitierte Unisono-Liegeton und die energischen Sechzehntelbewegungen eine fatale Wendung.

Protokoll der Psychose?

Schumann schrieb die Erstfassung seiner d-Moll-Symphonie 1841. Die Uraufführung dieser chronologisch zweiten Symphonie im Leipziger Gewandhaus hatte allenfalls mäßigen Erfolg. Zehn Jahre später arbeitete Schumann das Stück um, indem er vor allem in den Ecksätzen melodische Linien durch Oktavierungen, Verdoppelungen und akkordische Unterfütterungen verstärkte.3 Diese Zweitfassung erklang erstmals am 3. März 1853 unter Schumanns Leitung in Düsseldorf mit der neuen Zählung als vierte Symphonie opus 120 und erschien dann auch bei Breitkopf & Härtel im Druck. Die späte Revision und Publikation rückt das Werk in die Nähe von Schumanns psychischem Zusammenbruch und Ende. Ein knappes Jahr später stürzte sich der Komponist in den Rhein und lieferte sich daraufhin selbst in die „Anstalt für Behandlung und Pflege von Gemütskranken und Irren“ in Endenich bei Bonn ein. Zweieinhalb Jahre später starb er hier in geistiger Umnachtung. Sein vielfach skandalisiertes und noch häufiger als besonders romantisch und genialisch mystifiziertes Künstlerschicksal wurde seit 1970 zum Gegenstand zahlreicher Schumanniana.4

Das von Birkenkötter zitierte Durchführungsmotiv aus dem Kopfsatz der vierten Symphonie ist insofern charakteristisch für Schumann und dessen Personalstil, als es mit den starren Unisono-Fermaten und dem polyphon losstürmenden Sechzehntel-Fugato dazwischen gegensätzliche musikalische Prinzipien auf engstem Raum zu beinahe schizophrener Spannung zusammenzwingt: Bewegung und Stillstand, Einstimmigkeit und Polyphonie, Auf- und Abwärtsrichtung, Anfang und Ende. Die plötz­liche Dissoziation und anschließend erneute Lähmung verschärft Birkenkötter, indem er die Liegetöne nacheinander ein- und aussetzen und schließlich in einem schattenhaft-diffusen Cluster verdämmern lässt. Stellvertretend für Schumanns manisch-depressiven Zustand und letalen Verfall widerfährt seinem Namenston in Birkenkötters mottoartigem Stückanfang eben das, was der Künstler erlitt: Entzweiung, Selbstverlust, Delirium, Tod. Allerdings zielt Birkenkötter nicht auf klare programmatische Zuschreibungen, sondern möchte mit seiner Musik lieber viele mögliche assoziative Anschlussstellen öffnen: „Grundsätzlich habe ich Schwierigkeiten mit allzu eindeutigen – und dadurch letztlich doch wieder eher außermusikalischen – Benennungen.“ Sein Titel „Schumann ist der Dichter“ ist daher nicht nur – worauf Birkenkötters Werkkommentar verweist – „das postmoderne Zitat eines Zitats“, das Boulez’ „Cummings ist der Dichter“ für sechzehn Solostimmen oder gemischten Chor und Instrumente (1970/1986) mit Pousseurs Aufsatz „Schumann le poète“ (1993) über die „Dichterliebe“ kombiniert, sondern meint – zumal die Musik dieser genannten Komponisten keinerlei Rolle spielt – vor allem eine Hommage an Schumann und dessen vierte Symphonie sowie an die durch kein Programm einzuengende dichterische Freiheit beim Erleben von Musik.

Formbildende Zelle

Schumann suchte mit seiner d-Moll-Symphonie neue Wege für die Gattung nach Beethoven. Zwar folgt er dem herkömmlichen viersätzigen Sonatenzyklus mit Allegro, Andante, Scherzo und Finale, doch verbindet er die Sätze mittels nahtloser Übergänge attacca zu durchgängiger Einsätzigkeit. Obsessiv fortlaufende Sechzehntelketten in den Rahmensätzen sowie obligate Achtelpulsationen in den Binnensätzen verleihen dem Werk einen rastlosen, nervösen, getriebenen Charakter. Formal signifikant ist die Verklammerung mehrerer Sätze durch zentrale thematische Gedanken. Der von Birkenkötter zitierte Anfang der Durchführung des Kopfsatzes „Lebhaft“ wird – weil Schumann dort auf eine Reprise verzichtet – zum Hauptgedanken der Einleitung und Exposition des Finales, wo das Thema den Sinn einer nachgeholten Reprise erfüllt, dann aber im weiteren Verlauf des Schlusssatzes keine Rolle mehr spielt. Schumann betont so – ähnlich Franz Liszt in seiner 1853 vollendeten und Schumann gewidmeten, einsätzigen Klaviersonate in h-Moll – die übergeordnete Sonatenform in der äußeren Einsätzigkeit bei gleichzeitiger innerer Viersätzigkeit. Das von Birkenkötter ebenfalls zitierte Thema der Einleitung „Ziemlich langsam“ des Kopfsatzes kehrt bei Schumann später als Seitenthema im zweien Satz „Romanze“ wieder sowie verwandelt in den beiden Trios des Scherzos, so dass auch die Binnensätze thematisch verbunden sind.

Wie Schumann verklammert Birkenkötter sein Orchesterstück durch genau diese beiden Zitate. Das Durchführungsmotiv des Anfangs lässt er ab Takt 67 a tempo Viertel = 92 gleich zweimal hintereinander wiederkehren, nun aber so, dass die Legatobögen nicht direkt in die eigenen Texturen überblenden, sondern beide Klangwelten blockartig montiert erscheinen:

Die unerwartete Wiederholung des Zitats (obwohl hier rein äußerlich eine Reprise stehen könnte) ist eher eine Wiederholung „am falschen Ort“, da sie überhaupt nicht motiviert oder gar logisch folgerichtig ist. Die Wiederholung hat für mich daher eher eine trennende als eine Zusammenhang-stiftende Funktion, was den Charakter der „Dissoziation verschärft. Denn anders als zu Beginn wird das Schumann-Zitat jetzt nicht in meine Harmonik übergeblendet, sondern steht beides einfach nebeneinander: den zwei Takten Schumann folgen ohne Überbindungen zwei Takte Arpeggio und schriller Holzbläserakkord sowie ein Takt Nachhall. Das Ganze zweimal hintereinander, wie der Dreitakter zu Beginn von Schumanns Durchführung.

Während sich bei Schumann dann die vorandrängenden Sechzehntelketten anschließen, folgt bei Birkenkötter dem zweiten Nachhalltakt plötzlich ein gewalttätiger fff-Blechbläserakkord mit zweifachen Beckenschlägen in Takt 77, deren Verklingen dann in zwei Fermatentakten vollständig verebbt.

Dissoziativ den Verlauf des Stücks unterbrechen viele aus der mottoartigen Eröffnung abgeleitete Fermaten- und Pausentakte, Formal bestimmend ist der unruhige Dualismus von dynamisch gedrängter Zeit und statischer Reduktion bis zum Stillstand. Phasen hoher Ereignisdichte werden – in Schumanns Durchführungsmotiv vorgebildet – immer wieder durch Momente von Stagnation, Ausklingen und Nachhorchen unterbrochen. Birkenkötters Stück umfasst lediglich siebenundneunzig Takte, enthält aber auffallend viele Zäsuren: zwölf Fermaten, sieben Nachhalltakte und vier Generalpausen. Der musikalische Fluss stockt etwa alle vier Takte. Wie bei Schumann gibt es extreme agogische Kontraste und dynamische Gegensätze. Auf abrupt abreißende Crescendi folgen Momente der Ruhe, aus denen dann ebenso plötzlich wieder Forte-Aktionen und aggressive Attacken losbrechen. Die sprunghafte Kleinteiligkeit lässt das Stück gedrängt, zerklüftet und länger erscheinen, als es mit lediglich achteinhalb Minuten tatsächlich dauert.

Zentralton

Nach der fünftaktigen Eröffnung basiert der erste Abschnitt (Takte 6–40) auf dem Grundton von Schumanns d-Moll-Symphonie. In vermindertem Tempo Viertel = 52 (dieselbe Metronomangabe wie zur langsamen Einleitung von Schumanns Kopfsatz) wandert der Ton in verschiedenen Rhythmisierungen und Artikulationsweisen durch das gesamte Orchester. Das d irrlichtert permanent vordergründig oder unterschwellig durch andere Oktavlagen und Farben. Während die Trompeten den Ton mit kurzen fanfarenartigen Einsätzen beschwören, wiederholen Celesta und Harfe mehroktavige Viertel mit mantrartiger Ruhe. Für belebende Ein- und Umfärbungen sorgen kurze Akzente, scharfe Repetitionen, leichtes Verzittern sowie – typisch für Schumanns Zweitfassung der d-Moll-Symphonie – Mehrfachbesetzungen desselben Tons mit gleichen Instrumenten. Eben diese schumannesken Instrumentationsverdoppelungen bilden laut Birkenkötter den Ausgangspunkt für komplexere Verzweigungen seines eigenen Stücks: „Die Verdoppelungen geraten außer Phase, verwackeln, verwischen, werden zum orchestralen Super-Arpeggio.“5 An der tonalen Zentripetalkraft des durchlaufenden Tons rütteln zugleich zentrifugale Kräfte. Es kommt zu ungreifbarem Flackern, Zucken, Huschen und Aufspreizen in Mikrointervalle, Nachbartöne, größere Intervalle sowie zu impulsiven Gesten, komplexen Linien, dichten Akkorden, polychromen Mixturen:

Die Harmonik-Verzweigungen gehen von Schumanns bekanntem Motiv d-e-f-c1-h der Überleitungstakte der Exposi­tion aus. Besonders deutlich wird dies an den Liegetönen der Kontrabässe in den Takten 6/7, 10/11, 13/14, zeitlich gerafft in Bässen und Klavier der Takte 18/19, sowie davon getrennt etwa im ersten Horn der Takte 8/9 und 15/16.

Nach einer Fermatenzäsur in Takt 20 spielen Holzbläser und Harfe einen mehroktavigen Orgelpunkt D-d 4. Dazu lassen die Klarinetten die Liegtöne g 3 und a 3 über schnelle Quintolen und Septolen abfallen, so dass relational zum gesetzten Oktav-, Quint- und Quartrahmen D-g-a-d die Töne fis und f, h und b, c und e verschiedene Dur-Moll-Ambivalenzen verursachen. Dieselbe Figur erklingt gleich viermal hintereinander sowie erneut in Takt 31 zum gleichen Pikkolo-Kontrafagott-Orgelpunkt als abgewandelte Skala in dunkler Basslage der beiden Fagotte. Es kommt zu stockenden, fast „zwanghaften“ Wiederholungen wie bei den es-Unisoni. Die Instrumentation, Rhythmik und Gestik erinnert an Bernd Alois Zimmermanns letztes Orchesterstück „Stille und Umkehr“, das der Kompo­nist wenige Wochen vor seinem Freitod vollendete. Auch dort spielen zuerst nur die Flöten – später auch Klarinetten, Harfe und andere Bläser – immer wieder rhythmisch versetzte Legato-Figuren über dem während des gesamten Stücks durch verschiedene Instrumente wandernden Zentralton d, der auch andere Werke Zimmermanns wie ein Lebensfaden durchzieht. Die Wechsel zwischen d 1-d 2-Oktaven der Harfe und nachklingenden Zymbeln finden sich ebenfalls bei Zimmermann. Und ähnlich den Instrumentationsverdoppelungen von Schumann werden in „Stille und Umkehr“ die jeweils vierfach besetzten Bläser annäherungsweise chorisch behandelt und die sonst üblicherweise chorisch verwendeten Streicher lediglich mit einzelner Violine und Viola sowie dreifachen Violoncelli und Kontrabässen solistisch eingesetzt. Dazu Birkenkötter:

Die Verbindung mit B. A. Zimmermann finde ich total interessant, beabsichtigt war sie meinerseits allerdings nicht. Das ändert aber nichts an der interessanten Möglichkeit ­dieser Querverbindung, die genau meiner Vorstellung entspricht: Assoziationen ermöglichen, aber nicht zwingend fordern. Gar nicht „Zimmermannsch“ finde ich allerdings den jeweils [von Woodblock, Celesta und Violin-Pizzikati hinter dem Steg] angehängten sffz-secco-Klang, der das Zwanghafte, quasi Mechanische dieser Wiederholungen betont.6

Melancholie

Den zweiten Abschnitt (Takte 41–66) bestimmen Zitate des a-Moll-Seitensatzes von Schumanns langsamem Satz. Es ist bezeichnenderweise der zweite thematische Gedanke, der mehrere Sätze der d-Moll-Symphonie verklammert. In der langsamen Einleitung des Kopfsatzes umspielen die zweiten Geigen und Bratschen die d-Moll-Terz mit immer wieder neu ansetzenden melodischen Linien über einem mehroktavigen Orgelpunkt des Quinttons a von ersten Violinen und Bässen. Im zweiten Satz „Romanze – Ziemlich langsam“ erscheinen dieselben kreisenden Linien nach a-Moll transponiert über dem Quint-Orgelpunkt e. Birkenkötter übernimmt diese Konstellation mit Abänderungen. Bei ihm wandert der Orgelpunkt von den Bässen aus durch verschiedene Stimmen. Die verdoppelten Melodielinien beginnen außerdem gegeneinander versetzt und stocken immer wieder durch eingefügte Pausen. Trotz der Unterbrechungen bilden die Fragmente in der Summe ein erkennbares Zitat, das durch Dämpfer traumhaft verschleiert und in irreale Flageolett-, Stopf- und Sordinoklänge sowie sanft schwebende Tamtam-, Harfen-, Celesta- und Klavieranschläge gehüllt wird. In Takt 50 spreizen die Holzbläser die engstufigen Linien zu intervallischen Augmentationen. Deren starke Crescendi scheinen die kreisende Ziellosigkeit gewaltsam in eine Richtung drängen zu wollen. Doch statt eines anderen Zustands erreichen die Steigerungswellen ab Takt 54 bloß eine erneute Wiederholung des Zitats in a-Moll, während Schumann die viertaktige Phrase beim zweiten Mal in die Durparallele C-Dur versetzt. Birkenkötters Wiederholung der Moll-Variante und ihrer stammelnden Unterbrechungen verstärkt den melan­cholischen Charakter der auf der Stelle tretenden Linien.

Der dritte Werkabschnitt a tempo Viertel = 92 (Takte 67–80) ist eine Art Einschub und besteht aus der zweimaligen Gegenüberstellung von Schumanns Durchführungsmotiv und Birkenkötters Harmonik. Der danach unvermutet hereinplatzende Blechbläserakkord mit doppeltem Beckenpaar-Schlag fff in Takt 77 verebbt dann über Decrescendo, leise umfärbende Holzbläser ppp und Echoeffekte des pedalisierten Klaviers in einen lange gehaltenen Fermaten- und nachfolgenden Generalpausentakt. Damit wird dann nahtlos in den verhaltenen Schlussabschnitt (Takte 81–97) übergeleitet. Das hier wiederkehrende langsame Tempo Viertel = 52 lässt die bereits zuvor prägenden Momente von Stagnation, Innehalten und Stille vollends bestimmend werden. Unterbrochen von tonlos auf dem Steg rauschenden tiefen Streichern in zusätzlich reduziertem Tempo Viertel = 36 kadenzieren über den gesamten Abschnitt gestreckt mehrtaktige ppp-Liegetöne der Holzbläser samt fanfarenhaft rhythmisierten Oktavwiederholungen der gedämpften Trompeten über g und a schließlich zum Grundton d von Schumanns Symphonie, den dann wie im ersten Werkabschnitt erneut Celesta und Harfe mit rituell wiederkehrenden d-Oktaven unterstreichen. Punktierte Oktavwiederholungen wie in den Trompeten gibt es ganz ähnlich in den langsamen Einleitungen zum Kopf- und Finalsatz von Schumanns vierter Symphonie. Doch während dort die Signale zu den nachfolgenden Hauptsätzen überleiten, sind sie bei Birkenkötter nur noch blasse Reminiszenzen ohne Auf- und Durchbruchskraft.

Zum Charakter des „Zerfalls-“ oder „Trümmerfelds“, den Theodor W. Adorno an Mahlers Symphonien beschrieben hat, gehören versprengte Einzelakzente von Schlagzeug und Tasteninstrumenten, die sich in den Takten 84 und 89 – analog den Dissoziationen von Schumanns Durchführungsmotiv – zu Akkordschlägen verdichten und auf stumm gedrückten Clustern und der Pedalisierung des Klaviers nachklingen. Das Tonmaterial (d)-e-f-c1-h entspricht dabei – ohne Grundton d – dem Tonmaterial des Überleitungsmotivs von Schumanns Kopfsatz, dessen tonale Binnenspannung der chromatisch gegeneinander versetzten Quinten e-h und f-c nun als synchrone Dissonanz erklingt. Nachdem der Grundton d in Takt 91 von Holzbläsern, Celesta und Harfe erreicht ist, verdichtet sich das Orchester mit dem dritten und letzten Akkordschlag plötzlich zu einem markanten sffz-Tuttiakzent. Es handelt sich um einen kompletten Zwölftonakkord, der allerdings zeitlich zersplittert erscheint: Die Trompeten spielen eine letzte fanfarenartige Grundton-Repetition d 3 und in Pikkolo und Crotales schlagen die Töne g-a nach. Der folgende Pausen- und Fermatentakt ist ein auskomponierter Klangschatten aus tonlosen Blasgeräuschen und Pedalisierungen von Celesta, Harfe und Klavier. Am Ende von des Stücks besiegelt das verwackelte Zwölftontotal ebenso strukturell stringent wie expressiv bedeutsam die Dissoziation von Schumanns Namenston und Psyche. Was final folgt, ist nur noch Verklingen – des Tones Tod.

Relationale Musik

Birkenkötters einsätziges Stück zeigt eine ähnliche Vierteiligkeit wie Schumanns vierte Symphonie „in einem Satz“. Die formal konstitutiven Themen der Symphonie erscheinen auch hier als Substanz von Exposition, ruhigerem Mittelabschnitt, Wiederkehr im Einschub und verebbendem Schlussteil. Und so wie Schumann in der Einleitung zum Kopfsatz bereits zentrale thematische Gedanken exponiert, nimmt Birkenkötter mit dem mottoartigen Anfang aus Schumanns es-Unisono und Sechzehntelbewegung den für sein Stück konstitutiven Dualismus von Stillstand und Vorandrängen, Zentralton und Dissonanz, forcierter Dynamik sowie ruhigem Verklingen vorweg. Die fünf Anfangstakte zeichnen den Gesamtverlauf von „Schumann ist der Dichter“ auch insofern vor, als die Auflösung des Zitats in Nachhalleffekten eine großformale Entsprechung im schattenhaften Verdämmern des Schlussabschnitts findet.

Birkenkötter komponierte nicht einfach bezugslose neue Musik ohne historische Anknüpfungspunkte an die Tradition, sondern ein Orchesterwerk, das gezielt Rela­tionen zu einem prominenten Werk der Romantik herstellt, um neben tonalen und formalen Aspekten auch assoziative und expressive Hörweisen zuzulassen. Zudem erfahren gängige Klangcharaktere der neuen Musik neue Aufladungen als seien es romantische Chiffrierungen. „Schumann ist der Dichter“ ist sowohl eine romantische Vermittlung neuer Musik als auch eine analytische Vermittlung von Romantik durch neue Musik. Statt um naive Neoromantik oder retrospektive Postmoderne geht es um Entdeckungen der strukturalistischen Prämoderne in Schumanns Schaffen. Romantisch ist Birkenkötters Stück allenfalls als ein „Mittler“ im Sinne des jungen Clemens Brentano: „Alles, was zwischen unserm Auge und einem entfernten zu Sehenden als Mittler steht, uns den entfernten Gegenstand nähert, ihm aber zugleich etwas von dem seinigen mitgiebt, ist romantisch.“7

„Schumann ist der Dichter“ wurde im Oktober 2004 wie geplant vor der Aufführung von Schumanns vierter Symphonie uraufgeführt. Mit Pikkoloflöte, Kontrafagott, Schlagzeug, Celesta, Harfe und Klavier geht das Orchesterstück nur leicht über die sonst identische Besetzung von Schumanns Symphonie hinaus. Im Werkkommentar unterstreicht Birkenkötter die doppelte Funktion seines „kurzen (Eröffnungs-)Stücks“ als „eine Auseinandersetzung mit dem gegebenen Thema Fanfare und eine komponierte Hinführung zu Schumanns großartiger vierter Symphonie“.8 Trotz der offensichtlichen Bezugnahmen handelt es sich nicht um eine komponierte Einführung wie bei vieler alibihafter neuer Musik, die mit beliebten Häppchen aus der vertrauten Musiktradition ein konservatives Fest- oder Abonnementpublikum zu ködern sucht. Statt die Extreme Alt und Neu, Vertraut und Unbekannt in einer Kompromissmischung aus romantisierter Moderne oder modernisiertem Romantizismus zu vermengen, bleiben die Pole trotz ihrer beziehungsreichen Vermittlung unvermindert als solche kenntlich.

„Schumann ist der Dichter“ ist ein sowohl material als auch strukturell, klanglich und formal eigenständiges Stück. Durch prominente Zitate lenkt es gleichwohl die Aufmerksamkeit auf eben jene beiden Themen, die Schumanns einsätzige Symphonie zur übergeordneten vierteiligen Sonatenform verklammern. Insofern mag eine Aufführung unmittelbar vor dieser Symphonie durchaus die Funktion eines Ohrenöffners erfüllen, der dem Publikum analytische und assoziative Zugänge zu Schumann eröffnet. Ebenso denkbar wäre eine umgekehrte Abfolge, wie Birkenkötter bemerkt: „Der Dirigent der Uraufführung, Mario Venzago, brachte später die spannende Frage ins Spiel, wie es wäre, das Stück einmal nicht vor, sondern nach Schumanns Symphonie zu spielen. Aber auch bei späteren Aufführungen (in Winterthur, Bremen und Düsseldorf) wurde es immer vor Schumann gespielt.“ Ginge Schumanns Symphonie wirklich einmal Birkenkötters Stück voraus, würde nicht diese durch jenes vermittelt, sondern umgekehrt. Doch wie man es dreht und wendet, es bleibt: romantische Vermittlung neuer Musik.

1Clemens Brentano, Godwi oder Das steinerne Herz der Mutter (1801), Berlin: Seemann, 1906, 299.

2Jörg Birkenkötter in einem Kommentar zu diesem Text vom 13. September 2021. Auch die im Folgenden zitierten Äußerungen des Komponisten stammen, sofern nicht anders angegeben, aus dieser Quelle.

3Siegfried Oechsle, „Symphonie Nr. 4 d-Moll op. 120“, in: Robert Schumann – Interpretationen seiner Werke Band 2, herausgegeben von Helmut Loos, Laaber: Laaber, 2005, 254.

4 Mit Schumann auseinandergesetzt haben sich zum Beispiel Jürg Baur, Michael Denhoff, Friedhelm Döhl, Reinhard ­Febel, York Höller, Heinz Holliger, Robin Holloway, Toshio Hosokawa, Nicolaus A. Huber, Mauricio Kagel, Wilhelm Killmayer, György Kurtág, Heinz Martin Lonquich, Klaus Ospald, Henri Pousseur, Wolfgang Rihm, Peter Ruzicka,
Dieter Schnebel, Hans Zender …

5www.breitkopf.com/work/8348/schumann-ist-der-dichter.

6Jörg Birkenkötter in einer Email an den Autor vom 29. August 2021.

7Clemens Brentano, Godwi, siehe Fußnote 1.

8Siehe Fußnote 4.