MusikTexte 172 – Februar 2022, 87–88

Glasaugen in Aspik

„Der futurologische Kongress“ in Karlsruhe

von Rainer Nonnenmann

Den Anstoß zum Kongress hatte „Moonbreaker – Ein Musikfestival auf dem Mond im Jahre 2121“ der Komponisten Nico Sauer und Vincent Wickström gegeben. Zu Beginn dieses Hörspiels wartet das Publikum geduldig auf den Start einer Rakete zur Nachtseite des Monds, um dort unter einer großen Glaskuppel in einem Krater den überwältigenden Anblick der funkelnden Sterne zu genießen und dann mittels des neuesten In-Ear-Audiosystems „Super-Sound-Nexus“ die komplette Umgebung samt Publikum nur noch rein hörend wahrzunehmen, zur Musik zu tanzen oder längst verklungene Ereignisse im Quantenbereich aufzustöbern. Eindrücklich demonstriert wurde diese Sonoarchäologie anhand des ersten mit Hahn, Ente und Hammel „bemannten“ Flugs der Montgolfière in Versailles 1783, deren Krähen, Schnattern und Blöken bis heute als minimales Echo durch die Erdatmosphäre schwingt.

Das Publikum 2021 sitzt indes unter dem Einfluss terrestrischer Schwerkraft im Konzertsaal des Karlsruher Wolfgang-Rihm-Forums, wo man die ohrenweitende Nachtschwärze durch Augenbinden verpasst bekommt, damit sich die knapp anderthalb Stunden dauernde phantastische Reise zum Trabanten ohne optische Streu­ungen möglichst intensiv imaginieren lässt. Spannend ist auch die anhand verschiedener Quellen bruchstückhaft rekonstruierte Vorgeschichte dieses lunaren Unternehmens. Zu hören sind Audio­botschaften des ebenso genialischen wie dämonisch-besessenen Erfinders Vinko Sauerstrom sowie Nachrichtenmeldungen über den von ihm entwickelten „Sonovorismus“, einem Verfahren zur Ernährung des Menschen ausschließlich von Klängen. Zehnkanalig in den Raum projiziert erklingen elektronische Stücke von neun Komponistinnen und Komponisten – neben den beiden Urhebern unter anderem Alexander Schubert, Jlin, Catnapp und Meat Karaoke Quality Time –, deren ästhetische Eigenständigkeit sich frei assoziativ auf die Erzählfäden bezieht, statt diese bloß zu illustrieren.

Zuvor hatten Sauer und Wickström begründet, warum ihr Festival auf dem Mond stattfindet. Vor vierzigtausend Jahren habe der Neandertaler das Hören durch Musik zu domestizieren begonnen, so dass die heutigen Konzertsäle vollends zu langweiligen „Safe Spaces“ verkommen seien. Demgegenüber gelte es, das Hören durch „Radikalextremes Aben­teuerlauschen R. E. A. L.“ wieder gefährlich zu machen, unter anderem durch die lebensfeindlichen Umstände bei minus 160 Grad auf der Rückseite des Monds. In Videos und Life-Darbietungen demonstrierte das Duo außerdem gemeingefährliche „Ex­trem­ent­spannungsmusik“, die in der Badewanne unter Risiko des Ertrinkens zu hören sei, „Galgenmusik“ auf einer Bockleiter mit Strick um den Hals, „Atomsphärisches Hören“ an besonders strahlenbelasteten Orten, „Pandemisches Hören“ ohne Befolgung von Corona-Sicherheitsbestimmungen so­­­wie fünfzehnsekündige Miniaturen beim Fahren auf der Autobahn mit geschlossenen Augen.

Den „Futurologischen Kongress“ vorbereitet hatten Markus Hechtle und Jörg Mainka in einem Seminar mit Studierenden aus Berlin und Karlsruhe. Hechtle eröffnete die Tagung mit dem Hinweis auf die hundertsten Geburtstage der Donaueschinger Musiktage sowie des russischen Phantasten Stanislav Lem, von dem unter anderem der Roman „Der Futurologische Kongress“ stammt. Zugleich pro­klamierte Hechtle nichts Geringeres als den futurologischen Turn: „Wir sind Meister:innen im Nach-Hinten-Hören! … Aber was, wenn wir uns mal umdrehen und nach vorne blicken?“ Statt allem Retro endlich mal ein bisschen Futuro! Das Kontinuum von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verdeutlichte der Komponist am Beispiel eines Abendessens mit Wolfgang Rihm, bei dem die beiden in einem vietnamesischen Sternerestaurant eine sagenhaft leckere Bouillon genossen und auf Nachfrage von der Wirtin erfuhren, die Brühe würde mit Rindfleisch und Markknochen nicht nur während Stunden, sondern tage-, wochen- und gar monatelang ständig durch Nachgießen frischer Brühe immer wieder neu eingekocht, so dass diese Spezialität bis zum heutigen Tag noch Spurenelemente der erstmalig angesetzten Brühe von 1743 enthalte. Futurologie einmal nicht als Karten- oder Kaffeesatz-, sondern als Suppenleserei! Wer sich mit fernen Zeiten beschäftigt – so pflichtete Wolfgang Rihm aus dem Publikum bei –, interessiert sich immer auch für sich selbst und die eigene Gegenwart. Das wird wohl auch bei der Exhumierung der Überreste Theodor W. Adornos so sein, bei der man laut Jörg Mainkas „Erinnerungen an die Zukunft“ dereinst ein in Karbon eingelegtes Exemplar der „Negativen Dialektik“ plötzlich als etwas ganz Positives entdecken werde.

Der Musikwissenschaftler Stefan Drees unternahm auf breit fundierter Quellenbasis nichts Geringeres als eine „Inventur 2121 – Beobachtungen zum zeitgenössischen Musikleben im ersten Drittel des 22. Jahrhunderts“. Während der 2020er Jahre hatte die Covid-19-Pandemie zu verstärktem Renditedenken sowie zu gravierenden Mittelkürzungen und Schließungen von Philharmonien, Opernhäusern und Musikhochschulen ge­führt. Infolge des zunehmend beschränkten Repertoires wurden algorithmische Spielpläne entwickelt und sämtliche Intendanten und Kuratoren entlassen. Bekannte Bands wie ABBA oder Interpretinnen wie Anna Netrebko traten fortan als reanimierte Hologramme auf, während die meisten Musikwerke des vergangenen und gegenwärtigen Jahrhunderts wegen ihrer „political incorrectness“ verboten wurden. Von jenseits der Datumsgrenze bei den Antipoden im neuseeländischen Auckland – also gleichsam aus der Zukunft – meldete sich Alexander Pilchen per Videostream zu Wort. Seine „Zeitkapseln“ an nachkommende Komponistengenerationen überschlugen sich in hoffnungstrunkenen Allmachtsphantasien, Musik könne Frieden, Klima und Menschheit retten, den ganzen Globus zum Kulturzentrum verwandeln und allen Musikschaffenden grenzenlose Verehrung bescheren. Andere Visionen zeichneten dagegen düstere Schreckensbilder von Musik als dem dienstbaren Knebel- und Manipulationsinstrument einer islamisch-kommunistischen Weltherrschaft.

Den aktuellen Entwicklungsstand Künstlicher Intelligenz dachte Henning Wölk zu einer „kollektiven Individualisierung“ weiter, die Musik den momentanen mentalen und physischen Befindlichkeiten der User schmiegsam anpasst. Hier scheint Erik Saties Idee einer hoch personalisierten „musique d’ameu­ble­ment“ vollends wahr zu werden, freilich mit der realen Option, dass sich die vermeintliche Individualisierung und Demokratisierung der Musikproduktion und Rezeption im Gegenteil als globale Standardisierung und Uniformierung durch einen totalitären Machtapparat entpuppt.

Wolfgang Heinigers Audiovortrag aus dem Jahr 2121 erläuterte rückblickend Entstehung und Funktionsweise des „Symbiontischen Lychenismus“, besser bekannt geworden als „Myzelisierung“ oder „Verchampignonisierung“ des Menschen. Das Verfahren habe man erstmalig 2057 im Protowerk „Verschiedene Farben“ von Aishe Clara Özgul angewandt, wo die Komponistin laut Uraufführungskritik der Bonner KI Modell Kaiser 5 mittels Sporen ein sonophiles Psychomyzin abgesondert habe, das die Körper des Publikums dank rapide wuchernder Verflechtungen umgehend in leibhaftige Klangkörper verwandelt habe, so dass sich die Musik nicht mehr nur mit den Ohren hören ließ, sondern ganzheitlich mit allen Sinnen auch sehen, schmecken, fühlen, riechen.

Ähnlich hatte Stanisław Lem in „Der futurologische Kongress“ (1978) bereits eine Psyche­mokratie beschrieben, bei der die Bevölkerung permanent Halluzinogenen ausgesetzt wird und sich durch Einnahme von Tabletten situativ wohltuende Scheinwelten vorgaukelt, um die tatsächlich katastrophalen Verhältnisse auf dem längst unbewohnbar gewordenen, kriegsverheerten, vergifteten, verelendeten Planeten zu vergessen.

Im Vortrag zum siebzigsten Jubiläumsforum der „International Society for Musical Multiculturalism“ ISMM 2121 erwähnte Saemi Jeong das „Bengalische Abkommen für kulturelle Vielfalt“ von 2041. In dessen Folge hatte man die Meta­verse-Technologie zur multisensoriellen Wahrnehmung und Wissensverarbeitung so weit revolutioniert, dass sich mittels im Gehirn implantierter Chips von riesigen Datenbanken Mind-uploads aller Kulturen der Welt samt aller Kontexte und Erfahrungswerte abrufen ließen. Die westliche Pop- und Kunstmusik sei dadurch endlich ihrer globalen Dominanz beraubt und auf Augenhöhe mit noch so kleinen Mikrokulturen gestellt worden. Mit der universellen Verfügbarkeit der globalen Diversität ging allerdings auch gerade das verloren, was Kultur wesentlich ausmacht, nämlich die ebenso lustvolle wie verstörende Erfahrung von Differenz sowie das anstrengende und immer wieder kreativ missverstehende Erleben und Ergründen des Fremden im Abgleich mit vermeintlich Eigenem. Totale Appropriation kennt kein Anderes, Äußeres, Fremdes mehr, sondern hat sich alles immer schon einverleibt.

Einstweilen werden Kulturen unterschiedlichster Epochen und Herkünfte jedoch noch zur „Hyperkultur“ verklumpt – so der Philosoph Byung-Chul Han –, indem man sie im globalen Maßstab ent-lehnt, ent-ortet, ent-grenzt, ent-historisiert, ent-auratisiert, ent-wurzelt und damit als beliebige Requisiten ent-wertet. Mit fortschreitender Angleichung aller Kulturen, Überlieferungen und Stile herrscht dann irgendwann überall auf dem Planeten dieselbe entropische Zeit- und Ortlosigkeit. Doch vorerst erleben wir die Zeitkunst Musik noch hier und jetzt. Und dasselbe Glück der Gegenwart bereitet uns womöglich auch eben jene sagenhafte, seit 278 Jahren hoffentlich noch für viele Generationen weiter köchelnde Bouillon.