MusikTexte 173 – Mai 2022, 92–93

„Das Machen so machen, als sei es nicht gemacht“

Weitere Bücher zu Wolfgang Rihm von Eleonore Büning und Lotte Thaler

von Rainer Nonnenmann

Kurz nach Reininghaus’ „Rihm: Der Repräsentative“ erschienen anlässlich des siebzigsten Geburtstags des Komponisten zwei weitere Bücher von langjährig mit ihm freundschaftlich verbundenen Musikjournalistinnen.

„Die Biographie“

Eleonore Büning, ehemalige Musikredakteurin der FAZ und wie der Jubilar Jahrgang 1952, betitelt ihr Buch „Wolfgang Rihm: Über die Linie“ nach einer Werk­reihe des Komponisten. Im Untertitel nennt sich der Band ebenso entschieden wie unbescheiden mit bestimmtem Artikel „Die Biographie“, was freilich mehr behauptet als eingelöst wird. Im Vorwort erklärt die Autorin den Komponisten zum „Sonderfall“, weil er zu keiner Seilschaft gehöre, auch keine solche begründet habe, ein „Einzelgänger“ sei, sein Musikbegriff nichts ausschließe und seine inzwischen über sechshundert Werke ein wachsendes Publikum fänden. Die damit geweckte Neugierde dämpft die Autorin jedoch im nächsten Moment mit zwei ernüchternden Behauptungen: Rihms Musik widersetze sich jedem Analyseversuch, und die „Menge flammender und enigmatischer Essays“ des wortgewandten Komponisten ließen letztlich nur eines zu, „Rihm erklärt Rihm.“ Warum also noch ein weiteres Buch, wo es doch „letztlich keinen besseren Anwalt für Rihms Werke als Rihm selbst“ gibt?

Bünings Buch gliedert sich in sieben Kapitel mit mehr blumigen als inhaltlich aufschlussreichen Überschriften: „Sie wünschen, wir spielen“; „Mit Blut geschrieben“, „,ES‘ passiert“, et cetera. Nachgegangen wird wichtigen Stationen von Rihms Leben und Werk. Die Kindheit im musikalisch unauffälligen Elternhaus in Karlsruhe mit der neun Jahre jüngeren Schwester ist voll von sonntäglichen Museumsbesuchen, frühem Improvisieren und Komponieren, auch Schuleschwänzen, Sitzenbleiben und begeistertem Mitwirken im Oratorienchor. Von den ersten Orgelstücken ausgehend behandelt die Autorin dann Rihms geistliches Œuvre bis zu den 2017 entstandenen „Requiem-Strophen“. Von dort geht es zurück zu frühen Klavierwerken, erneut ein paar Jahre voran zur Uraufführung des Aufregers „Morphonie“ bei den Donaueschinger Musiktagen 1974, und abermals zurück zu Lehrern, Schulfreunden und der ersten großen Liebe am Bismarck-Gymnasium. Der zeitliche Zickzackkurs ist gewollt und zieht sich durch das ganze Buch. Er erhellt Auswirkungen früher Prägungen und Freundschaften auf spätere Werke und wirkt beim flüssigen Lesen des leicht verständlich geschriebenen Texts nicht störend. Das kleinteilige Rein- und Rausspringen aus übergeordneten Themen, Einzelwerken, Werkkomplexen und verschiedenen Schaffensphasen ist allerdings auch symptomatisch für die Flüchtig- und Oberflächlichkeit der Darstellung.

Die Überfülle von Rihms Œuvre zwingt selbstverständlich zu einer Auswahl. Büning lässt aber unklar, warum sie manche Opera behandelt und andere nicht. Ihre Selektion wirkt zufällig, statt exemplarisch. Statt auf die Diskussion von Kriterien, die Reflexion von Methoden sowie analytische Tiefenbohrungen zielt sie auf Breite. Besprochen werden rund 125 Stücke, darunter manche eingehend, etwa die Frühwerke „Paraphrase“, „Musik für 3 Streicher“ und „Tutuguri“, ferner die Werkkomplexe zu Antonin Ar­taud, zum Mahlerfreund Kurt Kocherscheidt, zu Friedrich Nietzsche sowie die fünf im Auftrag von Paul Sacher geschriebenen Werke, die fünf Violinkonzerte und die drei Einakter „Drei Frauen“.

Bloß erwähnt statt ergründet werden Rihms Beziehungen zu Luigi Nono und Helmut Lachenmann sowie zu den Malern Georg Baselitz, Per Kirkeby, Arnulf Rainer und Anselm Kiefer. Meist beschränkt sich die Autorin auf kursorische Angaben zu einzelnen Werken. Sie referiert Besetzungsangaben und zitiert – darin Reininghaus ähnlich – mit Vorliebe Premierenkritiken bekannter Musikjournalisten statt eigene Eindrücke zu schildern und Erkenntnisse zu formulieren. Bei szenischen Werken geht es weniger um Musik als um Auftraggeber, Libretti, Handlungen, Personagen, Interpreten, Pressespiegel.

Informativ sind Bünings Ausführungen über Rihms ersten Kompositionslehrer Eugen Werner Velte und die späteren Lehrer Karlheinz Stockhausen, Klaus Huber und den Musikwissenschaftler Hans Heinrich Eggebrecht, mit denen und deren Schülern Rihm teils lebenslang verbunden blieb. Aufschlussreich ist auch die Schilderung der Studentenbewegung 1968, als sich Schulkameraden politisierten und später sogar der RAF anschlossen, während sich Rihm schon damals nicht an den gesellschaftlichen Debatten beteiligte, sondern „körperlichen Widerwillen“ empfand gegen „dieses Kommissarverhalten von den Klassenkameraden, gesinnungsschnüffeleiartig“, mit all dem Furor von Revolutions- und „Vernichtungswillen“.

Büning beleuchtet in aller Kürze, wie in Rihms verzweigten Werkkomplexen die einzelnen Stücke durch „Übermalen“, „Umschreiben“, „Profilerationen“, „Weiterwuchern“ verbunden sind. Eine beispielhafte Detailanalyse der Techniken und Motive solcher Ver-, Um- und Ausarbeitungen liefert sie nicht. Als Ostinato durch das Buch ziehen sich Anmerkungen, dass von (Ur)Aufführungen und Werken entweder Mitschnitte und Tonträger existieren oder gerade nicht existieren, als ob erst CDs den Werken die letzte Anerkennung verleihen würden. Im Anhang des Bands findet sich außerdem eine vierzigseitige Diskographie.

Zuweilen werden biographische „Eckdaten“ geballt im Reportagestil nachgetragen, als falle der Autorin plötzlich wieder ein, dass sie ja „Die Biographie“ des berühmten Komponisten schreibt. Dabei ist Rihms Leben spektakulär unaufregend. Es besteht schlicht und einfach vor allem aus Komponieren, Unterrichten, Musikhören, Texteschreiben, Vortragen. Ansonsten war Rihm dreimal verheiratet, mit einer Kunstrestauratorin, einer Psychologin und zur Zeit mit einer Kunsthistorikerin, hat aus zweiter Ehe einen Sohn und eine Tochter, hat keinen Führerschein, lässt sich stattdessen fahren oder nimmt ein Taxi, isst gerne und gut, trinkt lieber Wein als Bier und ist im Übrigen „ein geselliger Typ“. Die Bezeichnung „Biographie“ passte vermutlich einfach besser ins Sortiment des Verlags Benevento, einem Subunternehmen der Red Bull Media House GmbH im Schatten der Salzburger Red Bull-Arena, wo Krimis, Romane, Ratgeber und Bücher zu Politik, Ernährung, Kinder, Frauen, Natur, Pferde, Hunde erscheinen. Eleonore Büning publizierte hier bereits „Sprechen wir über Beethoven: Ein Musikverführer“ (2019) und „Warum geht der Dirigent so oft zum Friseur?“ (2020).

Der beste Satz des Buchs stammt – wie könnte es anders sein – von Rihm selbst, der die Meinung vertritt, „dass sich künstlerische Probleme grundsätzlich von selbst lösen, da in der Kunst das Problem die Lösung ist. Man muss nur lange genug dabei ausharren. Dann wird man gewahr, wie ,es‘ sich löst. Ich glaube, das Warten ist eigentlich das Schwere, ja, Warten ist die schwerste Arbeit. Man kann sie aber paradoxerweise nur durch tätige Ungeduld leisten, also nicht durch dröges Sitzenbleiben.“

Eleonore Büning, Wolfgang Rihm – Über die Linie. Die Biographie, Wals-Siezenheim: Benevento, 2022.


Gespräche

Lotte Thalers kleines Bändchen „Alles kommt ans Licht“ enthält neben Gesprächen der Autorin mit Wolfgang Rihm auch Auszüge aus dessen Unterhaltungen mit dem Geiger Oliver Wille vom Kuss-Quartett sowie dem SWR-Redakteur Bernd Künzig. Alle Interviews fanden im Januar 2022 statt.

Thaler und Rihm kennen sich seit gemeinsamen Studientagen am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Freiburg. Die Vertrautheit und spätere berufliche Verbindung der einstigen FAZ-Autorin und SWR-Musikredakteurin mit dem Komponisten erlaubt persönliche Fragen, auf die Rihm ebenso persönlich reagiert. Es geht um seine schwere Krebserkrankung und Todesgedanken, um sein Verhältnis zur Religion und die Echolosigkeit der eigenen Arbeit während der Corona-Pandemie. Die Sympathie zwischen den Gesprächspartnern lässt freilich mögliche Kontroversen und kritische Einwände nicht aufkommen. Zuweilen hätte man sich Nachfragen gewünscht, etwa in Bezug auf Rihms „Marsyas“ für Trompete, Schlagzeug und Orchester über den von Apollon gehäuteten Satyr, zu dem der Komponist ebenso existentiell wie sybillinisch bekennt: „die Figur der ,Haut‘ liebe ich besonders. Sie könnte mein eigener Rest im Spiel sein.“

Rihm formuliert zuweilen bewusst dunkel und unfasslich, um Kunst und Musik nicht vorschnell auf verflachende Nenner zu bringen. Die Frage, wann und wo bei ihm das Komponieren beginne, quittiert er mit: „Komposition beginnt immer und nie. Eben jetzt, aber auch im Unvordenklichen, wo es mich noch gar nicht gab.“ Mit Paradoxien möchte er die Dinge im Fluss halten, öffnen und Denkanstöße geben: „Musik, die Hörerwartungen entspricht (und seien diese auch noch so avantgardistisch und den Hörerwartungen widersprechend…), kann eigentlich keine Kunst sein, denn sonst wäre es ja leicht, sie zu fabrizieren, man müßte nur den Hörerwartungen nicht entsprechen …“ Zu bestimmten Punkten äußert sich Rihm dezidiert und mit nebenbei lancierten Spitzen gegen Klischeevorstellungen: „Beim Komponieren von Musik stelle ich mir Musik vor, keine Bilder, keine Farben, keine Nahrungsmittel, keine Geldscheine etc. Beim Sprechen über das Komponieren allerdings greife ich zu metaphorischen Bildungen.“

Beim Lesen folgt man gerne Rihms Formulierungslust und Freude an skurrilen Bildern: „Je älter Musik wird, umso mehr sind die Meinungen und die Vorstellungen über sie an ihr angesiedelt wie an einem alten Pottwal mit vielen Buckeln.“ Den Hinweis auf sein Faible für Wahnsinnige und Irre wie Lenz, Nietzsche, Artaud, Wölfli und Herbeck kontert er ebenso schlagfertig wie humorvoll: „Ich habe nicht die Fähigkeit, Nicht-Irre darzustellen. Ich habe nicht die Fähigkeit, die Beamtenfamilie beim Abendessen, was ja auch ein völlig irrer Zustand wäre, darzustellen, und schon gar nicht mit Musik.“ Streckenweise überwiegen altbekannte Aussagen über sein Ver­hält­nis zur Tradition, speziell zu Sibelius, Mahler, Schönberg, sein Ideal einer organisch wachsenden Musik, über das Deutsch-Sein und das Schreiben von Noten mit der Hand als „selbstverständlich integraler Bestandteil des künstlerischen Akts“, sowie seine wiederkehrenden Plädoyers für die Freiheit der Kunst von allem Modischen, Mehrheitlichen und wahnhaften Wahrheitsbesitz.

Rihms zentrale Vorstellung gilt einer Musik, „die sich von selbst ergibt“, die „quasi von selber entsteht“ und deswegen „selbstverständlich“ ist: „Genau darum geht es mir – um die Selbstverständlichkeit“. Variationen dieses Leitmotivs ziehen sich durch alle Gespräche, auch als Gedanke der Eigengesetzlichkeit des Werdens und Wachsens der Werke: „Die Musik wird dann aber doch, wie sie will“, „das Werk wird, wie es will“, „es ist immer sehr instinktiv, sehr intuitiv, sehr wenig vorgeplant.“ Und „am liebsten wäre es mir, Musik könnte so unwillkürlich wie eine Pflanze wachsen“. Letztlich ist Rihms Ästhetik eine Creatio quia absurdum: „ich habe seit frühester Zeit den Wunsch, die Vorstellung, daß Musik quasi von selbst entsteht. Natürlich weiß ich: das ist ein Trugbild, Musik muß ,gemacht‘ werden. Aber ich werde, solange ich kann, das Machen so machen, als sei es nicht gemacht – sondern von selbst gewachsen/geworden.“

Lotte Thaler, Alles kommt ans Licht – Gespräche mit Wolfgang Rihm (= Caprices 15), Hofheim: wolke, 2022.