MusikTexte 173 – Mai 2022, 63–67

Der ewige Revolutionär?

Beethoven im gegenwärtigen Komponieren – Teil III: Kommentare zur neunten Symphonie

von Rainer Nonnenmann

Humanität trumpft nicht auf.
Theodor W. Adorno

Ludwig van Beethovens neunte Symphonie gehört zu den weltweit populärsten Musikwerken. Der Schlusschor auf Friedrich Schillers „Ode an die Freude“ wird dabei meist unter dem Titel „Chorale“ mit dem gesamten Werk gleichgesetzt. Dessen durch alle Zeitläufte anhaltende Beliebtheit ist jedoch eine schwere Hypothek. Denn kaum eine andere Symphonie wurde für so unterschiedliche Zwecke und Ideologien in Dienst genommen, von Stalin und Mao ebenso wie von Hitler, Goebbels, DDR, NATO, EU, Mauerfall, Wiedervereinigung, Präsidentschaften, Neujahrskonzerten, Gedenktagen, Feierstunden, Staatsakten … Die scheinbar unmissverständliche Botschaft „Alle Menschen werden Brüder, diesen Kuss der ganzen Welt“ wurde ohne größere Widerstände für unterschiedliche Führer, Völker, Vaterländer funktionalisiert und umgebogen. Diese Rezeptionsgeschichte hat sich dem Werk eingeschrieben. Beethovens vielfach ge- und missbrauchte Neunte gilt daher zu Recht als ein „Paradigma für instrumentalisierte Kunst“.1 Das macht Aufführungen kommentierungsbedürftig und provoziert Versuche, die Symphonie nach Möglichkeit von solchen Funktionalisierungen zu befreien oder diese zumindest zu problematisieren.

Bereits Theodor W. Adorno kritisierte an Beethovens prometheischen Durchbruchswerken „die Manipulierung der Transzendenz, das Muß, die Gewalt“.2 Im Hinblick auf den überschäumenden Optimismus des Chorfinales der Neunten erhob er den Einwand: „Humanität trumpft nicht auf.“3 Ein kritisches Gegenstück zum affirmativ empfundenen „Freude“-Überschwang schuf Michael Gielen, als er 1978 in den Beginn des Schlusssatzes eine Aufführung von Arnold Schönbergs „A Survivor from Warsaw“ für einen Sprecher, Männerchor und Orchester opus 46 (1947) einschob. In dieser Konstellation wirkte die zwölftönige Kantate wie ein Einspruch gegen Beethovens Jubelchor und dessen Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten. Diese Montage wirkt umso plausibler, als zu Beginn von Schönbergs Stück wie in Beethovens Finale eine Art „Schreckensfanfare“ ertönt, mit der SS-Soldaten die Bewohner des Gettos zur Deportation ins Vernichtungslager antreten lassen. Und am Ende singt dann – alternativ zur „Ode an die Freude“ – der Männerchor in größter Not das hebräische Glaubensbekenntnis „Schma Jisrael“ als Manifestation der Gemeinschaft der Juden mit Gott.

Dass sich Schillers/Beethovens Humanismus gegenüber Weltkriegen, Diktaturen und Holocaust als ohnmächtig, ja schlimmer noch als dienstbar erwies, hatte bereits Thomas Mann in seinem Roman „Doktor Faustus“ (1947) problematisiert, als er den fiktiven deutschen Tonsetzer Adrian Leverkühn in dessen letztem vollendetem Oratorium „Dr. Fausti Weheklag“ Beethovens neunte Symphonie „zurücknehmen“ lassen wollte. Motive einer solch generellen Revision finden sich auch in einigen realen Kompositionen, allen voran Bernd Alois Zimmermanns „Requiem für einen jungen Dichter“ (1967–1969), Hans Werner Henzes „Sinfonia N. 9“ (1995–1997) für gemischten Chor und Orchester nach Motiven aus Anna Seghers’ „Das siebte Kreuz“ (1942) sowie Andreas F. Staffels „Beethoven off set – oder: ich nehme sie zurück die neunte Symphonie“ (2015–2019).4 Darüberhinaus entstanden – vor allem nach 2010 – im Auftrag von Orchestern und Konzerthäusern etliche Werke, die bei besonderen Jubiläums- und Festkonzerten einer Aufführung von Beethovens neunter Symphonie vorangestellt werden und daher auch irgendeinen Bezug zu dieser Symphonie haben sollten. Titel wie „Prolog“, „Präludium“, „Paraphrase“ oder „Intermezzi“ weisen diese Auftragswerke als komponierte Kommentare zu Beethovens Neunter aus. Dabei werden idealerweise neue Perspektiven auf die Symphonie eröffnet, weltanschauliche Aufladungen thematisiert und Trivialisierungen als Festakt und Bestseller verhindert.

Die im Folgenden erörterten Stücke stammen von Helmut Lachenmann, Siegfried Matthus, Friedrich Cerha, Aribert Reimann, Rodion Schtschedrin, Magnus Lindberg, Christian Jost, Mark-Anthony Turnage, Luís Antunes Pena, Pierre Henry, Johannes S. Sistermanns, Gabriel Prokofiev und Johannes Kreidler. Die meisten verfolgen das Anliegen, Beethovens Symphonie möge nicht erneut im Sinne dieser Ideologie oder jener Staatsform zurechtgehört werden, sondern durch möglichst wache Ohren wieder als eben jene neue Musik erlebt werden, als die das Werk bei seiner Wiener Uraufführung 1824 wahrgenommen wurde. Die Beethoven-Reflexe folgen damit auf je eigene Weise der Maxime, dass, wer neue Musik verstehen will, auch alte hören soll, und wer von neuer Musik nichts wissen will, auch von der alten nichts versteht, weil er verkennt, dass diese einst die neue Musik ihrer Zeit war.5

Helmut Lachenmann

Anlässlich des vierzigjährigen Bestehens des Südwestfunk-Sinfonieorchesters Baden-Baden 1986 erhielt Helmut Lachenmann den Auftrag zur Komposition eines neuen Werks, das beim Festkonzert als „Prolog“ vor Beethovens neunter Symphonie uraufgeführt werden sollte. Da Teile des Orchesters das fertige Stück „Staub“ (1985–1987) jedoch nicht im repräsentativen Rahmen vor geladenen Gästen und hochrangigen Vertretern der Landesregierung spielen wollten, wurde es von Intendant und Hörfunkdirektor abgesetzt und – Ironie des Schicksals – ein Jahr später 1987 vom Sinfonieorchester des Saarländischen Rundfunks bei einem Festkonzert zu dessen fünfzigjährigem Bestehen vor Beethovens neunter Symphonie uraufgeführt.6 Lachenmann hatte seit Mitte der Siebzigerjahre immer wieder Relikte der tonalen Musiksprache in seine Werke einbezogen: Volks-, Kinder- und Weihnachtslieder, Tanzsätze sowie bekannte Werke der Tradition, nicht zuletzt eine Aufnahme von Mozarts Klarinettenkonzert in „Accanto“ (1975/76). In „Staub“ nutzt er dieselbe Instrumentalbesetzung wie Beethovens Neunte zuzüglich einiger Schlaginstrumente. Aus überwiegend tonlosen Streich- und Blasaktionen erheben sich immer wieder reale Tonhöhen, Unisoni, Klangflächen und Repetitionen. Der Orchesterapparat wird gleichsam „entstaubt“ und neu zum Leuchten gebracht, bevor er wieder geräuschhaft-tonlos „verstaubt“. Im Hinblick auf Beethovens Gehörleiden lässt sich der Verlust klingender Tonhöhen womöglich auch als „Ertauben“ verstehen.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Komponisten, die sich auf Beethoven beziehen, verwendet Lachenmann keine wörtlichen Zitate, sondern nur eine Trümmermasse aus anonymen Gesten, Floskeln, Spielfiguren, Läufen, Pendelfiguren, Dreiklängen, Rhythmen und Instrumentationstopoi, die gelegentlich zu Sprachfetzen kristallisieren, die entfernt an Beethovens Symphonie erinnern. Beispielsweise verweist zu Beginn ein Unisono d der Streicher (ab Takt 12) auf den Anfang von Beethovens Kopfsatz, dessen Sechzehnteltriolen-Repetitionen der Streicher später als tonlose „Verstaubungsvarianten“ (ab Takt 81 und 94) wiederkehren. Dagegen erinnern flirrend schnelle Tonumspielungen der D-Dur-Terz (ab Takt 30 und erneut 304) an ähnliche Passagen des Schlusssatzes. Auf dem Fell der Großen Trommel gewischt oder auf den Pauken mit harten Schlägeln geschlagen ähneln punktierte Rhythmen (Takte 178 und 310) dem Hauptmotiv des Scherzos. Und die Kontur tonhöhengefärbter Schlagzeugeinsätze (ab Takt 194) gibt ein separates Notensystem als die synkopierte Fortspinnung des Auftaktmotivs des Hauptthemas aus der Durchführung des Kopfsatzes zu erkennen. Den F-Dur-Akkord der Flöten in Takt 142 versah Lachenmann im Partiturentwurf mit den Schiller-Worten „überm Sternenzelt“, die Beethoven mit einem Unisono F vertonte. Den Vers „und der Cherub steht vor Gott“ lässt Beethoven von G-Dur über D- und A-Dur im Quintenzirkel aufsteigen, um auf dem Höhepunkt plötzlich die Untermediante F-Dur als Signum des Erhaben wie einen Kniefall vor dem Numinosen zu bringen.

Lachenmann interessierte vor allem die Körperlichkeit der Eröffnung der Symphonie: leerer Quintrahmen, flirrende Tremolo-Fläche, herabzuckende Quinten und Quarten, die Wucht des doppeltpunktierten Tutti-Hauptthemas samt dessen charakteristischer Dreisechzehntel-Auftaktfigur, sowie die Dreiviertelmotorik und punktierte Rhythmik fallender Oktaven im Scherzo.7 Den letzten Abschnitt von „Staub“ könnte man als eine „Zurücknahme“ des Jubelfinales von Beethovens neunter Symphonie verstehen. Noch grundsätzlicher handelt es sich um eine Negation dessen, was gemeinhin überhaupt als Musik verstanden wird. Im Werkkommentar spricht Lachenmann von seiner „Suche nach einer – musikalisch erfahrbaren – ,Nicht-Musik‘ in einer Situation der schnell verfügbaren Selbstverständlichkeit ,Musik‘.“8 Gegen Ende vollzieht „Staub“ ein Ritardando über Generalpausen bis zu völligem Stillstand. Tonlose Striche verebben zu kompletter Lautlosigkeit und Entropie, bis schließlich nichts mehr hör- und keine Bewegung mehr sichtbar ist. Wie am Ende von „Klangschatten – mein Saitenspiel“ (1972) handelt es sich um eine „Musik zum Auf-Hören“ im doppelten Sinne von Beenden und gespanntem Aufhorchen.9

Lachenmanns Bezeichnung von „Staub“ als „Prolog“ suggeriert gegenüber Beethovens Symphonie eine hinführende Funktion. Das zwanzigminütige Stück ist jedoch keine komponierte Werkeinführung, sondern allenfalls eine „Vorrede“, deren geräuschhaftes Klangbild bei identischer Besetzung direkt vor einer Aufführung der Neunten mit Schillers idealistischer Sprachkraft und Beethovens auftrumpfendem Chorfinale kontrastiert. Zugleich konfrontiert „Staub“ das Publikum mit einer ähnlich offenen Situation wie der Beginn der Symphonie. Bei Beethoven lässt die zunächst vorenthaltene Rahmensetzung ohne klare Tonart und Taktart das Hauptthema dann im machtvollen Orchestertutti umso überwältigender über das Publikum hereinbrechen. Auf diese Weise komponierte schon Beethoven nicht Musik als sprachhaften Text wie noch Haydn oder Mozart, sondern – wie später Lachenmann mit seiner „musique concrète instrumentale“ – als eine konkret klingende Situation, in der sich das Publikum ohne Leitplanken selber hörend vorantasten muss.

Siegfried Matthus

Im Auftrag des Akademischen Orchesters Leipzig schrieb Siegfried Matthus „Neun sinfonische Intermezzi zu Schillers ,Ode an die Freude‘“ (2009). Die Uraufführung unter Leitung von Horst Förster erfolgte im Leipziger Gewandhaus am 9. November 2009 zum zwanzigsten Jahrestag der Öffnung der Berliner Mauer 1989, worauf damals Leonard Bernstein im Konzerthaus Berlin mit der Umtextierung von Beethovens Schlusschor zur „Ode an die Freiheit“ reagiert hatte. Auf die neunte Symphonie beziehen sich die Anzahl der neun „Intermezzi“ und Matthus’ Werkkommentar: „Das ,Inferno‘ mit den ,niederstürzenden Millionen‘ ist eine Erinnerung daran, dass die Schillersche und Beethovensche ,Freudenbotschaft‘ in der Vergangenheit und in der Gegenwart Zeiträume durchschreiten musste, in denen diese Botschaft nicht gehört wurde.“ Matthus bringt Schillers Vers „Ihr stürzt nieder, Millionen?“ direkt mit den Katastrophen von Weltkrieg und Holocaust in Verbindung, als Schillers/Beethovens „Freudenbotschaft“ nicht nur ungehört blieb, sondern von den Nationalsozialisten sogar für ihre Rassenideologie missbraucht wurde. Der Titel „Intermezzi“ meint keine Implantation der Stücke als Zwischenspiele in Schillers „Ode“ und Beethovens Symphonie, sondern freie Kommentare oder Zwischenrufe, die – idealerweise vor einer Aufführung von Beethovens Neunter – geschlossen hintereinander aufgeführt werden.

Intermezzo I „con moto“ beginnt Skalen, die mit um g-Moll zentriert immer schneller und dichter ansteigen, bis das ganze Orchester einen gewaltigen Aufschwung nimmt. Diesem folgt jedoch kein Durchbruch, sondern ein ebenso schneller Abbau mit abfallenden Skalen und ruhigeren Quartenketten, die entfernt an das „Adagio“-Hauptthema von Beethovens Neunter erinnern. Ein analoger zweiter Aufschwung führt nahtlos zu Intermezzo II „semplice“ mit der in Röhrenglocken und Celesta obligat wiederkehrenden Intervallfolge b1-c2-f1-es2. Die Kombination aus aufsteigender Sekunde, Quintfall und Septimsprung findet sich auch in Intermezzo III „energico“. Die vier Hörner beginnen dort solistisch mit übergebundenen Sekund- und Terzschritten, die sich – wie später in den Streichern – nach und nach beschleunigen. Parallel zu Skalen der Holzbläser und Triolen-Repetitionen der Hörner und Pauken übernehmen schließlich sämtliche Blechbläser diese Melodie. Intermezzo IV „giocoso leggiero“ wird kontinuierlich von typischer Sechsachtel-Motorik im Tempo punktierte Viertel = 112 durchpulst. Nähe zum Scherzo der Neunten zeigen punktierte Oktavfälle der Tempelblocks ab Takt 196 sowie abrupte Wechsel der Instrumentengruppen. In Intermezzo V „affettuoso resoluto“ erklingen rasende Sextolenläufe und eine dissonante ff-Melodie aus Septimen und Tritoni. Dieselben Intervalle begegnen erneut in Intermezzo VI „grave“ als zart ausgesungene Melodie.

Matthus wollte Beethovens Symphonie nicht zitieren oder alludieren, schließt aber auch nicht aus, dass wörtliche Anspielungen unbewusst in seine Komposition eingeflossen sein könnten, einfach, weil er dieses Werk gut kennt.10 Die Melodik von Intermezzo VII „con allegrezza“ basiert ebenfalls auf Sekunden, Tritoni und Septimen über obligater Sechsachtelpulsation mit „freudiger“ Sechzehntel-Belebung auf rhythmisch unruhig wechselnden Zählzeiten. Nummer VIII „delicamente“ legt weitgespannte Melodien „molto cantabile“ über flirrende Tonwechsel-Linien der tremolierenden Streicher oder Holzbläser samt perlenden Intervallketten von Celesta und Harfe. Das letzte Intermezzo IX „agitato con nobilità“ ab Takt 431 entfaltet über dem Orgelpunkt G eine zwischen g-Moll und G-Dur changierende Melodie, die sich schrittweise höherschraubt und im steten Vierviertelmaß an den Nachsatz von Beethovens „Freude“-Melodie erinnert. Durch die kleinstufigen Sekundwechsel und Terzen ergeben sich zugleich Anklänge an die dorische Sequenz „Dies irae“ aus der lateinischen Totenmesse. Die Kreuzung von Schillers/Beethovens „Ode an die Freude“ mit dem Tag des Jüngsten Gerichts aus der Requiemsliturgie korrespondiert mit Matthus’ Deutung von Schillers „Ihr stürzt nieder, Millionen?“ als menschenmordendes „Inferno“.

Friedrich Cerha

Das Leipziger Gewandhaus-Orchester richtete an Friedrich Cerha die Anfrage, ein kürzeres Orchesterwerk zu komponieren, das vorzugsweise eine Beziehung zu Beethovens neunter Symphonie haben sollte, weil man es im selben Konzert vor dieser aufführen wollte. Der Wiener Komponist lehnte zunächst ab, weil er keine Musik über die Musik eines anderen schreiben wollte.11 Dann aber habe ihn der Anfang von Beethovens Symphonie jedoch so in Bann gezogen, dass ihm das initiale Tremolo samt darüber herabzuckenden Quinten und Quarten sowie das massiv losbrechende Tutti-Hauptthema nicht mehr aus dem Sinn gekommen seien. Cerha komponierte daraufhin „Paraphrase über den Anfang der IX. Symphonie“ für Orchester (2010) mit derselben Besetzung wie die Symphonie zuzüglich drei Schlagzeuger. Die Neunte wird darin nicht zitiert, aber alludiert. Wie Beethovens Kopfsatz beginnt Cerhas Stück mit einer diffusen Klangsituation aus lange übergebundenen Haltetönen ohne jede Orientierung über Metrum und Rhythmus in sehr langsamem Tempo Viertel = 36. Wie eine Fortsetzung von Beethovens Kernmotiv basiert die Harmonik auf absteigenden Quarten d-a-e-h-fis-cis-gis …, die sich clusterartig überlagern. Die schwebenden Akkorde changieren ohne tonale Richtung zwischen Streichern und Bläsern, die ihrerseits in zwei Gruppen alternieren. Konsequentes con sordino bei minimaler Dynamik pp oder ppp nimmt den Instrumenten dabei ihre charakteristische Klangfarbe.

In die verschwommenen Flächen treten schließlich abfallende Quarten und Quinten in der Rhythmisierung als Sechzehntel und Viertel wie zu Anfang von Beethovens Symphonie. Doch statt auftaktisch in den Geigen erscheinen die Akzente auf verschiedenen Zählzeiten in den Metallidiophonen Crotales, Röhrenglocken und Vibraphon. Wie bei Beethoven häufen sich die abfallenden Intervalle, und die Liegeklänge von Streichern und Bläsern werden immer kürzer. Der Verdichtung entspricht ein Accelerando zum identischen Tempo Viertel = 88 von Beethovens Kopfsatz „Allegro, ma non troppo, un poco maestoso“. Cerha treibt die Beschleunigung jedoch weiter zu Viertel = 126, bis sich ab Takt 54 vereinzelte Achteltriolen-Repetitionen zu einer durchgehenden Pulsation wie zu Beginn der Neunten verdichten. Schließlich werden die durch alle Stimmen wandernden Triolen von markanten Quartenakkorden der Blechbläser überlagert. Cerhas „Paraphrase“ vollzieht auf diese Weise denselben Entstehungsprozess von Beethovens Kopfsatz-Hauptthema, allerdings in starker zeitlicher Dehnung. Während bei Beethoven das vieloktavige Tutti bereits nach zwanzig Takten Vorbereitung herausbricht, erreicht Cerhas Stück seine größte Massivität und Nähe zu Beethoven erst ab Takt 89. Das Tutti spielt dann „Eine Spur ruhiger“ fff eine in Gestus und Kontur verwandte Variante des Hauptthemas.

Nach dem Kulminationspunkt zerfällt das Tutti – analog zu Beethovens erster Themenmanifestation – wieder in Einzelstimmen. Und analog zu Beethovens zweiter Verdichtungswelle kulminiert das Geschehen ab Takt 154 abermals zu Achtel-Skalen, die sukzessive den gesamten Apparat erfassen und erneut ein stampfendes Tutti fff marcato bilden. Direkt anschließend spielen sämtliche Blechbläser doppeltpunktierte Intervalle wie in Beethovens Hauptthema. Später folgen weitere Auftaktmotive der Blechbläser und ab Takt 180 ein letzter fff-Tutti-Höhepunkt, der jedoch abrupt abreißt und die changierenden Quartenakkorde des Anfangs hinterlässt. Der Bogen schließt sich. Gegen Ende folgen im wiederkehrenden langsamen Anfangstempo abermals zarte Streicherflageoletts sowie schwebende Bläserakkorde con sordino, die endlich mit den Posaunen in es-Moll pppp morendo verebben. Indem Cerhas Stück in sich zurück läuft, lenkt es genau damit nahtlos zum leeren Quintanfang A-e der nachfolgenden Aufführung von Beethovens Neunter über.

Aribert Reimann

Zum hundertjährigen Bestehen des Wiener Konzerthauses schrieb Aribert Reimann seinen „Prolog zu Beethovens 9. Sinfonie“ auf einen Text von Friedrich Schiller für Chor und Streichorchester (2012/13). Uraufgeführt wurde das Stück 2013 im Wiener Konzerthaus von der Wiener Singakademie und den Wiener Philharmonikern unter Leitung von Gustavo Dudamel. Als Textvorlage nutzte Reimann drei Verse aus der achten Strophe sowie fünf Verse aus der neunten Strophe der Erstfassung von Schillers Ode „An die Freude“ von 1785: „Untergang der Lügenbrut!/Rettung von Tyrannenketten!/Wahrheit gegen Freund und Feind,/Hilfe,wo die Unschuld weint,/ Hoffnung auf den Sterbebetten./Allen Sündern soll vergeben,/und die Hölle nicht mehr sein./Auch die Toten sollen leben!“ Beethoven hatte lediglich ausgewählte Strophen der 1808 posthum veröffentlichten Spätfassung der Ode vertont, aus der Schiller die neunte Strophe komplett gestrichen hatte. Während seine Symphonie nach drei instrumentalen Sätzen in einem Chorfinale gipfelt, beginnt Reimanns „Prolog“ dagegen mit einem A-cappella-Chor auf Schillers ursprüngliche Schlussstrophe, um am Ende mit den Violinen in höchster und den Kontrabässen in tiefster Lage einen rein instrumentalen Vorhang für die anschließende Aufführung von Beethovens Symphonie und deren liegender Anfangsquinte zu öffnen.

Die Bassisten beginnen mit „Untergang der Lügenbrut!“. Takt 2 folgen die Tenöre mit dem zweiten Vers „Rettung von Tyrannenketten“. Die in Sekunden und Terzen engstufig voranschreitenden Melismen wirken altertümlich psalmodierend. Ab Takt 7 vertauschen Bässe und Tenöre die Verse. Da beide Textzeilen stets gleichzeitig gesungen werden, sind sie kaum zu verstehen. Den dunklen Männerstimmen setzen die Frauenstimmen schließlich das verheißungsvolle Wort „Wahrheit“ entgegen, dessen leuchtendes H-Dur jedoch von der tiefalterierten Sekunde c eingetrübt wird. Im Folgenden fächert sich der Chorsatz achtstimmig auf, was die homophone Artikulation von „Wahrheit“ umso deutlicher hervortreten lässt. Beim Vers „Wahrheit gegen Freund und Feind“ artikulieren Tenöre und Bässe simultan „Freund“ und „Feind“, da Fragen der Wahrheit keinen Unterschied zwischen Freund und Feind zulassen. Eindringliche Homophonie ersetzt den sonst polyphonen Chorsatz auch bei Ziffer 5 zu den Worten „Hoffnung“ und „allen Sündern“, die erstmalig – weil alle gemeint sind – der Chor im Tutti unisono artikuliert. Nach Ziffer 6 verebben die Singstimmen zu „und die Hölle nicht mehr sein“ in einen Achtton-Cluster. Das mittelalterliche Drohwerkzeug der Hölle verblasst vor Schillers aufgeklärtem Optimismus.

Der zweite Teil beginnt rein instrumental mit solistischen Kontrabässen, die rhythmisch augmentiert dieselbe Tonfolge der Bassisten vom Anfang spielen. Drei Takte später treten – anstelle der dortigen Tenöre – die Violoncelli als zweite Stimme hinzu. Durch rhythmische Belebung erinnert die Kombination von Kontrabässen und Celli an die instrumentalen Rezitative zu Beginn von Beethovens Finalsatz. Die geteilten Bratschen unterbrechen die Basslinien nach Ziffer 7 mehrmals mit gedämpften H-Dur-Dreiklängen, die – wie zuvor das Wort „Wahrheit“ der Frauenstimmen – durch Sexte und Moll-Terz getrübt werden. Mit einer durch Pausentakte stockenden Tonfolge singen die Männerstimmen schließlich unisono „Auch die Toten – sollen leben“. Der letzte Choreinsatz erfolgt unisono fünf Takte vor Ziffer 16 mit dem wiederkehrenden Anfangsvers „Rettung aus Tyrannenketten“, nun eindringlich bekräftigt mit fff-Clustern der Streicher. Am Ende gleiten die ersten Violinen poco a poco crescendo immer höher und die Kontrabässe immer tiefer. Der extrem gespreizte Schlussklang aus changierenden Tonwechseln es5-fis5 und F-G verebbt ppp und antizipiert den programmatischen Wechsel von der d-Moll-Terz f des Kopfsatzes von Beethovens Neunter zur strahlenden Dur-Terz fis des Finales.

Seit der Wiener Premiere wurde Reimanns „Prolog“ nicht mehr aufgeführt, nicht zuletzt wohl aus organisatorischen und technischen Gründen. Die Besetzung des Orchesters nur mit Streichern verlangt für die attacca vorgeschriebene Aufführung von Beethovens Neunter, dass während des Stücks sämtliche Bläser bereits tacet auf der Bühne ausharren, so wie bei Beethoven der Chor auf seinen Einsatz im Finale warten muss. Beethovens Neunte ist ein Repertoirewerk für Profiorchester, die dafür meist nicht mehr als eine Abstimmprobe mit Vokalsolisten und Chor benötigen. Reimanns Chorpartie überfordert dagegen mit ihren A-cappella-Passagen sowie dissonanten und rhythmisch intrikaten Polyphonien die Laiensängerinnen und -sänger, um die Profichöre in der Regel bei Aufführungen der Neunten erweitert werden. Obwohl Reimann Chor und Streichorchester weitgehend trennt, erfordert ihr Zusammenspiel einen erheblichen Mehraufwand an Proben, der von Veranstalter gescheut wird, zumal sich Aufführungen von Beethovens Symphonie auch ohne ein zusätzliches Werk gut verkaufen lassen.

Rodion Schtschedrin

Rodion Schtschedrin komponierte sein „Praeludium zur IX. Symphonie Beethovens“ 2000 im Auftrag der Nürnberger Symphoniker, die das neue Werk „am Beginn des XXI. Jahrhunderts“ vor Beethovens neunter Symphonie bei ihrem Neujahrskonzert zur Uraufführung brachten. Wie bei den anderen komponierten Kommentaren zur neunten Symphonie ist auch hier die Orchesterbesetzung praktischerweise identisch und nur um einige Schlaginstrumente ergänzt: Crotales, Tamtam, Tempelblöcke, Guiro und Choclo. Der Verlauf kehrt die Reihenfolge von Beethovens Kopf- und Finalsatz um. Statische Liegeklänge stehen zwar am Anfang, führen aber zu weich ausgesungenen Melodiebögen der Streicher und Holzbläser wie im dritten Satz „Adagio molto e cantabile“. Eine nachfolgende Variante der „Freude“-Melodie verzerrt sich dann zu einem lärmenden Marsch, der schließlich zerfällt und wieder in die offene Situation des Anfangs mündet. An die Stelle von Beethovens Finalapotheose tritt folglich – hierin Cerhas Stück ähnlich – eine geschlossene Bogenform, damit sich am Ende nahtlos der Anfang von Beethovens Neunter anschließen kann.

Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Beethovens Symphonie und Schtschedrins Stück finden sich auch im Detail. Statt wie die Symphonie mit einer liegenden Quinte beginnt das „Praeludium“ mit der liegenden Quarte Fis-H des gesamten Orchesters ppp mit gestopften beziehungsweise sordinierten Blechbläsern. Den vielfarbig schimmernden Quartklang „Moderato cantabile“ überlagern langsam absteigende Skalen der Violinen, die sich ab Ziffer 1 zu Halbenoten beschleunigen und mit dem Quartgang h-ais-gis-fis sowie der melodisch fallenden Quarte h-fis an das Hauptthema von Beethovens langsamem Satz erinnern. Weiter anziehendes Tempo bei gleichzeitig belebterer Rhythmik verdichtet das Geschehen. Fünf Takte nach Ziffer 9 spielen Kontrabässe und Trompete f pesante eine Linie ähnlich den Bassrezitativen vom Anfang des Finales der Neunten. Bei Ziffer 10 stimmen Celli und Bässe dann eine kantable Melodie an, deren enge Intervallik, gerade Rhythmik und Phrasierung an die „Freude“-Melodie erinnert, sich allerdings zunehmend chromatisch verengt. Unverkennbar beschworen wird die „Ode an die Freude“ ab Ziffer 11 durch die Partie des Solofagotts, die fast exakt Beethovens kontrapunktisch umspielender Fagottstimme zur „Freude“-Melodie entspricht. Primärer Bezugspunkt ist also gerade nicht die weltbekannte Melodie, sondern deren synkopierte Gegenstimme, welche die ausgesparte Hauptstimme wie eine Hohlform imaginieren lässt.

So wie bei Beethoven immer mehr Instrumente in die „Freude“-Melodie einstimmen, übernehmen bei Schtschedrin der Reihe nach Holzbläser, hohe Streicher und Blechbläser die Fagott-Gegenstimme. Die Musik wird farbiger, kräftiger, vielstimmiger. Eine zweite Steigerungswelle ab Ziffer 19 entfaltet dieselbe Gegenstimme von der Solotrompete aus. Schließlich wird der Orchesterklang zum fff forciert, die Trompete mit Metalldämpfer verzerrt und der Zweihalbetakt zum Dreivierteltakt verändert. Von der Fagottmelodie bleiben nur noch zuckende Fragmente ff marcato, die mit solistisch hervortretenden Paukenschlägen eher an Beethovens Scherzo erinnern. Nach dissonant mit ff-Abstrichen stampfenden Tutti-Streichern leiten die Blechbläser mit einer absteigenden Melodie solo (quasi Choral) zu den langen Liegetönen und melodischen Bögen cantabile des Anfangs zurück. Endlich versinken auch diese Melodiebögen, so dass eine statische Klangsituation wie zu Beginn von Beethovens Symphonie übrigbleibt. Die tiefen Streicher spielen pulsierende Triolen der leeren Quinte Ais-eis, einen Halbton höher als Beethovens Anfangsquinte. Hinzu kommen Liegetöne der Bläser sowie abfallende Quinten in Kontrabässen und Pauken, die bei Ziffer 40 auftaktisch rhythmisiert werden und mit Quarten abwechseln. Während Beethoven aus diesen Motivkernen sein gewaltiges Hauptthema verdichtet, kommt Schtschedrins Stück damit zum Erliegen. Statt der Kreation einer Welt zeigt sein „Praeludium“ deren Zerfall. Im düsteren Schlussklang B-Fis, gespielt von den einen Ganzton tiefer gestimmten Kontrabässen sowie anderen gedämpften Bassinstrumenten ppppp, fällt womöglich Beethovens Namenston B mit dem B-Dur-„Adagio“ der Neunten und der Verheißung der D-Dur-Terz fis des „Freude“-Finales zusammen.

Schtschedrin komponierte später noch „Beethovens Heiligenstädter Testament – Sinfonisches Fragment“ für Orchester (2008) für ein Konzert im Rahmen einer zyklischen Gesamtaufführung aller neun Beethoven-Symphonien durch das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter dessen damaligem Chefdirigenten Mariss Jansons. Dieser hatte sich gewünscht, zu jedem der fünf Konzert auch ein neues Werk zur Uraufführung zu bringen. Schtschedrin bezog sich auf die dritte Symphonie „Eroica“. Ferner beteiligt waren über mehrere Spielzeiten verteilt Jörg Widmann mit „Con brio“ (2008) zur siebten und achten Symphonie, Raminta Šerkšnytės mit „Fires“ (2010) in Relation zur fünften Symphonie, Johannes Maria Staud mit „Maniai“ für Orchester (2011) in Bezug auf Beethovens erste Symphonie, Misato Mochizuki mit „Nirai – Zehn Intermezzi zu Beethovens Symphonien Nr. 2 und 6“ (2012) sowie Gija Kantscheli mit „Dixi“ für gemischten Chor und Orchester (2009) auf lateinische Verse aus Lamentationen, Requiem und Messordinarium („Mortuos plango“, „Ad se ipsum“, „Ora et labora“, „Credo, qua verum“ und „Stabat mater dolorosa“) als Gegenstück zum finalen Jubel der neunten Symphonie.

Lindberg, Turnage, Pena

Eine Einleitung zu Beethovens Neunter stellen auch Magnus Lindbergs „Two Episodes“ für Orchester von 2016 dar. Auch hier werden punktuell die scharf punktiert abfallende Quinten und Quarten von Beethovens Kopfmotiv eingeflochten. Und der zweite Satz endet piano mit eben jener Quinte A-e, mit der Beethovens Symphonie dann direkt anschließen kann. Instrumentation und Harmonik erinnern ansonsten eher an spätromantische Neosymphonik Marke Hollywood. Ein Reflex auf sämtliche neunte Symphonien von Beethoven, Bruckner, Mahler und Schuberts „Unvollendete“ ist Christian Josts „CodeNine“ für Orchester (2009). Mark-Anthony Turnage komponierte sein Orchesterstück „Frieze“ (2013) für die Londoner Proms der BBC. Die vier Sätze zeigen vage Parallelen zu Beethovens viersätziger Symphonie. Der erste Satz arbeitet mit derselben leeren Quinte wie der Kopfsatz. Der zweite bezieht sich mit abrupt wechselnder Dynamik und rhythmischer Prägnanz von Blechbläsern und Schlagwerk auf das Scherzo. Der dritte beschwört das „Adagio“ mit melodischen, teils choralartigen Linien sowie zarter Holzbläser- und Streicherbesetzung. Der vierte Satz deutet mit dem Kontrast von wuchtigen Tutti-Schlägen, polyphonen Passagen und kantablen Linien die Rekapitulation der drei vorangegangenen Sätze an, meidet ansonsten aber eine direkte Konfrontation mit dem Finale der Neunten. Der Titel „Frieze“ bezieht sich auf den von Gustav Klimt für das Gebäude der Wiener Sezession geschaffenen „Beethoven-Fries“ (1902), den Turnage gewissermaßen in Musik zurückübersetzen wollte. Die Bezugnahmen auf Beethovens Symphonie bleiben jedoch allesamt vage und wenig erhellend.

Luís Antunes Pena schrieb „Vermalung IV – Ludwig v.“ für Orchester (2007) im Auftrag des Projekts „Europa – der blaue Stern“ des Auswärtigen Amts anlässlich der damaligen gemeinsamen EU-Ratspräsidentschaft von Deutschland, Slowenien und Portugal. Das lediglich dreieinhalb Minuten dauernde Stück basiert auf der Audio-Analyse einer Aufnahme von Beethovens neunter Symphonie. Es beginnt mit Liegetönen der Violinen pp und entfaltet durch sukzessive hinzutretende Instrumente eine Steigerung bis zum ff-Tutti wie in Beethovens Kopfsatz. Ebenso alludieren Doppelpunktierungen der Bläser und versprengte Schlagzeugimpulse das Hauptthema. Pena lässt den anschwellenden Klang jedoch schnell wieder in Einzelaktionen zerfallen. Die Tutti-Massierung zerbröselt zu kurzen Impulsfolgen, versprengten Tuttiakkorden, plötzlichen Doppelschlägen und vereinzelten Liegetönen. Analog zu den zwei Anläufen von Beethovens Symphonie beschreibt auch Penas Stück zwei Steigerungswellen, die jedoch im Gegensatz zu Beethovens vorandrängenden Prozessen – ähnlich den Stücken von Cerha und Schtschedrin – in sich selbst zurücklaufen. Während der letzten Takte konzentrieren sich die accelerierenden Cluster-Repetitionen sukzessive auf dieselbe Tonhöhe des2 der Streicher, einen Halbton tiefer als die Tonika der d-Moll-Symphonie. Beethovens Ausgangspunkt verkehrt sich bei Pena zum Endpunkt, den schließlich ein Woodblockschlag besiegelt.

Erneut bezog sich Pena auf die Neunte in „K-U-L-T“ für Klavier und Elektronik (2011). Aus obligatem Gemurmel schneller Zweiunddreißigstel-Skalen und Intervallbrechungen pp sempre stechen scharf akzentuierte Oktavanschläge in höherer Lage heraus, die – obzwar rhythmisch zersprengt – der „Freude“-Melodie entsprechen. Später alterniert der Pianist mit pulsierenden Zuspielungen eines achteltönig gestimmten Klaviers, zu dem live-elektronische Transpositionen des live gespielten Klavierparts nahtlos überleiten. Die aus den Pulsationen hervorstechenden Akzente sind bis zur Unkenntlichkeit verkürzte Orchester- und Chorfragmente aus Beethovens Finalsatz. Hinzu kommen Samples von menschlichen Stimmen sowie von Industriegeräuschen, Kühlschrank, Meer und Muzak. Diskret zugespielt erscheinen die Aufnahmen wie Phantomklänge, zwischen denen Beethovens „Ode an die Freude“ ebenso gespenstisch als unwirklicher Wiedergänger erscheint.

Henry, Sistermanns, Prokofiev, Kreidler

Bei elektronischen Bezugnahmen auf Beethoven werden mit der Verlagerung der Musik des Symphonikers ins andere Medium meist auch der soziale Ort und die ästhetische Kodierung der Musik verändert. Luc Ferrari montierte in „Strathoven“ (1985) Materialien aus verschiedenen Beethoven-Symphonien in der Art von Igor Strawinskys Schablonentechnik, so dass die ursprünglich vorandrängende Musik ihre Dynamik und Gerichtetheit zugunsten eines ironischen Spiels mit Versatzstücken verliert.

Vollkommen entschleunigt erscheint Beethovens Neunte in „9 Beet Stretch“ opus 5 (2002) des skandinavischen Klangkünstlers Leif Inge, der eine Aufnahme von Beethovens Symphonie mittels „time stretching“ auf volle vierundzwanzig Stunden dehnte, ohne die originalen Tonhöhen und Klangfarben zu verändern.

Ausgewähltes Material aus allen Beethoven-Symphonien verwendet Pierre Henry in „La dixième symphonie de Beethoven“ (1979) und „La 10ème Remix“ (1998). Dabei wird Beethovens Pathos aus den gängigen Rezeptionsmustern von Konzertsaal, Klassik und Hochkultur in die anders gearteten Sphären der Club- und Jugendkultur versetzt. In zehn Sätzen mit programmatischen Titeln wie „Enfants“, „Guerre“ oder „Aube“ kombiniert der Pionier der Musique concrète Aufnahmen von Beethoven-Symphonien mit konkreten Klängen (Tierlauten, Schritten, Geschützfeuer, Marschkolonnen, Klingeln, Wanduhrticken, Menschen- und Kinderstimmen) sowie Diskobeats und elektronischen Sounds. Durch Loops, Filterungen, Tiefenstaffelung, Blenden und harte Schnitte durchkreuzt Henry gezielt Passagen, die auf Steigerung und Durchbruch drängen, um deren Zielgerichtetheit zu unterlaufen. Am Ende des zehnten Satzes „Finale“ schließt er den von ihm ausgebreiteten Soundpool symbolisch wieder mit eben jenem Knarren eines alten LP- oder CD-Schranks, das seine einstündige Collage eröffnete.

Johannes S. Sistermanns montiert in „Ludwig japonaise“ von 2012 eine Aufnahme der „Freude“-Melodie mit einer japanischen Popversion derselben Melodie und Mitschnitten eines japanischen Kinderchors. Die Mixtur aus Kunst-, Pop- und Laienmusik dokumentiert die weltweite Popularität der „Ode to Joy“. Zugleich beleuchtet die Collage, was Theodor W. Adorno in Anlehnung an Clement Greenberg als „Aufspaltung aller Kunst in Kitsch und Avantgarde“ beschrieben hat.12 Sistermanns’ Stück wirft die Frage auf, was an Beethovens Ode womöglich Avantgarde war und noch ist, also die „Entfaltung von Wahrheit in der ästhetischen Objektivität“, oder was daran Kitsch war und noch immer ist oder daraus gemacht wurde, also dem „Diktat des Profits über die Kultur“ folgt.13 Sistermanns macht Beethovens weltweit vermarktete, gesampelte, remixte und zum Edelkitsch verkommene „Klassik“ zwar nicht gerade als Avantgarde ihrer Zeit kenntlich, demonstriert aber schlaglichtartig die Bandbreite ihrer heutigen Erscheinungs- und Rezeptionsweisen.

Das digitale Sampling hat einschneidende künstlerische und ästhetische Auswirkungen. Statt um erkennbare Zitate, Allusionen, Relationen oder qualitative Neubeleuchtungen existierender Musik aus verschiedenen Epochen und Weltgegenden geht es vielfach bloß um die Demonstration von deren quantitativer Verfügbarkeit. Bereits 1970 zeigten Karlheinz Stockhausens „Kurzwellen mit Beethoven“ und Mauricio Kagels „Ludwig van“ die Präsenz von Beethovens Musik in Fernsehen, Radio und auf Tonträgern als eine durch Medien und Musikmarkt weitgehend entqualifizierte Ware. Das potentiell unendliche Archiv des Internets nivelliert heute mehr denn je die Unterschiede zwischen Klassik, Moderne, Avantgarde, Schlager, Techno, Hoch-, Pop-, Sub-, Trash- und Medienkultur. An die Stelle differenzierbarer Qualitäten tritt die schiere Quantität einer Unmenge an Content. Alles erscheint gleich gültig und dadurch mehr oder minder gleichgültig.

Der Komponist, Produzent und Diskjockey Gabriel Prokofiev beginnt sein „Beethoven9 Symphonic Remix“ für Orchester und Elektronik (2011) mit der zur Kakophonie gesteigerten „Schreckensfanfare“ vom Anfang des Finalsatzes, gefolgt von den Bassrezitativen und Rekapitulationen der ersten drei Sätze. In sieben Abschnitten entfernt sich diese Adaption von Beethovens Finalsatz dann jedoch schnell zu völlig anderen Stilistiken: „Modernism, Minimalism, hip-hop, grime, North African rai, neo-classical, Impressionism, Egyptian funk, Sufi Zikr, Baroque, house and electroacoustic ideas“.14 Die humanistische Botschaft „Alle Menschen werden Brüder“ soll durch den Remix verschiedener Sparten und Stile auf neue Weise welt-, zeit- und kulturenumspannend zugänglich gemacht werden.

Johannes Kreidler präsentiert im YouTube-Video „Compression Sound Art“ (2009) zu durchgehendem Beat verschiedene Kulturphänomene in extremer zeitlicher Komprimierung. Den Anfang bilden bezeichnenderweise sämtliche Symphonien Beethovens, abgespielt in einer einzigen Sekunde. Was sonst sechs Stunden in Anspruch nimmt, wird um das Zweiundzwanzigtausendfache beschleunigt: Alle Neune in einer Sekunde! Es folgen sämtliche Songs der Beatles, abgespielt in einer Zehntelsekunde, das Hörbuch von Marcel Prousts siebenbändigem Lebensroman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, abgespielt in einer Sekunde, sowie hundertdreißigtausend verschiedene Popsongs, abgespielt in vier Sekunden. Auf Sekundenbruchteile komprimiert werden ferner die Tonspuren von „Rambo 3“, der zehnmal pro Sekunde abgespielte Hit „Baby one more time“ von Britney Spears und deren vierhundertmal in der Sekunde abgespielter Song „Gimme more“. Gleiches widerfährt den kompletten Hörbüchern von Bibel, Thora, Koran und Nietzsches gesammelten Schriften. Das Muster ist schnell erfasst: Alles wird zu Tonklecksen gepresst, die nur noch dem Namen nach etwas mit den Vorlagen zu tun haben. Mit passenden oder bewusst dissonanten Bildern kombiniert Kreidler dann alle Schnipsel zur Tonfolge des walzerhaft beschleunigten Weihnachtslieds „Stille Nacht, heilige Nacht“ samt Rhythmen eines Alleinunterhalter-Computerprogramms. Während die bisher erörterten Verfremdungen mehr oder minder gelungene neue Zugänge, Kontexte, Fernen und Nähen zu Beethoven schaffen, wird diese Musik nun neben anderen Zeugnissen der Musik-, Literatur-, Philosophie- und Religionsgeschichte kurzerhand zu Kulturmüll pulverisiert. Und dass verschiedenste Traditionen durch derlei gegenwärtig grassierende hyperkulturelle Appropriationsweisen – wie sie Byung-Chul Han schon in „Hyperkulturalität: Kultur und Globalisierung“ (2005) beschrieben hat – allesamt ent-grenzt, ent-ortet, ent-historisiert, ent-auratisiert, ent-wurzelt, ent-theologisiert, ent-teleologisiert und ent-wertet werden, lässt fraglich erscheinen, ob Beethoven auch noch zu seinem dreihundertsten Geburtstag 2070 dieselbe Rolle im zeitgenössischen Musikschaffen spielen wird wie während der vergangenen Jahrzehnte.

1Andreas Eichhorn, Beethovens Neunte Symphonie: Die Geschichte ihrer Aufführung und Rezeption Kassel: Bärenreiter 1993, 295. Vergleiche ferner Heribert Schröder, Beethoven im Dritten Reich: Eine Materialsammlung, in: Beethoven und die Nachwelt: Materialien zur Wirkungsgeschichte Beethovens, herausgegeben von Helmut Loos, Bonn: Beethoven-Haus 1985, 187–221, sowie die Rubrik „Trivia“ im Eintrag zu Beethovens neunter Symphonie bei Wikipedia.

2Theodor W. Adorno, Beethoven – Philosophie der Musik: Fragmente und Texte (= Nachgelassene Schriften Abteilung I, Band 1), herausgegeben von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 21994, 120.

3Ebenda, 173.

4Vergleiche Rainer Nonnenmann, Radierter Patriotismus – Komponierte „Zurücknahmen“ von Beethovens IX. Symphonie, Vortrag bei der Tagung „(Un)Populäres Musiktheater! – Patriotismus auf der Bühne 1789–1830“, veranstaltet von HfMT Köln, Beethoven-Archiv am Beethoven-Haus Bonn und Internationaler Cherubini-Gesellschaft am 12. Februar 2021, Druck in Vorbereitung.

5Vergleiche hierzu auch Rainer Nonnenmann, „Der ewige Revolutionär? Ludwig van Beethoven im gegenwärtigen Komponieren – Teil I: Orchesterwerke“ in MusikTexte 166, August 2020, 71–79 und „Teil II: Elektronik, Ensemble- und Klavierwerke“ in MusikTexte 167, November 2020, 67–74.

6Vergleiche Rainer Nonnenmann, Beethoven und Helmut Lachenmanns „Staub“ für Orchester (1985/87) (= fragmen 33), Saarbrücken: Pfau, 2000).

7Ebenda, 15.

8Helmut Lachenmann, „Staub“ für Orchester (1985/87), in: Derselbe, Musik als existentielle Erfahrung: Schriften 1966–1995, herausgegeben von Josef Häusler, Wiesbaden 1996, 397.

9Vergleiche Rainer Nonnenmann, Angebot durch Verweigerung: Die Ästhetik des instrumentalkonkreten Klangkomponierens in Helmut Lachenmanns frühen Orchesterwerken (= Kölner Schriften zur Neuen Musik Band 8), Mainz 2000, 179.

10Siegfried Matthus in einer Email an den Verfasser vom 23. März 2020.

11Vergleiche www.universaledition.com/friedrich-cerha-130/works/paraphrase-ueber-den-anfang-der-9-symphonie-von-beethoven-13791, abgerufen am 12. März 2020.

12Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik (1948), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976, 19.

13Ebenda.

14CD „Beethoven Reimaged“, Gabriel Prokofiev electronics, BBS National Orchestra of Wales, Yaniv Segal, NAXOS, 2020, 3.