MusikTexte 174 – August 2022, 37–44

Schönheit, Liebe, Heilung

María de Alvear und die Magie der Musik

von Rainer Nonnenmann

Ich denke sowieso mit dem Knie. Man braucht doch nicht so gehirnfixiert sein.
Joseph Beuys1

Für viele Werke von María de Alvear ist der Begriff „Musik“ zu eng. Die Komponistin verwendet nicht nur Instrumente, Klänge, Sing- und Sprechstimmen. Zum Einsatz kommen auch Text, Raum, Szene, Bewegung, Licht und Video sowie Tattoos, Bilder, Fotos, Tierkörper und Naturgegenstände. Im Rahmen des von den Nachkriegsavantgarden erweiterten Kunstbegriffs versteht die spanisch-deutsche Künstlerin ihre Arbeiten weniger als objekthafte Artefakte denn als Versuche zur Transformation von Mensch, Gesellschaft und Lebenswirklichkeit. Ihr viel­­dimensionales Handeln führt nicht einfach zu Theater oder Kompositionen. Die Ergebnisse sind vielmehr partizipative „Zelebrationen“, multimediale „Rituale“, musiktheatrale „Sinnspiele“ oder performative „Zeremonien“, mithin Gesamtereignisse, die mehrere Sinnesbereiche ansprechen und sich der klassizistischen Aufteilung der Kunst in verschiedene Künste entziehen. Idealerweise werden dabei Routinen durchbrochen und neue Formen der Welt- und Selbsterfahrung ermöglicht. María de Alvear sprengt das Konzertformat und nutzt es zugleich, indem sie es magisch aufzuladen versucht.

Konzerte sind ja ein Ritual: Musikerverbeugung, Klatsch-klatsch, Hinsetzen, Stille, Spielen, Aufstehen, Klatsch-klatsch, Verbeugung, weg. Das ist der normale Konzertstandard. Für mich ist die Bühne eine Feuerstelle, in die man hineinschauen und den Kopf spinnen lassen kann.2

Als Deutsche und Spanierin bewegt sich María de Alvear in verschiedenen Sprach- und Kulturräumen, deren Horizont sie durch Aufenthalte bei Lehrern und Medizinern verschiedener indigener Völker in Norwegen, Sibirien und den USA erweiterte. Die von ihr gesetzten Themen Steinzeit, Menschwerdung, Natur, Weiblichkeit und Sexualität entsprechen allesamt nicht den tonangebenden ästhetischen Produktions-, Diskurs- und Rezeptionslinien der jüngeren Musikgeschichte. Zentrale Triebfedern ihres Kunst- und Musikverständnisses sind vorzeitliche Erbschaften, Instinkte, Reflexe und Regungen. Ihrem Schaffen kommt dadurch eine Sonderrolle zu, auch weil ihre Werke nicht selten gegen den sogenannten „guten Geschmack“ sowohl traditioneller als auch avantgardistischer Erwartungshaltungen verstoßen. Was der Bild- und Kulturwissenschaftler Gernot Böhme schreibt, lässt sich auch auf ihr Schaffen beziehen: „Die Kunst versucht in der Mimesis sich dem Vorkulturellen, dem Nicht-Identischen, dem Vorrationalen anzuähneln.“3

Zeit- und Raumkunst

Die Komponistin wurde 1960 in Madrid geboren, als Tochter des spanischen Architekten Jaime de Alvear und der späteren Galeristin und Kunstsammlerin Helga de Alvear, die aus der deutschen Industriellenfamilie Müller im pfälzischen Kirn an der Nahe stammt. In der spanischen Hauptstadt wuchs María in einem großbürger­lichen Haushalt auf und lernte durch die Eltern und regelmäßige Galeriebesuche spanische und internationale bildende Künstler persönlich kennen, darunter Joan Miró, Antoni Tàpies, Eduardo Chillida, Manuel Rivera und Eusebio Sempere. Eine große Rolle spielten für sie später auch US-amerikanische Künstler wie Jackson Pollock, Bill Viola, Barnett Newman, Mark Rothko, Joseph Beuys und die Performancekünstlerin Marina Abramović. Von ihnen allen habe sie die absolute Freiheit gelernt: „Alles ist möglich! Es gibt nichts, was nicht zueinander passt.“4

Wie in der Arte povera, Art concret und Konzeptkunst verfließen bei María de Alvear die Grenzen von Natur und Kunst, Musik und Theater, Installation und Ritual. Die Fülle der von ihr verwendeten Materialien, Medien und Themen ist in einzelnen Disziplinen kaum angemessen zu erfassen. Die Komponistin schreibt fast alle von ihr vertonen Kunstmythen, Märchen, Fabeln, Beschwörungsformeln, Lobpreisungen, Naturhymnen … selbst und ist zudem Sängerin, Performerin, Malerin, Filmerin, Szenographin und Regisseurin. Ihr Schaffen steht in einer langen Tradition künstlerischer Suchbewegungen und Rebellionen gegen Standardisierungen und Genregrenzen, vom Dadaismus und Surrealismus nach dem Ersten Weltkrieg bis zu Happenings und Fluxus der Sechzigerjahre. Indem sie etablierte bürgerliche Institu­tionen und Gattungen zu überwinden sucht, stellt sie traditionelle Kategorien des Denkens, Erlebens und Wertens in Frage.

Weil die Familie ihrer Mutter in Mainz lebte, begann María de Alvear dort 1979 ein Musikstudium. Bei einem Vortrag an der Universität begegnete sie Mauricio Kagel, der sie davon überzeugte, in seiner Klasse für neues Musiktheater an der Kölner Musikhochschule zu studieren. Auch Kagel arbeitete multimedial und interdisziplinär als Komponist wie als Hörspielmacher, Filmer, Schriftsteller, Zeichner, Regisseur, Sänger, Schauspieler. Performer. Von ihm lernte De Alvear bis 1986 vor allem den organisatorischen und praktischen Umgang mit verschiedenen Techniken und Gewerken des Musiktheaters. Während einige ihrer frühen Arbeiten noch eine Nähe zu Kagels Ansatz eines „instrumentalen Musiktheaters“ erkennen lassen, etwa die beiden 1983 entstandenen Videofilme „El Greco“ für Kontrabass und Tonband sowie die „Studie über Arnulf Rainer“, haben ihre reifen Werke kaum noch etwas damit zu tun. Zu verschieden sind ihre minimalistischen Mittel und Themen: Steinzeit, Kindheit, Spiritualität, Sexualität, Weiblichkeit, Natur, Universum, Tier- und Pflanzenwelt. Anders ist auch ihr Anliegen, Dinge in der Schwebe zu lassen, statt sie zu „vereindeu­tigen“. Gemeinsamkeiten mit Kagel zeigen sich allenfalls in der Verwendung tonaler Mittel und der Ablehnung der radikal auf Neuanfang setzenden Nachkriegs­avantgarde.

Meine Art von Humor ist ganz anders. Der Humor von Kagel war immer relativ derb, eindeutig, slapstickmäßig sogar. Ich fand’s toll, lustig, und das hat mir natürlich auch einen Horizont eröffnet. Aber bei mir ist es eher ein leichtes Schmunzeln. Warum? Weil ich aus der Franco-Zeit komme, da durfte man nicht offen sein. Als ich nach Deutschland kam, gab es hier eine Avantgarde, wie sie im Buch steht, nicht von den Schülern, wie heutzutage, sondern von den großen Meistern selbst. In dieser rabiaten Avantgarde durfte nichts erklingen, was man schon kannte, nicht einmal ansatzweise. Das hat mich ungeheuer fasziniert, weil ich dadurch komplett umdenken musste. Ich habe auch hin und her probiert, aber gemerkt, dass mich das nicht sonderlich interessierte, weil alle so komponiert haben. Nach etwa zehn Jahren habe ich gesagt: Ich habe die Nase voll vom Avantgardekitsch. Ich kannte auch schon minimalistische Musik. Und den Übergang von der Quietsch-Avantgarde zum Minimalismus bereitete für mich Ligeti. Sein „Lontano“ beispielsweise fand ich hochinteressant und wunderschön.

Inzwischen umfasst das Œuvre der Komponistin an die dreihundert Stücke aller Gattungen: Solo-, Kammer-, Ensemble- und Orchesterwerke sowie Solo- und Ensemble­gesang, Chormusik und Musiktheater, Hörspiele, Stücke mit Elektronik und Video. Die meisten solistischen, oft auch szenischen Vokalpartien schrieb de Alvear auf eigene Texte für sich selbst. Bis zu einer folgenschweren Stimmbandlähmung im Jahr 2008 trat sie als Sängerin in verschiedenen Genres auf, auch in Jazz, Improvisation und Performance, indem sie Spanisch, Deutsch und Englisch sowie verschiedene Vokaltechniken und Traditionen verband: tibetanischen Obertongesang, japanisches Kabuki, indianische Intonationen und vor allem arabisch-spanische Folklore. Mehrmals verbrachte sie längere Zeit bei den nordamerikanischen Indianern, den Tscherokesen, Irokesen und Tuscarora sowie bei den Inuit in Norwegen und Sibirien. Zahlreiche Aufnahmen dokumentieren ihren ebenso virtuosen wie lustvoll-spielerischen Eklektizismus sowie ihre wandelbare Sing- und Sprechstimme: mal klar, rein und voll, mal geräuschhaft, rauh und kehlig, dann wieder nasal und obertonreich strahlend, leicht mikrotonal eingetrübt, stark glissandierend, mit eindringlich bohrenden Figurationen und weit rankenden Melismen. Stets ist dieser Gesang körperbetont, energetisch und expressiv, oft geradezu eruptiv, ekstatisch und mitreißend.

María de Alvear versteht ihre Arbeiten im Sinne sowohl uralter kultischer als auch avantgardistischer Begegnungen von Kunst und Leben als „Ereignisse“. Sie zielt auf neue Verbindungen von Akteuren und Publikum, Ernst und Spiel, Spiritualität und Irritation. Einen wichtigen Impuls verdankt sie dem New Yorker Maler und Bildhauer Barnett Newman, der neben Mark Rothko als einer der Hauptvertreter des abstrakten Expressionismus die Farbfeld- und Hard-Edge-Malerei entwickelte und damit Anreger der Minimal Art war. Zur Zeit ihres Studiums lebte De Alvear ein halbes Jahr bei ihrer Schwester Patricia in New York. Dort sah sie im Museum of Modern Art großformatige Bilder von Newman, bei denen die davor stehenden Betrachter selber zu einem Teil der raumgreifenden Malerei zu werden scheinen. Beeindruckt haben die Komponistin auch die monumentalen Beton- und Stahlplastiken des spanischen Bildhauers Eduardo Chillida und das Raumdenken ihres Vaters, der Architekt war. Musik ist für María de Alvear daher nicht nur Zeitkunst, sondern primär Raumkunst.

Ein Stück wird, egal wo es gespielt wird, in jedem Raum ein anderes sein. Menschen haben einen physischen Körper, das ist auch ein Raum, innen drin, mit Lunge und allem Mög­lichen. Und im Gehirn haben wir auch einen Raum. Alle diese inneren Räume werden berührt, wenn man Musik hört. Es gibt einen Austausch zwischen den Räumen innen und außen. Du wirst, ob du es willst oder nicht, vom Klang bewegt.

Raumgreifend wirken auch die zeitlichen Dimensionen von María de Alvears Werken, die nicht selten eine ganze Stunde und mehr dauern: Kaum je sind sie kürzer als eine Halbe- oder Dreiviertelstunde. Viele davon dulden keine anderen Stücke neben sich im Konzert. Die Musik von de Alvear entfaltet damit durchaus eine gewisse Monumentalität, die sich auch in elementaren Intervallverhältnissen und ostinaten Pulsationen äußert. Die erste CD ihres 1998 gegründeten Verlags und Labels World Edition enthält die Aufnahme ihres abendfüllenden Werks „Libertad – palabras peligrosas“ für zwei Stimmen, Posaune, Schlagzeug, zwei Pianisten und Video, das im April 1998 in der Stadtkirche Darmstadt uraufgeführt wurde. Die Komponistin singt darin sehr frei über wenige Noten und „gefährliche Wörter“ im Wechsel mit Enrique Lozano „Pescao“, dem Mitglied einer alten südspanischen Roma-Familie und einem Spezialisten des im ältesten Flamenco üblichen „Cante jondo“. Gewidmet ist das über achtzig Minuten dauernde Stück Tsolagiu M. A. RuizRazo, einem Mitglied des Wolf-Clans und Angehörigen der Nation der nordamerikanischen Tscherokesen, den María de Alvear mehrmals besucht und dessen Text sie 1998 in „Libertad“ vertont hat.

Steinzeit

Seit „Neandertal 1 – Zeremonie für eine schreiende Vokalsolistin und Tonband“ von 1985 beziehen sich viele Stücke von De Alvear auf die Steinzeit. Die Komponistin versucht darin, den Ursprüngen des Menschseins nachzuspüren. Wie artikulierte sich Homo heidelbergensis vor sechshunderttausend Jahren? Wie begann der Neandertaler vor hundert- bis fünfzigtausend Jahren zu sprechen, zu singen, zu malen, zu tanzen? Welche archaischen Tiefendimensionen unseres menschlichen Körpers und Geistes haben wir bis heute von diesen Urahnen ererbt? Selbst streng wissenschaftliche archäologische Rekonstruktionen der Anfänge der Menschheit und paläolinguistische Forschungen zum Stimm- und Sprachapparat des Neandertalers bleiben aufgrund der nur bruchstückhaft überlieferten Knochenfunde bis zu einem gewissen Grad spekulativ. Genau diese Leerstellen füllt María de ­Alvear künstlerisch aus und gibt dies auch selbstironisch zu erkennen. Sie simuliert keine paradiesischen Einheiten von Mensch und Natur, über deren Verlust es zu trauern gilt. Ideeller Hintergrund ihrer Arbeiten ist vielmehr der Gedanke einer in Gegenwart und Zukunft noch einzulösenden Versöhnung des Menschen mit seiner äußeren und inneren Natur. Das macht die Komponistin zu einer der ersten Künstlerinnen, deren Hinwendung zu Uraltem sich mit den Anliegen der in den Achtzigerjahren entstandenen Umweltschutzbewegung und Parteigründung der Grünen verbindet.

Das Gefühl, dass der Neandertaler mit mir verwandt ist, habe ich schon viel früher gehabt, bis man heute beweisen konnte, dass dem wirklich so ist. Ich fühlte einfach eine Affinität, eine Sympathie. Wir haben eine ganz klare Vorfahrenlinie, von der ersten Zelle direkt bis zu jedem Einzelnen von uns. Deswegen muss man die Vorfahren ehren. Wenn einer in dieser Linie nicht überlebt hätte, gäb’s uns nicht. Das muss man sich mal vorstellen!

„Altamira Fase 1“ für zwei Sängerinnen, Klavier, Posaune und gemischten Chor entstand 1992. Benannt ist das Stück nach den berühmten Höhlen mit steinzeitlichen Tiermalereien in Nordspanien. María de Alvear hatte diese Wiege der Menschheit schon als Kind mit ihren Eltern besucht. Die Partitur ist – wie viele ihrer Stücke – frei von traditionellen Gestaltungs- und Notationsweisen. Zumindest in den Singstimmen gibt es keinerlei Rhythmik, Metrik und Taktstriche. Stattdessen sind ausschließlich Tonhöhen verzeichnet. Allenfalls der Klavierpart ist durch regelmäßige Achtelanschläge gekennzeichnet. Dazu entfalten und überlagern sich die Stimmen in einem zeitlich und harmonisch flexiblen Fluss: singend, flüsternd, spielend, geräuschhaft. Die Musikerinnen und Musiker sollen das Stück nicht bloß aufführen, sondern es aktiv mitgestalten und sich zu eigen machen. Das gilt auch für die meisten anderen Werke von María de Alvear.

Die erste Ebene ist meine. Ich schreibe Noten, und danach werden diese von den Musikern gespielt. Ab dem Moment bin ich eigentlich draußen, außer wenn es Fragen an mich gibt. Aber im Prinzip habe ich meinen Job erledigt, weil die Musiker dann selber Entscheidungen treffen müssen. In diesen langen Stücken sind das wichtige, schwerwiegende Entscheidungen. Denn sie wollen ja nicht langweilen. Sie müssen die Spannung halten und einen Gestus entwickeln, der zwingend wirken kann. Dazu gebe ich den Musikern die Freiheit der Zeitlosigkeit. Das ist mir wichtig! Es ist ein bisschen wie im Jazz. Ich habe ja selber viel Jazz gemacht. In einer Freejazz-Gruppe musst du entscheiden, wann du eingreifst, und ob du klanglich angreifst oder nicht. Ich habe teilweise ganze Konzerte durchgesessen und nur zwei, drei Phrasen gesungen, weil genau das richtig war. Darin war der Trompeter Miles Davis ein Genie! Er spielt zwei Noten und das war au point. Meine Partituren sind harmonisch und kontrapunktisch schwebende Netze, in denen die Musiker mal in diese Richtung, mal in jene gleiten können.

In ihrer jüngsten Werkreihe „Arcaico“ zielt De Alvear auf paläolinguistische Re-enactments der stimmlichen Möglichkeiten von Homo erectus und Homo sapiens. In „Open Sunshine“ von 2013 kreischen Kammerorchester und Frauenschola wie Brüllaffen und Gibbons. Rein intonierte Liegetöne und kinderreimartige Melodien auf archaische Silben markieren dagegen den Übergang von den Primatenaffen zum singenden und sprechenden Menschen.

Die Frage „Woher kommt das Singen?“ bestimmt auch das 2015 entstandene Stück „Einfache Freiheit“ für vierstimmigen Chor. Die Sängerinnen und Sänger artikulieren hier hochprofessionell und zugleich wie im Kindertheater Urlaute. Sie „zirpen wie Grillen“, „rufen wie Gibbons“, „jodeln wie Waldpygmäen“. Schließlich erklingt das arabische Wort für Gott „Allah“, auf das der spanische Stierkampf-Ausruf „¡Olé!“ zurückgeht, den der Chor dann als gängige Fanmelodie wie im Fußballstadion grölt. Gezielt werden Geschmackskriterien unterlaufen, die immer auch soziale Distinktionsmittel sind. Die Grenzen zwischen Hoch- und Popularkultur werden ebenso verwischt wie Ernst und Spiel, Spiritualität und Spaß.

Die Musik von María de Alvear zeigt keine avancierte Klanglichkeit, luxurierende Varianz, strukturelle Komplexität, experimentelle Formung, dekonstruierte Musikgeschichte, selbstreferentielle Reflexionsebene, oder was sonst als Kriterium der neuen Musik kursieren mag. In dieser Weigerung liegt ein zivilisations- und kulturkritischer Aspekt. Wie bei der „écriture automatique“ des Surrealisten André Breton, der statt des Verstands das Unterbewusstsein sprechen lassen wollte, schreibt De Alvear ihre Musik ohne Vordisposition, Strukturierung, Material- und Formkonzeption. Ihre sehr schnelle, möglichst unreflektierte und direkte Schreibweise ähnelt auch der informellen körperlich-gestischen Malerei von Jackson Pollock, Emilio Vedova und Arnulf Rainer. Ziel ist es, den westlichen Rationalismus zu überwinden und die Interpreten durch rudimentär fixierte Notentexte zu kreativen Mitschöpfern zu machen, damit sich die Musik bei Aufführungen dem Publikum umso intensiver mitteilt.

De Alvears Partituren beschränken sich meist auf elementare Töne, Akkorde und Klanglichkeiten, die an Minimal Music oder Folklorismen erinnern. Es gibt Liegetöne, Einklänge, Skalen, Vierteltöne, Glissandi, Dreiklänge. Belebend hinzu kommen kleine melodische Wendungen und immer wieder langgestreckte melismatische Linien von Singstimmen oder Bläsern. Häufig dominieren Blechbläser mit den Naturtonintervallen Quarte, Quinte, Ok­tave. Immer wieder kommt es zu einfachen rhythmischen Patterns, Repetitionen und Pulsationen. Aus diesem Fundus speisen sich viele Stücke der Komponistin, die sich darin zum Teil ähneln. Stets wird das Material wie eine archaische Gegebenheit gesetzt und beibehalten statt prozes­sual entfaltet, durchgeführt, dynamisiert oder analytisch zerlegt. Das hat zur Folge, dass die Musik meist keine dramaturgischen Spannungskurven aufbaut, sondern viele Wiederholungen aufweist und über weite Strecken in sich selbst kreist. Sie folgt damit eher zyklischen oder statischen Zeitvorstellungen alter Kulturen als moderner Linearität und Fortschrittslogik.

In „Ur“ für zwei Schlagzeuger mit Bodypainting, Tonband und Videoinstallation aus dem Jahr 2000 sollen die Spieler am ganzen Oberkörper mit Henna tätowiert sein, mit einfachen Motiven, am besten Pflanzen oder abstrakten Tiermotiven, von denen ihr Spiel entscheidend beeinflusst werden soll. Das fast vierzig Minuten dauernde Stück durchpulsen ununterbrochene Sechzehntelrepe­titionen von einigen Schlaginstrumenten und Klavier, die während der gesamten Zeit in Dauerschleife über Tonband zugespielt werden. Bei 550 gleichbleibenden Viervierteltakten erfolgen also exakt 8. 800 Anschläge. Dazu bedienen die zwei Live-Perkussionisten der Reihe nach Glocke, Vibraphon, Große Trommel, Triangel, hin und wieder auch eine Pfeife. Zusätzlich werden auf großen ­Videoleinwänden in hellen Farben verschiedene Ausschnitte der Tatoos der Spieler gezeigt, so dass das Publikum diese Bilder mit den sicht- und hörbaren Aktionen der Schlagzeuger in Verbindung bringen kann.

Tiere, Pflanzen, Sex

Die Grundfrage war: Wieso sind wir, wie wir sind, in der Lage, so schöne Musik, so schöne Malerei und so schöne Bilder zu schaffen? Wieso? Woher kommt das? Was ist die treibende Kraft? Auch bei den Tieren? Ich habe Kolibris gesehen und meinen Augen und Ohren nicht getraut, wie die klangen und wie die aussahen, Wahnsinn! Du denkst, was für eine Verschwendung der Schönheit. Oder Schmetterlinge! Ich habe immer nach diesem Urprinzip gesucht, im Leben, von jedem Leben. Und meine Conclusio ist: Liebe. Dein Körper und zum Beispiel deine Gedärme arbeiten deswegen, weil sie dich lieben. Dein Herz funktioniert deswegen, weil es dich liebt. Verstehst du?! Es ist nicht Überleben, es ist Liebe-Sein, in Liebe. Deswegen heißen zwei meiner Klavierstücke auch „De puro amor“ und „En amor duro“.

Die beiden Solostücke „Aus reiner Liebe“ beziehungsweise „In harter Liebe“ dauern sechzig beziehungsweise fünfzig Minuten. Für solche musikalischen Dauern benötigen andere Komponisten unter Umständen Wochen und Monate. De Alvear notierte alles 1991 binnen weniger Stunden mittels automatischen Schreibens. Das Resultat ist eine Art notierte Improvisation, die sich behutsam und geradezu zärtlich – oder eben liebevoll – über die Klaviatur vorantastet, einstimmig beginnt, vorsichtig die Zwei- und Mehrstimmigkeit findet, um sich schließlich zu akkordischen und regelrecht perkussiven Aktionen zu steigern.

Seit „Animales y flores“ und „La rana – der Frosch“ von 1991 ähneln viele Werke von De Alvear Fabeln mit sprechenden Tieren und Pflanzen. Die an Archäologie, Paläontologie, Biologie, Zoologie, Ornithologie und Schwarmforschung interessierte Komponistin bewundert die Tiere für ihre Schönheit, Ausdauer, Kraft, Orientierungs- und Überlebenskunst. Neben der Humanästhetik erkennt sie im Tierreich auch eine Animalästhetik. Ihr 2006 komponiertes Stück „Sensitive Birds“ für Sopran und Ensemble ist ein hymnischer Liebesgesang auf Erde, Himmel und das Leben. Einen Anstoß dazu gaben ihr die Schönheit, Kleinheit und Eleganz von Kolibris, die sie in den USA beobachtet hat.

Ich fand die Idee toll, etwas für die Vögel zu machen. Denn ich habe viel von ihnen gelernt, auch von den Standardvögeln, die in den Städten zuhause sind, wie die leben, was für Wege sie nehmen. Es gibt ja Herdenvögel – das wissen die wenigsten Leute –, die ihr Territorium ganz genau abstecken. Und diese Familie oder Vogelart begibt sich in kleinen oder großen Schwärmen jeden Tag auf Insektenjagd. Ich habe das beobachtet. Das war ja das Schöne an meinen Aufenthalten bei den Indianern in Amerika: Ich habe den ganzen Tag auf ­einem Stuhl gesessen, nur zugehört und versucht, meine Gehirntätigkeit zu stoppen.

María de Alvears märchenhafte Tier- und Pflanzenstücke sind poetischer Ausdruck ökologischen Denkens aus dem Geist des Totemismus. Verkündet wird eine Art Ökumene oder Liebeskommunismus des Menschen mit einer anthropomorphen Flora und Fauna. Auch die Natur des Menschen denkt die Komponistin als Ökosystem. Dem durch die christlichen Kirchen – in ihrem Fall durch den spanischen Katholizismus – geprägten Leib-Seele-Dualismus erteilt sie eine entschiedene Absage, weil dabei das Geistige immer einseitig als höherstehend, beherrschend oder gar göttlich favorisiert wird, während man das Körperliche als unrein, sündhaft, eitel und sterblich abwertet. Seit „Sexo – Zeremonie für eine Vokalistin, Solovioline und Orchester“ von 1991 thematisiert sie verschiedene Spielarten der Geschlechtlichkeit und Sexualität von Menschen, Tieren, Pflanzen.

Im Gegensatz zur Rock- und Popmusik, wo Sexualität seit jeher eine zentrale Rolle spielt, ist Geschlechtlichkeit in der Kunstmusik und speziell der neuen Musik so gut wie kein ­Thema. Lange bevor es um Empowerment von Frauen und Embodiment des weiblichen Körpers ging, wie es heute auf Neudenglisch heißt, hat María de Alvear das Frau-Sein bereits in mehreren Werken thematisiert. Ihren großen Zyklus „Vagina“ von 1996 nennt sie „die Sehnsucht nach dem Mann“, zentraler aber ist eine allgemeine Verbindung von Menschen, Tieren, Pflanzen und Mineralienwelt. Ausgehend von einer Wölfin erzählt das Stück von verschiedenen weiblichen Lebewesen, die sich der Reihe nach miteinander vereinen, um sich gegenseitig ihr jeweiliges Wissen zu schenken. Auf symbolisch-fabelhafter Ebene geht es primär um die Heilung des gestörten Verhältnisses von Körper und Geist.5 Anstöße zur Beschäftigung mit dem weiblichen Geschlecht und Sexualverhalten erhielt die Komponistin nicht vorrangig durch feministische Ideen, antiklerikale Motive oder das Bedürfnis nach sexueller Befreiung, was zweifellos auch eine Rolle spielte. Ausschlaggebend war für María de Alvear, an die sich ehemalige Kommilitonen als „heißen Feger“ erinnern, vielmehr etwas sehr Persönliches und Naheliegendes: Weil ich Sexualität einfach geliebt und sehr gesund und reichlich erlebt habe.

„Sexo puro“, eine Zeremonie für Ensemble, ist ein sanft wogendes, ozeanisch schimmerndes Endlos-Klangkontinuum. Zur Uraufführung bei den Donaueschinger Musiktagen 1998 präsentierte María de Alvear selbstgemachte ­Unterwasseraufnahmen von lichtdurchflutetem Phyto- und Zooplankton, die einen Eindruck davon vermitteln sollten, wie „durch den Liebesakt der Sonne mit dem Wasser alles Leben entsteht“. Von allen Seiten des Saals „umarmten“ zehn großflächige Videoprojektionen und sechs Lautsprecher das Publikum, damit sich dieses selbst als Teil der in der Musik besungenen und in den Videos gezeigten Anfänge der Milliarden Jahre alten Evolutionsgeschichte der terrestrischen Biosphäre begreifen konnte.

Das Leben begann ja im Ozean, soweit unsere Wissenschaft das weiß, mit einzelnen Zellen und Kleinstlebewesen. Wenn da kein Sauerstoff von Algen gebildet worden wäre, der dann auch in die Atmosphäre aufgestiegen ist, dann hätten sich diese Zellen nicht entwickeln können. Am Anfang gab es also reinen Sex: die Verbindung zwischen Sonne – also Licht – und Wasser. Wenn es reinen Sex gibt, dann ist es das.

Wie die antiken Kyniker und die späteren Zivilisations- und Kulturkritiker Jean-Jaques Rousseau, Henry David Thoreau oder die Vitalisten und Aussteiger des zwanzigsten Jahrhunderts rebelliert María de Alvear gegen den Logozentrismus der polyfunktional ausdifferenzierten, globalisierten und arbeitsteilig organisierten modernen Industrie- und Informationsgesellschaft. Ähnlich wie Joseph Beuys überträgt sie künstlerische Gestaltungsprinzipien auf die „soziale Plastik“ des menschlichen Gemeinwesens und vertraut der kathartischen Kraft von Kunst und Musik. Der Düsseldorfer Künstler schuf beispielsweise 1977 mit seiner Installation „Honigpumpe am Arbeitsplatz“ bei der documenta 6 ein Symbol für die ökologischen Kreisläufe sowohl des menschlichen Organismus als auch der Biosphäre des Planeten Erde. Wie manche seiner Kunstaktionen werden auch Arbeiten von De Alvear gerne mit Schamanismus in Verbindung gebracht, zumal die Komponistin die Heilverfahren der Tscherokesen sowie der skandinavischen und sibirischen Inuit studiert hat.

In „Flores“ für zwei Frauenstimmen, Solotrompete, Ensemble und Video (2003) lässt sie weibliche Tiere paarweise mit ideell weiblichen Pflanzen aus dem gemeinsamen Lebensraum in Dialog treten: Walkuh und Alge, Häsin und Mohnblume, Rättin und Kamille, Wölfin und Steineiche … Insgesamt elf Zwiegesänge durchlaufen in dreizehn Quintschritten alle zwölf Sternkreiszeichen beziehungsweise Monatsblutungen. Hauptgedanke der „Zeremonie“ ist einmal mehr die Aufhebung der Trennung von Körper und Verstand. Da Kunst und Musik aus der Sphäre des „Anderen der Vernunft“ stammen und den Menschen ganzheitlich ansprechen, können sie – so die Hoffnung – Korrektive der rationalistischen Entzauberung, Entsinnlichung und Entemotionalisierung der Lebenswelt sein.

Ich habe das für mich selber sehr lange studiert und erarbeitet, denn das ist wirklich mit Arbeit verbunden. Am besten und einfachsten konnte ich das bei den Indianern. In dieser Zeit habe ich über mich selbst nachgedacht. Da habe ich gemerkt, dass wir vier Körper haben, nicht nur einen. Grundstufe eins: physischer Körper, mentaler Körper und emotionaler Körper, weil das Gehirn bis zur Fußspitze geht. Ich habe immer das Gefühl, dass die Leute vergessen, dass man ein funktionierendes Gehirn haben muss, um zu gehen. Die denken, Gehirn ist nur dieses Gewurschtel da oben. Das ist idiotisch. Es geht bis in die Zehenspitzen. Das ist unser mentaler Körper, und der ist der Übersetzer zwischen physischem und emotionalem Körper. Und dann gibt’s einen vierten Körper, den spirituellen. Diese vier Körper sprechen jeder eine andere Sprache. Wer nicht alle vier Sprachen kann, versteht auch nicht.

Ökologie und Teilhabe

Bei der documenta 7 in Kassel 1982 lernte María de Alvear Joseph Beuys kennen, der damals vor dem Fridericianum den ersten Baum seiner Intervention „7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ pflanzte, gepaart mit einer Basaltsäule.6 De Alvear verstand diese Aktion – wie von Beuys ausdrücklich beabsichtigt – als den Anfang einer von möglichst vielen Menschen fortzusetzenden ökologischen Umgestaltung der Erde. Und so pflanzte die Komponistin 1997 selbst einen Eichen- und einen Lindenbaum in unmittelbarer Nachbarschaft ihrer Kölner Wohnung, im Stadtgarten, ebenfalls mit je einer Basaltsäule flankiert. Und am Rande der Donaueschinger Uraufführung ihres „Sexo Puro“ setzte sie „als Dank an die Erde“ auch im dortigen Fürstlich Fürstenbergischen Schlosspark eine Eiche.

Wie Beuys verwendete auch de Alvear einmal einen toten Hasen und einen toten Hirsch. Und während sich der Düsseldorfer Künstler selbst als „wiedergeborenen Höhlenmenschen“7 bezeichnete, ist de Alvear davon überzeugt, auch in ihren Adern fließe – wie bei allen Europäern – noch Blut der Neandertaler. Dabei geht es ihr wie Beuys nicht darum, archaisches Wissen und mythologische Kosmogonien zu rekonstruieren. Dank mancher Einsichten in die Wissenskulturen, Heilpraktiken und spirituellen Erfahrungen von Indianervölkern imaginiert sie vielmehr Alternativen zur weltweiten Naturvernichtung des zerstörerisch sich auswirkenden Zweckrationalismus und globalen Kapitalismus.

Das traumartige Märchenmusiktheaterwerk „Colorful Penis – ein Sinnspiel“ widmete sie ihren prähistorischen Ahnen. Diese „Opernereignisstudie für acht Sänger und Ensemble“ entstand 2008 auf ein entfernt Mozarts „Zauberflöte“ nachgebildetes französisches Libretto. Mit ironischer Distanz und erotischem Esprit allegorisieren mehrere Figuren und Chorgruppen das Sexualorgan des Mannes sowie feminine Seiten des Maskulinen. Zwischen netzartig die Bühne durchziehenden Fäden und Gespinsten erscheinen die Gesangssolisten in Kostümen mit aboriginalen Figurationen, Phallus-Zeichnungen oder mehreren künstlichen Brüsten wie multiple Persönlichkeiten als Soldat, Bärin, Pfau, Olivenbaum und Kamillenblüte. Die Chöre treten dagegen als Schwärme von Fischen, Korallen und Zellen auf.

Ich war immer schon der Ansicht, dass wir gegen die Natur nicht sein können, geschweige denn so, wie wir jetzt sind. Ohne Natur sind wir nichts. Sie ist ein Teil von uns, und wir sind ein Teil von ihr. Alles ist Natur, Möbel, Plastik und sogar die Atombombe, so bescheuert das klingt. Es gibt nichts auf Erden, das nicht Teil der Natur ist. Die Frage ist nur, ob wir das alles gegen die Natur benutzen, was wir im Moment massiv machen, und das ist schlecht für uns, weil es nicht nur die Natur tötet, sondern vor allem uns selbst.

Indem María de Alvear spekulativ auf kultische Höhlenmalereien, Tätowierungen und Gesangsarten zurückgreift, unterläuft sie den traditionellen Werk- und Musikbegriff der bürgerlichen Kunst. Und ähnlich der rebellischen Nachkriegsavantgarde stellt auch sie die kanonisierten ästhetischen Ideale von Autonomie, Innovation und Originalität in Frage. Dennoch ist ihr Schaffen nicht von Negation und Gesellschaftskritik getrieben. Ihr „Ecocriticism“ hinterfragt zwar den Zweckrationalismus, Anthropozentrismus und „Phallo-Logo-Zentrismus“8 des westlichen Wirtschafts- und Wissenssystems, das in die ökologische Katastrophe geführt hat. Vor allem aber geht es ihr positiv um Versöhnung, Heilung, Liebe, Schönheit. Bei allem ökologischen Bewusstsein schreibt sie keine aufrüttelnden Proteste gegen Atomkraft, Klimawandel, Braunkohletagebau, Umweltzerstörung, Ausländerfeindlichkeit, Diskriminierung, Ausgrenzung, et cetera. Vielmehr verbreitet sie Hoffnung und Zuversicht auf eine Versöhnung des Menschen mit seiner eigenen inneren Natur und der äußeren Lebenswelt:

Meiner Ansicht nach nützt das Dagegen-Sein nichts. Ich möchte die Leute überzeugen, wie schön etwas ist, und dass sie es deswegen pflegen sollten. Was mich immer überzeugt, ist Liebe und Schönheit, etwas, was mich staunen, bewundern lässt, sprachlos macht: haaach, wow!

Das Verhältnis von Kunst und Leben umfasst selbstverständlich auch die Persönlichkeit von María de Alvear und ihre Wirkung auf Umwelt und Mitmenschen. Durch das reiche Elternhaus privilegiert, lässt sie gerne und häufig auch andere an ihrem Wohlstand teilhaben. Freigiebig unterstützt sie Ensembles, Musikerinnen und Musiker, nicht zuletzt in Spanien während der Corona-Pandemie. Ihren Verlag World Edition versteht sie als „ein Forum für den Dialog innerhalb der künstlerischen Avantgarde. Klänge, Gedichte, Bilderwelten bilden die Kette der Möglichkeiten dieses Dialogs.“9 Und die vom Verlag seit 2003 publizierten Hefte „KunstMusik – Schriften zur Musik als Kunst“ geben Kunstschaffenden verschiedener Richtungen Gelegenheit, ihre Fragen, Themen und Arbeiten zu beschreiben und zur Diskussion zu stellen. Zudem hat das Verlagslabel schon über vierzig CDs herausgebracht, neben acht CDs mit Aufnahmen von Werken María de Alvears überwiegend mit Musik internationaler Komponistinnen und Komponisten.

Bei Workshops und Vorträgen zeigt sich die Komponistin stets kollegial, zugewandt, interessiert und animierend. In der Gesprächsreihe „Experimentelles Musiktheater“, die der Autor an der Hochschule für Musik und Tanz Köln im Sommer­semester 2013 veranstaltete, eröffnete sie das Thema „verschiedene Zeitwahrnehmung bei Überformungen von Sehen und Hören“, indem sie sofort selber zu singen und rhythmisch zu klatschen begann und nach knappen Angaben einzelne Studierende kleine Alltagsszenen – etwa „Beim Zahnarzt“ – spielen ließ, während der Rest der Gruppe einen Soundtrack aus Klopfen und Klatschen improvisierte. Statt über Handwerk, Material, Instrumentation, Technik und Form zu sprechen, gibt die Komponistin lieber Hinweise auf Kunstwerke, Literatur, aktuelle Ausstellungen und Theaterproduktionen oder erzählt von faszinierenden Phänomenen und Erkenntnissen aus Biologie, Zoologie, Ornithologie, Schwarmforschung, Psychologie, Archäologie, Ethnologie, Theologie, Religionswissenschaft, Geologie, Astrophysik, und und und.

Hätte sich María de Alvear als junge Frau nicht für die Musik entschieden, wäre sie am liebsten Paläoanthropologin oder Köchin geworden. Während des Studiums bekochte sie gerne Kommilitoninnen und Kommilitonen, wovon manche noch heute schwärmen. Später ergriff sie gerne Gelegenheiten, um Freunde, Bekannte und an gemeinsamen Projekten beteiligte Musikerinnen und Musiker in Restaurants mit gehobener Küche einzuladen. Als Gastgeberin übernimmt sie bei diesen „Tafelrunden“ nicht den „Vorsitz“, strahlt aber allseits gönnend – nie gönnerhaft – ihre Energie und Lebenslust aus, indem sie bewusst gutes Essen und Trinken, Geselligkeit, Nähe und Gespräche genießt und andere mit ihrer Freude daran ansteckt. Wie im Konzertsaal schart sich auch hier die Tischgemeinschaft um eine „Feuerstelle“.

1Abendunterhaltung mit Joseph Beuys, in: documente 1, Achberg: Achberger Verlagsanstalt, 1977, 14.

2Diese und alle weiteren nicht eigens nachgewiesenen Äußerungen von María de Alvear stammen aus einem Gespräch, das der Autor mit der Komponistin am 25. November 2021 in ihrer Kölner Wohnung führte. Vergleiche auch: Ein Konzert ist eine Feuerstelle. Die Komponistin María de Alvear, herausgegeben von Egbert Hiller, Hofheim: Wolke, 2021.

3Gernot Böhme, Ästhetischer Kapitalismus, Berlin: Suhrkamp, 2016, 91.

4Vergleiche Rainer Nonnenmann, „Alles ist möglich!“ María de Alvears öko-ästhetische Symbiosen von Musik, Kunst, Mensch, Natur, in: Ein Konzert ist eine Feuerstelle, siehe Fußnote 2, 26–52.

5Vergleiche hierzu auch Raoul Mörchen, „Raum und Energie. Die deutsch-spanische Komponistin María de Alvear“, in: MusikTexte 80, Köln August 1999, 4–9.

6Zu María de Alvears Beziehung zu Joseph Beuys und zur bildenden Kunst insgesamt vergleiche Rainer Nonnenmann, „Alles ist möglich!“, siehe Fußnote 2.

7Klaus Staeck, „Demokratie ist lustig“, in: Beuys zu Ehren, herausgegeben von Armin Zweite, München: Kastner & Callway, 1986, 515.

8Boris Groys, „Über das Neue“ (1992), in: Ästhetik und ­Gesellschaft. Grundlagentexte aus Soziologie und Kultur­wissenschaften, herausgegeben von Andreas Reckwitz, ­Sophia Prinz und Hilmar Schäfer, Frankfurt am Main: ­Suhrkamp, 2015, 374.

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