MusikTexte 175 – November 2022, 83–84

Zahmer Kater

Die ersten Donaueschinger Musiktage nach dem Jubiläum

von Rainer Nonnenmann

Nach dem überladenen und kulturpolitisch „global“ überfrachteten Jubiläumsprogramm zu hundert Jahren Donau­eschinger Musiktage 2021 herrschte dieses Jahr ein harmloser Kater. Mit fünfundzwanzig Uraufführungen in neun Kon­zerten wirkte das Festival übersichtlich und entspannt. Es hinterlässt den blassen Eindruck von Routine und Betulichkeit, so als habe der bisherige Leiter Björn Gottstein keine rechte Lust mehr gehabt und nur noch Dienst nach Vorschrift gemacht. Es fehlte an Wagemut, Ideen, Experimenten, Provokationen, polarisierenden An- und Aufregungen. Stattdessen garantierten ausgerechnet die Musiktage – so die SWR-Verantwortliche für „Junge Formate“ Anke Mai bei der Abschlusspressekonferenz – ein „Stück Beständigkeit“ inmitten der sich rapide verändernden Welt. Statt alternativer Formate gab es ausschließlich traditionelle Konzerte ohne Ortsspezifik, Szene, Bewegung, Medialität, Interaktivität, Partizipation, dafür mit umso mehr Audio-Elek­tro­nik. Während man andernorts neue Arten der Ansprache probiert, wird das Publikum in den Donaueschinger Sälen und Sporthallen ein ums andere Mal in Sitzreihen gepresst, um der vorne spielenden Musik zu lauschen. Als wären Werkbegriff, Partitur und Aufführungspraxis nie in Frage gestellt worden, gab es nur nach Noten gespielte Stücke, Stücke, Stücke … Das ist nicht nur beschränkt und einfallslos, sondern angesichts der Vielfalt an Erscheinungsformen des seit den Sechzigerjahren in alle Richtungen erweiterten Musikbegriffs geradezu reaktionär. Die ab 2024 inhaltlich vollständig von Lydia Rilling verantworteten Jahrgänge wollen sich dann – verspricht die neue Leiterin – für kollaborative Produk­tions­prozesse und alternative Präsenta­tionsweisen öffnen.

Interimsweise organisiert wurden die Musiktage 2022 von Eva Maria Müller. Die Mitarbeiterin des Kölner Produk­tionsbüros für zeitgenössische Kunst little­bit verfügt über viel operative Erfahrung, Umsicht, Kommunikations- und Team­fähigkeit. Trotz dreier Corona-Ausfälle bescherte sie dem Festival einen perfekten Ablauf und – statt wie üblich backstage – nun bei diversen Ansprachen erstmalig auch onstage einen sympathischen Auftritt. Im Eröffnungskonzert des SWR Symphonieorchesters unter Leitung von Pascal Rophé wurde die krankheitsbedingt abgesagte Uraufführung von Clara Iannottas Konzert für zwei Posaunen, Orchester und die Elektronik des SWR Experimentalstudios durch Exzerpte aus den Solopartien des Posaunenduos RAGE Thormbones ersetzt. Direkt vor den Schallstücken mikrophoniert, erlebte man eine hochkonzentrierte Endoskopie der Klangproduktion in strukturell zwingender Folge. Die Serie an Vibratovarianten begann mit den flatternden Polsterlippen bei tiefen Pedaltönen, führte zu Schwebungen mikrotonal versetzter Liege­töne, über Interferenzen bei gleichzeitigem Singen und Blasen, dann zu Pulsa­tionen mit Wahwah-Dämpfern und schließlich zu metallischem Kreischen unter extremer Lippenspannung und Luft­verknappung. Bei Thomas Meadow­crofts „Forever Turnarounds“ wirkte das Verhältnis von Material, Technik und Form dagegen widersinnig. Die Tonalitätsvermeidungsstrategie „Zwölf­ton­tech­nik“ wurde hier zum Weichspül­schön­klang sanfter Sext- und Septakkorde für Bigband und Streicher umfunktioniert.

Wie sich Digitalität inzwischen auch auf die analoge Körper-, Selbst- und Weltwahrnehmung auswirkt, behandelte Martin Schüttlers „i wd leave leaf & dance“ durch Rollentausch von analogem und digitalem Apparat. Die Register des Orchesters wurden wie Samples an- und ausgeschaltet, während die Elektronik am Ende Orchesterakkorde zuspielte. Die Anamorphose der einen Dimension in die andere führte zu instrumental-technoiden Überlagerungen und Hybriden. In „Outside the Realm of Time“ trat Komponistin Agata Zubel – die hierfür den Orchesterpreis des SWR Symphonieorchesters erhielt – auch als Gesangs­solistin auf, wenngleich nur als „Hologramm“, das punktgenau mit dem Orchester synchronisiert klatschte, sang, die Faust reckte und eindrücklich demon­strierte, dass ein digitales Replikat ohne Bindung ans Zeit-Raum-Kontinuum beliebig schnell die Garderobe wechseln, sich zur Silhouette entkernen, ein- und ausblenden, sowie klonartig vervielfachen kann. Statt Realismus offenbarten die Projektionen ihre digitale Herkunft durch binäres An und Aus, Buffern und Verpixeln. Darüber hin­aus sorgte Zubel mit üppigen Abendkleidern und zugespieltem Schallplattenknistern für nostalgisches Flair, als habe man sie – wie die schwedische Popgruppe ABBA – als längst verstorbene Operndiva aus der Konserve geholt.

Im Konzert des Ensemble Ascolta bewegten sich Christian Winther Christensens „Children’s Songs“ – zunächst typisch für den dänischen Komponisten – an der Schwelle des Hörbaren zwischen Geräusch und Ton. Zartes Tasten, Klopfen, Streichen, Blasen ließ das Potential der gedämpften und präparierten Instrumente allenfalls erahnen. Dann verdichteten sich jedoch Skalen, Akkorde, Melodien, Tänze, Kinderlieder, und vor den Pianisten wurde per Spielzeugeisenbahn ein Paravent gefahren, auf dem wie in ­einem alten Super-8-Familienfilm ein Mädchen im weißen Kleid am Klavier erschien. Schließlich setzten die beiden Schlagzeuger bei jedem achten Akkord des Modulationsschemas Duplo-Bausteine mit sanftem Ploppen auf ein buntes Spielzeughäuschen. Das Stück suchte da schon lange nicht mehr nach einer verlorenen Musik und Kindheit, um womöglich eine neue Jugend und Zukunft zu finden, sondern hatte es sich wohlerzogen und adrett im biederen Traumhaus neu-alter Tonalität bequem gemacht. Wie rasch Kunst in Kitsch abgleiten kann, zeigte auch das antikisierende Lied von der Erde „artemis“ von Rozalie Hirs mit seinen einförmigen Akkord­flächen und darüber liegenden Sopran-Ariosi auf verschwurbelte Wortketten der dichtenden Komponistin.

Die interpretatorischen Leistungen bewegten sich einmal mehr auf Spitzen­niveau, auch bei den Debüts. Das New Yorker Talea Ensemble spielte maschinenhaft exakt bei Mauro Lanzas metrisch vertracktem „Gretchen“, hochdifferenziert bei Joanna Woznys klangsinnlichem „Blenden / Tilgungen“, düster-rockig bei Iris ter Schiphorsts epischem „HYPER-DUB“ und kantabel-expressiv bei Alexander Goehrs zwölftöniger „Double Chaconne with Gaps“. Den erkrankten Kollegen hatte kurzfristig die Kölner Dirigentin Susanne Blumenthal ersetzt, die diese Herausforderung brillant bewältigte und nach Susanna Mälkki vermutlich erst die zweite Dirigentin bei den Musiktagen war.

Eine Entdeckung war der großartige Auftritt des 2006 gegründeten polnischen Ensemble Kwadrofonik. Bei Malte Giesens groovigem „stock footage piece 2: type beats“ spielten das Klavier- und Schlagzeugduo hochvirtuose Loops mit größter Körperspannung und Präzision in pop- und noise-artige Elektronik eingepasst. Mit automatenhafter Kraft und Insistenz wurde dagegen bei Artur Zagajewskis „Danses Polonaises“ auf die In­stru­mente eingeschlagen, wozu der Komponist an einem zusätzlichen Synthesizer zackige Karateschläge nebst Schrei-­Grimassen vollführte. Er wollte so die ­Aggressivität nationalistischer polnischer LGBTQ-Gegner entlarven. Doch hatte man eher den Eindruck, als feierte er die harten Beats als coole Techno-Tanznummer.

Dass es nötig ist, Klänge, Rhythmen und Gesten entsprechend zu komponieren, damit sie gegebenenfalls bestimmte Gehalte oder Aussagen vermitteln, zeigte sich auch bei Hannah Kendalls „shouting forever into the receiver“. Weder assoziierte man von sich aus das lautstarke Atmen in Funkgeräte „mit dem Leid der Afro-Bevölkerung in der Diaspora“ noch verband man Spieluhrenmelodien von Beethovens „Ode an die Freude“ und „Für Elise“ automatisch mit der Epoche, in der versklavte Menschen auf den damals entstandenen Plantagen zu schuften hatten. Der um Eindeutigkeit bemühte Werkkommentar klaffte mit der vieldeutigen Komposition auseinander. Ohne Programmheft ließ sich auch der Schluss von Georg Friedrich Haas’ „weiter und weiter und weiter …“, wo Dirigent Vimbayi Kaziboni – vermutlich der erste Dirigent „of colour“ in Donaueschingen – und dann das gesamte Ensemble Modern der Reihe nach die Bühne verließ, nicht als Statement des Komponisten gegen die nationalsozialistische Gesinnung seiner Familie verstehen: „Wir haben immer die Möglichkeit, aufzustehen und wegzugehen.“ Vielmehr gewann man den Eindruck, Weggehen sei die einzige Möglichkeit, um den fünfundvierzig Minuten lang mit endloser Stupidität wiederholten Läufen, Akkordketten und Shepard-Skalen zu entkommen.

Das Abschlusskonzert des SWR Symphonieorchesters unter Leitung von Bas Wiegers konnte der Autor dieses Berichts reisebedingt nicht vor Ort erleben, sondern nur nachträglich per Video im Internet. Lula Rumeros „Parallax“ erzeugte mit drei im Raum verteilten Instrumentalgruppen cluster- und geräuschhaft dichte Trillerflächen, deren mangelnde Konturierung die beabsichtigte räumliche Auffächerung und Individualisierung der Hör­perspektive zumindest auf der heimischen Stereoanlage implodieren ließen. Malika Kishinos „Wolken­atlas“ gliederte das Orchester gemäß den meteorologischen Schichtungen von Stratos, Cumulus und Cirrus in Bass-, Alt- und Sopraninstrumente für atmosphärisch wechselnde Dichten, Dynamiken und Temperaturen. In Arnulf Herrmanns „Ein Kinderlied (Dämonen)“ wurde ein altes Wiegenlied wahlweise breitgetreten, gequirlt, zerstückelt und katastrophisch geballt. Peter Ruzickas gut halbstündiges zweites Violinkonzert „Eingedunkelt“ mit integriertem SWR Vokalensemble basierte schließ­lich – wie viele seiner Stücke – auf der Folie eines Gedichts von Paul Celan. Den Auftrag zu dem von Geigerin Carolin Widmann – Mitglied im Kuratorium der Ernst von Siemens Musikstiftung – uraufgeführten Werk erhielt der Vorsitzende des Aufsichtsrats der Ernst von Siemens Musikstiftung vom damaligen Anwärter und jetzigen Sekretär des Kuratoriums der Ernst von Siemens Musikstiftung Björn Gottstein, der für das Abschlusskonzert nur Werke von Komponierenden ausgewählt hatte, die schon durch die Ernst von Siemens Musik­stiftung gefördert worden waren, nachdem der inzwischen in den Ruhestand getretene vormalige Sekretär der Ernst von Siemens Musikstiftung, Michael Roßnagl, die Redaktionen für neue Musik des SWR jahrelang angehalten hatte, von der Ernst von Siemens Musikstiftung geförderte Konzerte und Aufführungen von Mitgliedern des Kuratoriums der Ernst von Siemens Musikstiftung tunlichst zu besuchen.

Kreisrunder kann es nicht laufen.