MusikTexte 175 – November 2022, 17–24

„Ich ist ein Anderer“

Francisco C. Goldschmidts anti-identitäres Komponieren

von Rainer Nonnenmann

Wenn ich ein Anderer war und sie Andere waren, dann war vielleicht keiner von uns mehr ein Anderer, sondern wir waren stattdessen einfach nur ein neues Wir. Es war verwirrend.
John Lanchester „Die Mauer“ (2019)

In seinem Artikel „Wir sind die Unreinen dieser Erde“1 problematisiert Francisco C. Goldschmidt den Begriff „Identität“. Er tut dies aus persönlicher Betroffenheit, weil er sich als aus Chile stammender und seit 2011 in Deutschland lebender Komponist immer wieder mit der Frage konfrontiert sieht, was denn an seiner Musik „chilenisch“ oder „lateinamerikanisch“ sei? Zudem stellt er fest, dass überhaupt nicht klar sei, was „Identität“ im Sinne eines Immergleichen und Eigenen überhaupt bedeute, vor allem im Hinblick auf die Länder Lateinamerikas, die durch Kolonisierung, Ausbeutung, Versklavung und Missionierung auf vielfältige Weise kulturell, religiös, wirtschaftlich und sprachlich überformt wurden. Vielmehr erkennt er in allen Identitätszuweisungen ein Instrument der autoritären Festlegung und Verwaltung von Wissen, Tradition und Geschichte, das es als Fiktion und Beruhigungsmittel zu entlarven und „auszulöschen“ gilt.

Aus dieser Einschätzung leitet Goldschmidt für seine kompositorische Arbeit die existentielle Frage ab, „wie wir diesem emanzipatorischen Akt einen ästhetischen Klangkörper verleihen können“. Auswege aus dem identitären Denken sieht er in einem fundamentalen Per­spektivwechsel, weg von der Identifikation mit dem, „was wir angeblich sein sollen“ oder was wir uns als Narrativ über uns und andere erzählen, stattdessen hin zu dem Fremden und Anderen, das wir nicht sind, zu einer „ständigen Nicht-Identifikation, die offen, vielfältig und kritisch ist“. Aus der Zurückweisung normativ wirkender Identitäten, Nationalismen, Rassismen, Geschlechts- und Geschichtsbilder könnte sich eine dekolonisierte „Kultur der Kreuzung“ entwickeln, mithin eine „arte impura“ beziehungsweise „música impura“, deren Reichtum in der „Polarität des Zweideutigen“ liegt, wie sie der von Goldschmidt zitierte brasilianische Schriftsteller Oswald de Andrade schon in den Zwanzigerjahren als eine Gegenposition zur europäischen Dominanzkultur entwickelt hatte, als er das anthrophagische Motto prägte: „Statt das Fremde wegzuschieben, das Fremde fressen.“

Francisco Concha Goldschmidt wurde 1981 in Santiago de Chile geboren. An der dortigen Universität studierte er Komposition bei Cirilo Vila und Aliocha Solovera. Zudem absolvierte er ein Masterstudium in Kunsttheorie und Kunstgeschichte, unter anderem bei Rodrigo Zúñiga. 2011 schloss er ein Masterstudium bei Johannes Schöllhorn an der Hochschule für Musik und Tanz Köln an, das er 2017 mit dem Konzertexamen abschloss. Seitdem lebt und arbeitet er in Köln. 2015 gründete er mit chilenischen und internationalen Musikerinnen und Musikern das von ihm und dem chilenischen Dirigenten Lautaro Mura künstlerisch geleitete Kommas Ensemble. 2016 erhielt er das Bernd-Alois-Zimmermann-Stipendium der Stadt Köln. Schon im damaligen Preisträgerkonzert war zu erleben, wie in seinen Kompositionen jeder Klang mit allen Fasern erfasst und zur Geltung gebracht wird. Scheinbar geringe Ereignisse erhalten das Gewicht von tiefgreifenden Erschütterungen. Es sind nicht bloß delikate Klanglichkeiten, fein ausgehört und mit großer Akribie notiert, sondern expressiv aufgeladene Gesten mit einer besonderen Eigenart, Räumlichkeit und Atmosphäre.

Klangliche Migrationen: „Muros“

Das von Arthur Rimbaud entlehnte „Ich ist ein Anderer“ bleibt bei Francisco Goldschmidt nicht nur poetisches Bild oder theoretische Spekulation, sondern findet konkret kompositorische Umsetzung. Ein Paradebeispiel für sein Ideal einer „música impura“ ist „Muros“ für verstärktes Ensemble und Elektronik (2018/19), sein erstes Stück, das er nach fast zehn Jahren wieder auf der Basis einer klar definierten Metrik schrieb. Der Partitur vorangestellt ist ein Motto des spanischen Philosophen und Queer-Theoretikers Paul B. Preciado: „there is no single identity / no single language / no single culture /no single name …“ Gemäß solch pluralistischer Entgrenzung von Traditionen, Identitäten, Kulturen, Sprachen und Namen bleibt auch innerhalb der Komposition keine Stimme identitär sie selbst, sondern alle Stimmen durchdringen sich gegenseitig. Auffallend ist das Dreiachtelmetrum sämtlicher dreihundertfünf Takte des Stücks, das nicht – wie üblich – musikalische Einheit und Eigenheit konstituiert, sondern lediglich als Folie dient, die durch permanent wechselnde Rhythmik, Instrumentation, Stimmführung und Tempi so überlagert wird, dass kaum etwas von der typischen Akzentmetrik und -rhythmik zu hören ist. An die Stelle fixierter Identität tritt fluktuierende Pluralität. Dem sichtbaren Dreiachtelschlag des Dirigenten entspricht kein hörbarer Puls, als gelte es mit der obligaten Taktart auch die in mittelalterlicher und barocker Musik dadurch symbolisierte christliche Trinität zu überwinden. Erst ganz zum Schluss schlägt das Klavier pro Takt sechsmal das klirrend hohe d 4 an, wobei die Dreiachtelmetrik sowohl erkennbar bleibt als auch durch die Rhythmik punktierter Zweiunddreißigstel mit Vierundsechzigstelpausen zu einer akzentfreien Impulsfolge neutralisiert ist. Gleichzeitig endet mit der über mehrere Takte gestreckten Seufzersekunde f-e der Klarinette dal niente der Lebenspuls des Stücks.

Gleich die erste Partiturseite von„Muros“ zeigt, wie Goldschmidt sein Ideal einer zweideutigen und hybriden Musik kompositorisch umsetzt. Die Instrumente verbinden sich und nehmen dadurch andere Eigenschaften an. Ein hoher Liegeklang der Violine wird sowohl auf der ersten Saite als Flageolett als auch auf der zweiten Saite ordinario gespielt. Am Steg gestrichen, soll das hauchige Luftgeräusch „like a whistle“ klingen. Die Geige verliert ihre Identität und wird zur Pfeife. Der folgende pp-Klarinettenton entsteht aus anfänglichem Blasgeräusch und hinterlässt ebenso schattenhaft-flüchtige Resonanzen auf den stumm niedergedrückten Saiten des Klaviers, das zum Hallraum und Alter Ego der Klarinette wird. Goldschmidt gleicht die Stimmen durch minutiös variierte Spieltechnik, Dynamik, Tonhöhe und Klangfarbe so weit einander an, dass sie stellenweise ihre Eigenschaften vertauschen. Dabei überlagern sich die Partien von anfänglicher Einstimmigkeit sukzessive zur Vierstimmigkeit. In Takt 4 mischt sich das Violoncello mit einem nah am Steg auf der C-Saite extrem hoch rauschenden c 4 in den mit Luftgeräusch angereicherten Spitzenton der Klarinette. Die tiefste Cellosaite wird – in Höchstlagen getrieben – zur „Pfeife“ wie anfangs die Geige. Schließlich macht sich auch der erste aktive Einsatz des Klaviers Fremdes zu eigen, indem er den Tonvorrat aller bisherigen Partien komprimiert und dadurch erstmalig das obligate Dreiachtelmetrum erahnen lässt, wenngleich durch Überbindungen, Gegenakzente, rhythmische und dynamische Varianten verschleiert.

Damit sich die klanglichen Differenzierungen besser erschließen, schreibt Goldschmidt – wie in vielen seiner Werke – elektrische Verstärkung vor:

Das hängt auch mit meiner Liebe zur Rockmusik während meiner Kindheit und Jugend zusammen. Ich mag laute Verstärkung und die Nähe zum Klang, wie bei einem Rockkonzert, und in kleineren Räumen mit weniger als hundert Leuten. Ich mag keine Riesensäle mit zweitausend Menschen, wo man weit weg von der Musik in der vierzigsten Reihe sitzt und ein einziger Mensch mit einem knisternden Bonbonpapier alles kaputtmachen kann. Dem klassischen Konzert ziehe ich daher das Protokoll der U- und Rockmusik vor, die alles für alle gleichermaßen hörbar macht, egal wo man sitzt oder steht, eben nicht nur für die Privilegierten in den vorderen Reihen. Das ist eine einfache und effektive Lösung, mit der ich weiter arbeiten werde. Wir hören ja auch zuhause gute Aufnahmen! Warum können wir das mit entsprechender Mikrophonierung und Verstärkung durch einen guten Tonmeister nicht auch im Konzert tun? 2

In „Muros“ soll das „amplified sextet“ die klanglichen Nuancen wie unter einer akustischen Lupe vergrößern. Neben den erweiterten Spieltechniken werden die Instrumentalklänge durch die elektronische Abstrahlung über Lautsprecher verändert. Sie erscheinen nicht mehr rein instrumental, sondern spatial und medial überformt. Außerdem sieht Goldschmidt eine elektronische Zuspielung vor, deren dynamischer Pegel sich unterhalb der Verstärkung des Ensembleklangs bewegt. Intendiert ist „a sort of shadow, a distant murmur, almost imperceptible“. Die Verstärkung des Ensembleklangs und die fast unhörbare elektronische Schattierung lenken die Aufmerksamkeit vom Detailreichtum der Klänge zum Gesamteindruck des viertelstündigen Stücks. Bei ständig fluktuierendem Tempo entfaltet es einen überwiegend ruhigen und dunklen Klangfluss mit vielen Momenten der Ruhe (fast bis zum Stillstand), in denen die Musikerinnen und Musiker offensichtlich nicht spielen, aber durch die Zuspielungen wie von Geisterhand dennoch atmosphärisch etwas klingt. Mikrophonierung und Verhallung verstärken den Eindruck des Unwirklichen und Körperlosen. Die Musik klingt verschwommen, schemen- und traumhaft, als höre man sie unter dem Einfluss von Drogen, so dass winzige Details plötzlich übergroß und verzerrt erscheinen. Klang und Raum werden noch ungreifbarer, wenn das Stück – wie vorgesehen – im Dunkeln aufgeführt wird, so dass sich die hörbaren Resultate kaum mehr den sichtbaren instrumentalen Aktionen zuordnen lassen und sich die auf Identifikation ausgerichtete Kausalität von Ursache und Wirkung in vagen Schemen verliert.

Entgegen dem Werktitel „Muros“ errichtet Goldschmidts Musik gerade keine Mauern, sondern verflüssigt stellvertretend mit dem „autoritären“ Dreiachtelraster alle instrumentalen Identitäten und Grenzen. Während gegenwärtig vielerorts in der Welt Mauern gebaut werden, um Migranten von ihren Wegen und Zielen abzuhalten – Arme von Reichen zu separieren, Schwarze von Weißen zu segregieren –, dürfen sich hier die Klänge, gemäß Goldschmidts Ideal einer nicht-identitären „música impura“, frei bewegen, treffen, durchdringen und wechselseitig zu neuen Mixturen hybridisieren. Ein Klang färbt den anderen. Die Instrumente verlieren ihre angestammten Eigenschaften und nehmen neue an. Klare Demarkationslinien und Zuschreibungen verblassen. Eigen und fremd sind nicht länger Kategorien des Komponierens und Hörens. Im Werkkommentar zitiert Gold­schmidt erneut Paul B. Preciado: „Das Bild von Migranten, die Grenzen überqueren, ist der universelle Signifikant, der uns alle umkodiert: Wer bin ich und was mache ich hier?“ Indem die Instrumente ihre Familienzugehörigkeit spielerisch überwinden, entfalten sie eine gesellschaftspolitische Implikation. Diese erschließt sich nicht beim ersten und einmaligen Hören, zumal die erweiterten Spiel- und Klangpraktiken zum Standardrepertoire neuer Musik gehören. Doch hier erfahren diese Praktiken eine aussagekräftige Aufladung durch die Übereinstimmung der komponierten Strukturen sowohl mit dem Formverlauf als auch mit der Elektronik und der gesellschaftspolitischen Utopie von „Muros“.

Sprachloser Schrecken: „no voice“

Das Solostück „no voice“ für verstärkte Bassflöte, Hall und Licht (2019) komponierte Goldschmidt für Daniel Agi. Angesichts der Herkunft des Flötisten aus Syrien und des dort seit Jahren tobenden Kriegs beschäftigte sich Goldschmidt während der fast einjährigen Entstehungszeit des Stücks intensiv mit diesem Land. Dabei stieß er auf die anonymisierte Schilderung einer Syrerin:

Die Frau war Apothekerin und wurde sechs Monate ins Gefängnis gesperrt, weil sie Medikamente auch bedürftigen „Anderen“ gab. Jeden Tag wurde sie mehrmals von Wachmännern vergewaltigt. Man denkt, so etwas Barbarisches gebe es nur im finsteren Mittelalter, aber nein, es geschieht heute! Wir leben aber in einer Gesellschaft, die davor die Augen verschließt. Beim Komponieren war ich jeden Moment bei dieser Frau, ich habe mich total in sie und ihr Leiden hineinversetzt. Jeder Abschnitt von „no voice“ gleicht einem ihrer Tage. Das Stück ist ein Geschenk für sie, obwohl ich sie persönlich gar nicht kenne. Sie ist wie ich 1981 geboren und lebt jetzt irgendwo in Deutschland. Ich kann mein Komponieren einfach nicht von Dingen trennen, die mich erschüttern.

Goldschmidt stellt der Partitur ein Gedicht der syrischen Lyrikerin Saniya Sáleh auf Syrisch, Deutsch, Spanisch und Englisch voran: „Ich habe keine Stimme und keine Lieder / Meine Stimme ist ausgezogen in das Land der Winde und der Bäume / Die Schatten sind dichter als Wimpern / Und es ist kein Lied, das die Finsternisse der Tiefen erhellt / Doch sein Echo schlägt im Busen der Nacht / Und ich schlafe ein auf meiner Brust“. Die Verse beschreiben ein lyrisches Ich ohne eigene Stimme und Lieder, während das „Land der Winde und der Bäume“ dennoch tönt und ein Echo „im Busen der Nacht“ erzeugt. Damit passt das Gedicht zur nicht-identifikatorischen „música impura“ des Komponisten. Wie die Instrumentalstimmen von „Muros“, werden auch die Töne der Bassflöte in vielschichtige Klänge, Atemlaute, Multiphonics und Mehrstimmigkeiten aufgespalten. Auch „no voice“ soll im Dunkeln gespielt werden, damit der Flötist – der seine Noten von einem für das Publikum unsichtbaren Tablet abliest – kaum als Akteur und Person erscheint, sondern das Publikum sich ganz auf die Klänge und die darin eingeschriebene Körperlichkeit und Expressivität konzentrieren kann, ohne von den Aktionen des Interpreten abgelenkt und durch den Umstand gestört zu werden, dass die Klänge ein oder zwei Meter vom Flötisten getrennt über Lautsprecher zu hören sind.

Die Bassflöte wird elektrisch verstärkt und wie in der Überakustik eines großen Raums verhallt. Für den Fall, dass keine Verstärkung verfügbar sein sollte, kann der Solist auch möglichst nahe an einem pedalisierten Flügel spielen, so dass dessen Saiten mitschwingen. Ideal wäre eine Aufführung, bei der die verstärkten Flötenklänge die Klaviersaiten zum Schwingen bringen und diese Resonanzeffekte wiederum elektrisch verstärkt werden, ähnlich wie bei Pierre Boulez’ „Dialogue de l’ombre double“ für Klarinette und Elektronik (1985). Schon in „…y tal vez habré gritado…“ (… und vielleicht könnte ich geschrien haben …) für verstärkte Violine, resonierendes Klavier und Video (2015) ließ Goldschmidt alle Klänge der Violine in Abhängigkeit von ihrer Dynamik, Lage und Dauer auf dem Saitenchor eines geöffneten Flügels mitschwingen. Und ebenso wird in „no voice“ der Flötenklang gleich doppelt entpersonalisiert beziehungsweise hybridisiert, sowohl elektrisch als auch instrumental durch die Klavierresonanzen. Einmal mehr werden starre Identitäten und Verhältnisse von fremd und eigen verflüssigt.

Der Monolog umfasst 282 Takte und dauert eine Viertelstunde. Gemäß der Atemlänge des Bläsers verketten sich einzelne Gesten, Figuren und Linien zu kürzeren Abschnitten, die durch verschiedene Zäsuren und Generalpausen gegliedert und je nach Tempo und Dynamik mit charakteristischen Vortragsangaben versehen sind: „calmo, brutal, andante, sereno, largo, pesante, stretando, agitando, animato, ritmico, furioso, canto“ sowie zum Schluss „dolente“ und „morendo“. Goldschmidt spricht in seinem Werkkommentar von einem „Werden verschiedener Momente“ und dem „Entstehen von Situationen, die ihren Weg verlieren und in denen sich Spuren undurchsichtiger Gesänge finden“, die wahlweise zerbrechlich, zart, matt oder forciert und bewegt sind, wild fauchend und „mit Wut und Schicksal aufgeladen“. Tatsächlich klingen zuweilen melodische Elemente an. Das geräuschhafte Klangspektrum neuer Musik wird so mit traditioneller Tonalität verbunden, um ästhetische Schranken aufzuheben.

Bei permanent wechselnden Intensitäten und Tempi hat der Flötist eine Fülle an spieltechnischen Abwandlungen zu artikulieren: Übergänge zwischen Blasgeräusch und Ton, exakte Griffkombinationen für Mikrointervalle und Mehrklänge, Überblasungen und Intonationsschwankungen, kleine Glissandi durch Neigen des Instruments gegenüber den Lippen, gleichzeitiges Blasen und Singen mit Vokalwechseln zwischen „u“ und „i“, Schwebungen zwischen Liegetönen derselben sowohl geblasenen als auch gesungenen Tonhöhe, farblich zwischen „di“ oder „du“ variierte Anstoßlaute, perkussive Klappenschläge bestimmter Griffe oder Griffkombinationen, bewusst fragile und instabile Tongebungen, Spiel mit Flatterzunge, Bisbigliando, Triller und Whistle Tones. Ritardandi und Haltepunkte gliedern den Verlauf. Hinzu kommen Wiederholungen, bei denen einzelne Takte oder Passagen zwei-, drei- oder vielmals repetiert und dabei in Tempo, Dynamik und Charakter gesteigert werden.

Sparten- und Kulturgrenzen: „Ruil“ und „Tala“

Goldschmidts im Dunkeln aufzuführende Stücke bilden – wie er selbst sagt – eine „Anti-Trilogie“, da sie jeweils andere Aspekte oder „Identitäten“ seines Komponierens verkörpern. Das dritte Stück ist das vom Cologne Guitar Quartet in Auftrag gegebene „Ruil“ für vier E-Gitarren v0n 2019. Mit der Besetzung möchte Goldschmidt die Trennung von E- und U-Musik aufweichen zugunsten von Kreuzungen, Überlappungen und Zwischentönen. Er komponierte das Gitarrenquartett, während es in seinem Heimatland zu Massenprotesten kam:

In Chile gab es früher immer wieder Proteste gegen die Mili­tärdiktatur, die alles repressiv niederschlug, so dass alle Angst hatten. Auch meine Eltern sagten mir immer, ich darf nicht alles laut sagen und auch nicht auf die Straße gehen. Doch die jetzige, jüngste Generation, die das nicht mehr mit­be­kom­men hat, sagt, was sie sieht: ein kaputtes Land, und erklärt „basta“, genug! Ich wollte mein erstes richtiges Lied schreiben, in der Art von Schubert oder einer Rockballade, und hatte schon eine Stimme komponiert, die ich später in die dritte Gitarre verlegte. Dann aber kam es zu Protesten in Chile, und mein Lied wurde durch Hinzufügung dreier weiterer Gitarren zerstört, so dass man es – wie bei einem total verwackelten Kamerabild – kaum mehr erkennen kann. Ich fühle mich als Teil der aktuellen chilenischen Bewegung und war jeden Tag im Geiste bei den jungen Demonstrierenden, von denen einige getötet wurden oder durch Polizeikugeln ein Auge verloren haben. Ich wollte keine Kampfmusik schreiben, sondern etwas Mitfühlendes, auch Trauerndes. Ich habe Hoffnung auf Veränderung, und die E-Gitarren stehen für jugendlichen Protest und Revolution. Aber ich habe auch Angst und sehe die Gefahr, dass das Militär ein Massaker mit hunderten oder tausenden von Toten anrichtet, wie Ende 2017 im Iran, und damit die ganze Bewegung tötet.

Goldschmidt stellt seinem Gitarrenquartett ein Gedicht voran, „Frühlingsregen“ (2009) von Rodrigo Zúñiga, Professor für Kunsttheorie und Ästhetik an der Universidad de Chile, bei dem er einst studierte: „Nun, dann, / bereits sichtbar, / der Triller in den Kristallen. / Ein Baum stöhnt halluziniert. / Von allen Himmeln transparente Früchte fallen.“ Der Werktitel „Ruil“ entspricht dem gleichnamigen Baum, botanisch „Nothofagus alessandrii“, der endemisch nur in Chile vorkommt und vom Aussterben bedroht ist. Wie in den beiden anderen Stücken zielt Goldschmidt auch hier auf Vermischungen mehrerer Stimmen. Dazu teilt er das Gitarrenquartett in zwei Stimmpaare. Zwei Gitarren durchdringen sich mit schnellen Repetitionen und Pulsationen. Die anderen entfalten sich vorwiegend akkordisch und melodisch. Anders ausgedrückt handelt es sich um ein Trio, in dem die erste und zweite Gitarre solistisch spielen und dann das Duo von dritter und vierter Gitarre als dritte Stimme hinzutritt. Trotz komplexer rhythmischer Verhältnisse kommt es zu klaren proportionalen Entsprechungen. Stellenweise entsprechen sich Gitarre I und II mit neun Zweiunddreißigsteltriolen und vier Zweiunddreißigsteln sowie Gitarre III und IV mit Achtel- und Sechzehnteltriolen. Nach dem Gitarrensolo „…aún caen retazos de esos gritos…“ für verstärkte Gitarre (2014), das für Camilo Sauvalle entstand und dessen erweiterte Spieltechniken und Flageoletts äußerst anspruchsvoll sind, wollte Goldschmidt ursprünglich ein weniger schwieriges „Lied“ für sich selbst schreiben. Etwas von diesem Anliegen hat sich in „Ruil“ bewahrt, da es ihm gelang, alle vier Stimmen selbst einzuspielen und im Overdub-Verfahren als Gitarrenquartett übereinanderzulegen.

Das Quartett bewegt sich vorwiegend zwischen piano und mezzoforte, entfaltet durch die Gitarrenverstärker aber dennoch eine starke Präsenz. Zugleich werden die Klänge nach genau vorgeschriebenen Graden verhallt, so dass sie wie in einer dröhnenden Unterwasserwelt erscheinen, verschwommen und fließend. Man hört das Potential revolutionärer Unruhe und ahnt zugleich, dass alles untergründige Brodeln sofort im Keim erstickt werden kann, wenn man nur den „Saft“ abdreht. Trotz komplexer Rhythmik und Dichte des Notenbilds wirkt das Klangresultat wegen der durchdringenden Pulsationen und der auf der Gitarrenstimmung basierenden tonalen Harmonik – im Notenbeispiel e-Moll und E-Dur über obligatem f, dann fis im Bass – vielmehr ruhig, improvisatorisch gelöst, fast meditativ, versunken und schwebend, so dass man bei allen Störungen doch noch Spurenelemente des ursprünglich intendierten Lieds hören kann.

Während „Ruil“, Spartengrenzen transzendiert, zielt „Tala“ für verstärkte Viola und geschlagenes, resonierendes Klavier (2018) auf eine Durchdringung verschiedener Musikkulturen. Das nur vierminütige Stück ist mehr Solo als Duo. Nach drei Einleitungstakten, die gleich dreimal gespielt werden, basiert es ab Takt 4 auf einem obligaten Takt- und Rhythmusschema, bestehend aus zwei Sechsachteltakten und einem Neunachteltakt mit einer obligat wiederkehrenden Folge von leisen Schlägen auf eine Saite im Innenklavier. Die abwechselnd offenen und mit Fingern abgedämpften Schläge können von einem Pianisten oder einer Schlagzeugerin gespielt werden. Wie beim titelgebenden Tala der klassischen indischen Musik ist nicht das notierte Metrum die bestimmende Struktur, sondern der zyklisch wiederkehrende Rhythmus der im peda­lisierten Klavier mitschwingenden Schläge. Das europäische Harmonie- und Melodieinstrument Klavier wird zur indischen Tabla mit abwechselnd obertonreich klingenden Tönen und dumpfen Schlägen. Die Einsätze, Akzente, Ton- und Farbwechsel der Viola sind zumeist mit dem Schlagschema synchronisiert. Doch Goldschmidt gestattet ausdrücklich, dass sich beide Partien nach gemeinsamem Beginn frei und unabhängig voneinander entfalten können. Die Bratsche spielt Glissandi, Mikrointervalle, Flageoletts, Doppelgriffe und Vibrati. Zudem gleitet der Bogen ständig zwischen Steg und Griffbrett hin und her, so dass die Spielweisen obertonreich oder atemhaft rauschend eingefärbt werden. Durch elektronisch leichte Verstärkung und Verhallung sowie die Resonanzen im pedalisierten Flügel erhalten die Viola­klänge einen silbrigen Schatten, der an die dreißig bis vierzig metallischen Resonanzsaiten des nordindischen Streichinstruments Sarangi erinnert. Bratsche und Klavier verlieren ihre europäische Identität zugunsten von Spielweisen und Klanglichkeiten indischer Instrumente.

Mitgestaltende Interpreten: „murmuró“

Beim Nachdenken über Möglichkeiten der Aufhebung identitärer Festlegungen macht Goldschmidt keinen Halt vor der eigenen Rolle als Komponist im Verhältnis zu „seinen“ Interpreten. Wie können sich Musikerinnen und Musiker die von ihm komponierte Musik so zu eigen machen, dass sie die „ihre“ wird? In „...murmuró con furia...“ für (Bass)Flöte, Bassklarinette, Violine, Violoncello und resonierendes Klavier (2015) spielen die Instrumentalisten räumlich voneinander getrennt, ohne auf die anderen zu achten. Die Violine beginnt solistisch in größerer Entfernung, um sich dann den übrigen Musikern anzunähern. Das Stück ist nicht als Partitur mit exakt koordinierten Partien notiert, sondern existiert vorerst nur in Einzelstimmen.

Der Pianist setzt zwischen filigrane Arpeggien und Repetitionen immer wieder dumpf pochende Akkorde, als falle in einiger Entfernung etwas Schweres auf federnden Waldboden. Lage, Dauer und Anschlag der Akkorde sind präzise bezeichnet und deuten zunächst auf nichts Besonderes, doch das Klangresultat überrascht. Die Kerntöne im Bass C-D-Fis-G werden nur ganz kurz als Zweiunddreißigstel ppp mit una corda-Pedal angeschlagen und als Resonanzen auf fünf mit Sostenuto-Pedal fixierte Klaviersaiten übertragen. Dem Anschlag folgt die im mittleren Register nachzitternde Septime g-f 1. Die Einsätze kehren in unvorhersehbaren Abständen geringfügig variiert wieder, chromatisch abgewandelt, durch neue Töne ergänzt, mit wechselnder Oktavlage. Gelegentlich wird auch die nachzitternde Septime zur None c 2-d2-des3 gespreizt, mit jeweils verschieden stark und lang gehaltenem Spitzenton. Obwohl die Klänge allgegenwärtig sind und deutlich aus den Repetitionen und Lineamenten herausstechen, bleiben sie durch die kleinen Variationen eigenartig unfasslich und geheimnisvoll: Dasselbe ist eben nicht dasselbe. Goldschmidt hat die Klänge am Klavier ausprobiert, ertastet, erhört. Auch andere Instrumentalpar­tien komponiert er zunächst am Klavier, um die Tonhöhen und Harmonien dann nach allen Regeln der Kunst spiel- und klangtechnisch abzuwandeln, so dass aus konventionellen Identitäten etwas Neues entsteht.

Goldschmidt konzipierte „...murmuró con furia...“ als Teil seiner Kammeroper „Eloy – Musik mit Bildern der Isolation“ für verstärktes Ensemble, Stimme und Video (2013–2021), die in einer unvollständigen Erstfassung 2017 vom Kommas Ensemble in der Kölner Kunst-Station Sankt Peter uraufgeführt wurde. Das rund zwanzigminütige Ensemblewerk bildet dort den dritten Akt. Es besteht aus instrumentalen Monologen, die alle unabhängig voneinander komponiert und mit den Solisten getrennt erarbeitet wurden. Alle Instrumentalistinnen spielen als Individualisten und zugleich als Bestandteile eines Kollektivs. Erst am Tag der Uraufführung von „Eloy“ brachte Goldschmidt die Musikerinnen zusammen, damit sie wirklich als Solisten nach jeweils eigenen Dynamik-, Tempo- und Vortragsanweisungen spielen, wie verschiedene Charaktere, die ohne Beziehung zu den anderen nur ihre eigenen Geschichten erzählen. Im Werkkommentar heißt es: „Jedes Instrument geht seinen eigenen Weg, ohne genau zu wissen, warum sie sich alle gemeinsam auf der Bühne befinden. Bis zu einem gewissen Grad geht es darum, Arten von Isolation und Monotonie anzunehmen, die plötzlich miteinander konfrontiert werden, aber ihre Autonomie bewahren, ohne sich auf eine klare Form der Interaktion einzulassen.“ Indem Goldschmidt alle Stimmen als Soli konzipiert, verschafft er den Musikerinnen und Musikern aufführungsprak­tische Freiräume, in denen sie sich die notierten Klänge in einer Weise zu eigen machen können, die sich dem Publikum dann idealerweise als gesteigerte Konzentration und Intensität mitteilt. Indem die Töne von Akkorden zeitlich versetzt erklingen, resultieren statt eindeutiger Mehrklänge eher harmonische Felder. Gestrichelte Linien in der Partitur markieren dabei Stellen, an denen die Musizierenden ihr Spiel durch charakteristische Gestik und Agogik koordinieren sollen.

Instrumentales Monodram: „Eloy“

Formal gliedert sich „Eloy“ folgendermaßen: Einer kurzen Introduktion der Solovioline folgt der erste Akt „...pe­dazos de rostros...“ (Scherben von Gesichtern) für Ensemble und direkt anschließend der zweite Akt „...como restos de un naufragio e insolencia...“ (wie Überreste eines Wracks und Unverschämtheit) für Violine, Viola und Klavier. Auch diese beiden Akte existieren bislang nur in Einzelstimmen, aus denen die Musiker spielen, die jedoch in Zukunft für den Dirigenten zu einer Partitur verbunden werden sollen. Einem kurzen Interludium des Soloschlagzeugs folgt als dritter Akt „...murmuró con ­furia...“. Einem längeren zweiten Interludium mit aus dem Off verstärkt rezitiertem Sprechtext „Eloy’s voice“ samt Soli von Viola und Schlagzeug schließt sich der vierte Akt an: „...y te pierdes y te hundes...“ (und du verlierst dich und versinkst) für Violine und Quintett. Dank eines halbjährigen Stipendiums vom Bundesmusikfonds vollendete Goldschmidt bis Sommer 2021 den fünften Akt. Wie die Einzelstimmen der Ensembles stehen die solistischen Interludien für Isolation, Vereinsamung und Kommunikationslosigkeit. Simultanaufführungen getrennt komponierter Stücke gibt es schon bei John Cage. Größere Ähnlichkeit zeigt Goldschmidts Konzept indes zu den Ideen eines „Poly-Werks“ bei Claus-Steffen Mahnkopf oder der „Poly-Form“ bei Robert HP Platz, wo getrennt komponierte Solo- oder Kammermusikwerke für ihre Verbindung zu Ensemblepartituren noch einmal eigens kollationiert und harmonisch angepasst werden.

Im ersten Akt „...pedazos de rossitros...“ kreisen die Einzelstimmen scheinbar autonom und unkoordiniert um sich selbst. Flöte (auch Alt- und Bassflöte), Bassklarinette, zwei Violinen, Viola, Violoncello, Schlagzeug und Klavier haben alle jeweils andere Metrik, Tempi und Ausdrucksanweisungen. Dennoch bildet ihr vermeintlicher Solipsismus immer wieder wechselnde Formationen von Duos, Trios, Quartetten und Ensembletutti. In der Summe entstehen meist flächige Texturen und statische Klanglandschaften, die nur stellenweise dynamische Prozesse hervortreiben und zu anderen Situationen führen. Bei aller Polyphonie entfaltet die Musik eben jene düstere Lethargie und Monotonie, die Goldschmidt eigens intendiert. Die Partitur betont die Vereinzelung der Stimmen durch separierende weiße Flächen und verbindet sie zugleich stellenweise durch Pfeile, Linien und für alle geltende Zäsuren, so dass sie auch interagieren und Gemeinsamkeiten realisieren können. Die Komposition bietet ein Sinnbild der momentanen Situation der Menschheit und deren utopischem Potential; denn alle Stimmen sind so eigen, dass sie zusammen mit ihrer jeweiligen Andersheit – ob sie wollen oder nicht – ein Wir bilden, das sie nur erkennen müssen, um es gemeinsam zu gestalten.

Inhaltlicher Bezugspunkt ist der gleichnamige Roman „Eloy“ (1959)3 des chilenischen Autors Carlos Droguett. Der Roman stützt sich auf die realen Begebenheiten des zwanzigfachen Mörders Eloy im Jahr 1941 und besteht aus dem unablässigen inneren Monolog des von der Polizei gehetzten Banditen. Dessen Gelüste, Ängste, Phantasien, Überlegungen, Assoziationen, Gefühle und körperlichen Zustände entfalten sich angesichts seines erhofften Entkommens oder möglichen Todes auf hundertfünfzig Seiten als endloser Sprachstrom von Augenblick zu Augenblick. Permanent werden vergangene Ereignisse erinnert, gegenwärtige geschildert, zukünftige ersehnt oder befürchtet. Als Droguett nach dem Militärputsch 1973 Chile verlassen musste, arbeitete er den Roman im Exil um. Die Zweitfassung von 1982 forciert die Zeitsprünge und verzichtet fast gänzlich auf Interpunktion, so dass sich die Erzählung zu einem albtraumhaften Redeschwall wie im Fieberwahn verzerrt. In dieser Version wurde das Buch in Chile bekannt, und so hat es auch Goldschmidt kennengelernt.

Ich habe die erste Seite des Romans gelesen und wusste: Das ist mein Stück! Aber ich konnte den Roman nicht zu Ende ­lesen. Ein Jahr lang habe ich immer wieder von vorne angefangen. Die Art der Erzählung konfrontiert uns Leser mit uns selbst, weil wir weder auf der Seite von Eloy sind noch auf der seiner Verfolger. Wir müssen uns die Frage stellen, wie es mit diesem Menschen so weit kommen konnte, dass er für die Gesellschaft wirklich das Böse verkörperte. Dennoch können wir nicht sagen, dass unsere Gesellschaft perfekt sei und solche ­störenden Personen einfach ausradieren müsse. Eloy ist ein Resultat der sozialen Verhältnisse und Gewalt. In den ersten drei Jahren habe ich versucht, eine Oper daraus zu machen, dann hatte ich ein Orchester- und ein Ensemblestück im Sinn. Schließlich habe ich alles verworfen und im Unterricht mit Johannes Schöllhorn überlegt, dass ich alles aus dem Geigensolostück „Semikolon“ entwickle, das vierundzwanzig Teile hat, jeder mit einem eigenen Tempo und Charakter, wie die Explosion einer eigenen, lebendigen Geschichte. Und weil es im Roman „Eloy“ kein Semikolon gibt, habe ich zunächst auch alle weiteren Solostücke mit „Semikolon 2, 3, 4“ et cetera nummeriert, bevor ich ihnen andere Titel gab.

Wie die allzeit gegenwärtigen Gedanken des gejagten Eloy besteht Goldschmidts Musik aus einer Verkettung vieler einzelner Augenblicke ohne kausallogisches Vorher und Nachher. Der Gesamtverlauf entfaltet eine zeitliche Linearität, die nicht wirklich voranschreitet, sondern in der Ausschließlichkeit der gereihten Jetzt-Momente stillsteht und den Eindruck von Lähmung und Hilflosigkeit vermittelt: rasender Stillstand. Neben dem unmittelbar expressiven Strom der Sprache war für Goldschmidt auch wichtig, in der materiellen und geistigen Armut der Romanfigur das Schicksal zahlloser Menschen überall auf der Welt anklingen zu lassen, die ohne eigenes Verschulden in Mangelsituationen leben, ausgeschlossen von Gesundheit, Ernährung, Recht, Sicherheit, Wohlstand, Bildung, Kultur, sozialer Teilhabe und politischer Mitbestimmung.

Die ursprüngliche Bezeichnung „Musiktheater“ ist irreführend, weil „Eloy“ keine Handlung erzählt und nicht gesungen wird. Die Überlegung, die Sprechpartie mit einem Schauspieler in die Szene zu integrieren und vielleicht sogar noch eine Vokalpartie zu komponieren, hat Goldschmidt bisher nicht umgesetzt. Die später gewählte Bezeichnung „Instrumentales Monodram“ akzentuiert den Umstand, dass die Musikerinnen und Musiker alle für sich monologisieren, ohne Adressaten und ohne wirkliche Kommunikation untereinander, ohne gehört zu werden und selber andere zu hören. Alle sind in ihren verschiedenen dramatischen Erzählungen und Selbstgesprächen allein. Diese bedrückende Einsamkeit und Verlassenheit inmitten der Gesellschaft entspricht dem beklemmenden Sujet des Romans und dem Schicksal vieler sozial deklassierter Menschen. Zugleich versinnbildlicht es die einsame Masse der digitalen Medien- und Informationsgesellschaft, in der dank Internet und Social Media niemand mehr bloß Empfänger ist, sondern alle selber auch Sender, Selbstdarsteller, Blogger, YouTuber, Influencer sind. Alle senden, doch niemand hört mehr anderen zu.

Eine bildlich-atmosphärische Erweiterung erfährt die Musik durch ein Schwarzweißvideo von Nicolas Ruprich, das in großformatiger Projektion zeitweilig ein- und ausgeblendet wird. Extrem verlangsamte Kameraschwenks zeigen winterlich kahle Bäume, schwarze Wasserflächen, Schlamm, totes Holz, faulendes Laub. Ohne aktionistische Bilderflut und episch-dramatische Verlaufsform wird das Publikum durch menschenleere Videoszenen und zuweilen aus dem Off rezitierte Textfragmente von Guillermo Rivera allenfalls lose angeregt, das Sichtbare mit dem Hörbaren und dem inneren Monolog des Romans zu verbinden. Vor allem stark verlangsamte Videos zäh fließenden Wassers stehen für depressive Lähmung, Alleinsein, Kälte, Unbehaustheit, Tod und Vergänglichkeit, wie bei einer barocken Allegorie: vanitas vanitatum. Zugleich symbolisieren die Videos die Augenblickshaftigkeit der Monologe von Roman und Musik. Schon Heraklit sah alles in ständigem Fließen: „Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss.“ Nichts bleibt es selbst, alles verändert sich, Identitäten lösen sich auf, verlieren sich, hybridisieren sich, pluralisieren sich.

Allgemein menschlicher Wandel

Seit 2021 planen Goldschmidt, Lautaro Mura und der chilenische Komponist Christian Vásquez Miranda für das Kommas Ensemble eine Reihe von Konzerten, die einen kulturellen Wandel befördern sollen. Die drei Chilenen haben den Eindruck, dass die Musikszene in Deutschland zu sehr damit beschäftigt ist, tolle und „coole“ Musik zu machen, sich aber kaum fragt, wie man sich als Künstlerin und Künstler zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen positionieren und was man selber machen kann angesichts von Klimakrise, Ressourcenverbrauch, dem Vormarsch autoritativer Staatsformen und der ungleichen Verteilung von vierundachtzig Prozent des gesamten Nettogeldvermögens der Welt auf die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung beziehungsweise umgekehrt ausgedrückt des Umstands, dass neunzig Prozent der Weltbevölkerung mit gerade einmal sechzehn Prozent des Weltvermögens auskommen müssen.

Der Standpunkt heute ist anders als 1968, als linkspolitische Komponisten noch dachten, sie könnten gewinnen. Heute sind eher wir die Verlierer. Es geht daher mehr um „compas­sion“, um Mitleid, um Vernetzung zwischen den Menschen: Wie treffen wir uns, und bilden wir eine Familie? Das Ziel ist ein allgemein menschlicher Wandel. Wir müssen auf die anderen sehen und von anderen lernen, uns mit ihnen verbinden. Europa ist eine geschlossene Kugel, und draußen sind die Eloys, von denen man nichts weiß und mitbekommt. Wir müssen die Augen und Ohren aufmachen. Denn auch in Europa gibt es die Gefahr, dass die Freiheit, die wir momentan noch genießen, vielleicht in zehn Jahren durch eine neue Form des Faschismus abgelöst wird. Dann werden alle, die nicht zu uns gehören, die Eloys, vielleicht wieder ausradiert? Hier sehen wir in Zukunft verstärkt die Aufgabe des Ensemble Kommas. Wir möchten Komponistinnen und Komponisten aus verschiedenen Teilen der Welt in Deutschland vorstellen, die man hier überhaupt noch nicht kennt.

1Francisco C. Goldschmidt, „Wir sind die Unreinen
dieser Erde: Zu Fragen der Identität ,chilenischer‘ und ,latein­amerikanischer‘ Musik“, in: MusikTexte 168,
Februar 2021, 71–73.

2Das Gespräch fand am 4. März 2021 per Zoom statt. Daraus stammen auch alle weiteren Äußerungen des Komponisten.

3Carlos Droguett, Eloy, Deutsch von Helmut Frielinghaus, Frankfurt: Suhrkamp, 1966.