MusikTexte 176 – Februar 2023, 93

Kritik Kritik

Ein- und Ausdrücke zur „Zukunft der Kritik“

von Hanna Fink und Karl Ludwig

Common Ground

Der Kritiker [sic!] als Instanz einer potenziell gesamten Öffentlichkeit, als die Zeitungen noch die Welt darstellten und alle mit allen reden konnten – dieser Welt wird auf dem Kongress zur „Zukunft der Kritik“ im November 2022 immer wieder hinterhergeschaut und gar -getrauert.

Bloß der verlorene Common Ground war nie einer und das ‚Alle‘ des goldenen Diskurses in den Zeitungen war nie universal. Der Kritiker muss sich diese ­Krän- ­kung der Selbstliebe nun wohl oder übel eingestehen.

Über das Geld

Man lebt schlecht allein vom Kritisieren. Zu klein die Szene, zu groß das Establishment. Machtbeziehungen und -verstrickungen in der Neuen Musik sind üblich, unbequem und gleichermaßen unvermeidbar. Sie geben Einblick in das sich ständig reproduzierende System. Denn was ist der Preis eines gebildeten ästhetischen Werturteils – und für wen? Gibt eine Kritik nicht eigentlich mehr über die Kritisierenden als über die Kritisierten preis? Darum sind ‚Kritiker‘ der Neuen Musik im Grunde Chronisten und spielen angesichts der desinteressierten Masse der Gesellschaft gemeinsam das alte Spiel von der Relevanz und Wirkkraft der Neuen Musik.

Stilgemeinschaften

Globale Fangemeinschaften scheren sich nicht um Kritik. Diese ist in die esoterischen Ko- und Adhäsionskräfte einer homogenen Wertegemeinschaft inkorporiert. Übereinstimmung, Ablehnung und Sanktionierung sind kollektive Prozesse innerhalb der Gemeinschaften mit ihren Profilierungsdynamiken und Zugangsschranken. Solche Verkapselung wäre wohl kritikwürdig – wenn sie denn gehört würde. Doch: Ist ein Kongress der Bundeskunsthalle Bonn und Akademie der Künste Berlin, veranstaltet entlang der Boulevards des Establishments, mit den Ersten ihres Faches nicht eine einzige Verteidigung der sich auflösenden Kapsel unangefochtener Repräsentation eines humanistischen Werteclubs?

Politik

Musik kann kritisch sein. Schreiben über Musik kann kritisch sein. Schreiben über kritische Musik kann kritisch sein. Oder: werden. Alles kann kritische Praxis sein.

Musik kann politisch sein. Schreiben über Musik kann politisch sein. Schreiben über politische Musik kann natürlich auch politisch sein. Alles kann politisch sein, oder zum Politikum werden.

Musik kann politisch-kritisch oder kritisch politisch sein. Schreiben: ebenso. Schreiben über diese Musik kann kritisch und politisch sein. Oder eben unreflektiert, uninformiert, undifferenziert.

Geht das Politische in der Musik mit der Verpflichtung einher, kritisch darüber zu schreiben? Und: Was passiert, wenn die Musik keine Lust mehr hat, ­kritisch und politisch und praktisch und optional und funktional zu sein – man aber nicht aufhört, darüber zu schreiben?

Hermeneutik des Verdachts

Das Werturteil maß lange Zeit mit dem Band der Aufklärung, deren Kehrseite das falsche Bewusstsein war. Auch die Kunst musste sich dem Verdacht preisgeben, dem Widerstand untreu zu werden und verkappt der Barbarei Vorschub zu leisten. Kritik sah sich in der Aufgabe, hinter die Fassade zu blicken und die Form ihres doppelten Spiels zu überführen. Der Verdacht drängt sich beim ausbuchstabierten Widerstand aktueller Kunst nicht weniger auf. Doch macht sich Kritik damit nicht selbst zur Komplizin des Status quo? Ihr Stachel scheint so giftig wie die Interventionen der Aufklärung und seine Widerhaken schneiden ins eigene Fleisch. Heilung verspricht vielleicht eine andere Komplizenschaft, eine des Wohlwollens – die freilich damit auch ihren Stachel verliert. Die Form der Kritik, nicht ihr Inhalt, steht unter Verdacht.

Experten

Es sitzt in Bonn die Radioprominenz, geladen zum Sprechen, und erläutert nach langem Schweigen das Spannungsfeld von Musik und Sprache. Es tritt in Berlin der Komponist auf, geladen auf das Podium, und wird befragt zur Musikkritik. Es lauscht der Nachwuchs mit gespitzten Ohren und sieht seine Fragen noch in weiter Zukunft. Und spricht auch die Macht (das Radio) häufig in Zungen der Urheber, so weiß sie doch wohlfeil gefertigte Einblicke zu Gehör zu bringen. Und demonstriert die Musikkritik, Jung und Alt der schreibenden Zunft, auch vitale Anwesenheit, so hebt sich in geübtem Reflex der folgsame Blick zur selbstgewählten Deutungsinstanz auf dem Podium.

Inhaltismus vs Form

Seltene inhaltliche Kritik übte der Autor Senthuran Varatharajah, der in seinem Vortrag „Ein Text ist ein Gott in Trümmern“ die Gattung des Familienromans der reaktionär-nostalgischen Typisierung anklagt. Inhalt würde in die familientypischen Gefäße gefüllt, die Form erkalte in der süßen Betrachtung des Exemplars. Das Exemplarische sprengen, sich an den Kanten der Trümmer die Hände schneiden, Fleischwerdung der Form – sprengt die Kritik in die Luft!

Transversalität

Am Anfang muss die unbedingte Gefolgschaft stehen: Ich gehe mit! Ich stolpere über meine eigenen Erwartungen und schlage mir die Nase blutig. Action Paint­ing. Schreiben nur, um der Spur zu folgen, sie weiterzumalen. Sprache gegen den eigenen Strich bürsten, Grenzen durchkreuzen, Autorität unterwandern – zuallererst die eigene! Sich an jeder Wegkreuzung mitreißen lassen vom Strom aller Querlinien und die Verteidigung des Standpunkts glücklich aufgeben. Ergeben dem Widerhall des Ereignisses dienen, exemplarisch erleben, für dich proto­kollieren: ich schreibe, du schreibst, wir ­schreiben – écritique.

We might not be right

Sind Künste systemrelevant? Ja. Sind sie aber vielleicht im falschen System re­le­vant? Kunstpraktiken bekämpfen und konsolidieren Strukturen des Neokolonialismus und Kapitalismus. Gift und Medizin. Die Hoffnung: Künste als Avantgarde der Dekolonialisierung.

Doch Obacht: Die Praxis der Selbstbefragung hat insbesondere in Deutschland große Tradition. Ist die mitunter narzisstisch motivierte Selbstkritik mit ihrer eigenen Aussage, sie sei performativ, glaubwürdig? Rettet den Geist der Aufklärung vor den Europäern, sie können es zu gut. Nikita Dhawan: „You don’t decolonize the space here by inviting Nikita Dhawan to give the keynote”.

Der interdisziplinäre Kongress „Die Zukunft der Kritik“ fand vom 18.19. sowie 24.26. November in Bonn und Berlin statt. Mitschnitte der Vorträge und Podien sind online verfügbar. Die hier vorgestellten Texte folgen persönlichen Re­sonanzen und verstehen sich als Kommentar.