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ChatGPT, wie klingt zeitgenössische Musik?

Komponieren als Fenster zur Gegenwart. Die impuls Festival & Academy 2023

von Margarethe Maierhofer-Lischka


Einst ein Geheimtipp, hat sich die Grazer Biennale für zeitgenössische Musik längst zu einem Fixtermin für Neue-Musik-Fans gewandelt. Nach einer coronabedingten Pause und einer Edition unter immer noch erschwerten Bedingungen konnte impuls dieses Jahr wieder in gewohnter Weise stattfinden. Neben dem Veranstaltungsprogramm gab es auch wieder eine Akademie für junge Musikerinnen und Komponistinnen: Das Labor für zeitgenössische Musik lockt alle zwei Jahre gut 150 junge Menschen aus mehreren Kontinenten für eine zweiwöchige Arbeitsphase in die steirische Kulturmetropole. Die Akademie bietet neben Einzelunterricht für junge Komponistinnen viele Spezialworkshops und andere Gruppenprojekte und ist in das dichte und vielfältige Konzert- und Veranstaltungsprogramm eingewoben. „Ich finde impuls spannender und produktiver als die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik,“ bekennt eine Teilnehmerin, „weil wir wirklich intensiv zum Arbeiten kommen. Da das Festival nicht so groß ist, können wir alle einander kennenlernen und es findet ein sehr intensiver Austausch statt.“


War die Neue Musik ähnlich der Klassik lange Zeit als Männerdomäne bekannt, spiegelt sich der Wandel und die Vielfalt der Rollenmodelle inzwischen auch in der Tutorinnenschaft der impuls Academy und erst Recht auf den Bühnen des Festivals: Neben etablierten Größen der internationalen Neue-Musikszene wie dem Quatuor Diotima und dem Klangforum Wien fokussierte das Festivalprogramm diesmal vor allem zeitgenössische Musik von jungen Musikerinnen aus Österreich und Deutschland. Das Grazer Ensemble Schallfeld [die Autorin ist Kontrabassistin des Ensembles], ein Kammermusikkollektiv bestehend aus ehemaligen Studierenden des Klangforum Wien, bestritt als Ensemble in Residence das Eröffnungskonzert und öffnete mit Stücken von Francesca Verunelli, Brian Ferneyhough, Elena Rykova, Francesco Filidei und Dmitri Kourliandski ein breites Panorama an Klangnuancen. Ebenso als Resident-Ensemble dabei war das Black Page Orchestra aus Wien, eine Gruppe, die sich auf Crossover-Programme am Schnittpunkt von Neuer Musik, Jazz, Noise und Elektronik konzentriert. Mit airborne extended und between feathers waren zwei Kollektive vertreten, die Neue Musik als Spiel mit historischen wie modernen Klangmitteln sowie als intermediale Aktion definieren.


Vom musikalischen Spaziergang über Interventionen im öffentlichen Raum bis hin zum DJ-Set im Club: das Festivalprogramm ist bunt und enthält viele niederschwellige Angebote zum Vorbeiflanieren und Sich-neugierig-machen-lassen. Auch wenn das Festival, allein schon durch die Wahl der Locations, nicht auf ein Massenpublikum abzielt, zeigt die positive Entwicklung über die letzten Jahrzehnte, dass zeitgenössische Musik längst nicht mehr ein Randgruppenphänomen und Elfenbeinturm ist, sondern vor allem bei jungen Menschen auf offene Ohren stößt, weil sie ähnlich wie die bilden Kunst eng an aktuelle gesellschaftliche Themen geknüpft ist. Sowohl die Schwerpunktsetzungen der öffentlichen Konzerte als auch das pädagogische Angebot der Academy – Workshops, Spezialprogramme und Sonderprojekte – spiegeln ästhetische, technische und politische Diskurse und Wandlungen wider. So sind über die letzten Festivaljahre hinweg vermehrt offene Formate präsent, in denen sich Komposition und traditionelles Musizieren mit Performativem und theatralen Elementen mischen. Auch das Angebot an Konzerten und Unterricht zu elektronischer Musik und Multimedia ist gewachsen. Kaum ein Konzert kam dieses Jahr ohne elektronische Klangkomponenten aus. Themen wie das Arbeiten mit KI oder die Auseinandersetzung mit Virtual Reality fließen selbstverständlich ein. „ChatGPT, wie klingt Neue Musik?“ könnte als Ausgangsfrage hinter so manchem Stück (und seinem Programmtext) stehen.


Neben der Auseinandersetzung mit digitalen Medien und Technologie ist jedoch auch das Bedürfnis nach Begegnungen im realen Raum jenseits der digitalen Sphäre spürbar. Ein besonderes Projekt dazu ist „In-Situ. City“ des europaweiten Ulysses Network. Dabei erkunden junge interdisziplinäre Teams den urbanen Raum mehrerer europäischer Großstädte und spüren in kollektiv gestalteten szenisch-musikalischen Performances dem genius loci dieser Orte nach. In Graz öffnete das Forum Stadtpark, einer der wichtigsten und traditionsreichsten Austragungsorte für aktuelle Kunstpraxis, sein Hausarchiv als Inspirationsquelle für vier Komponistinnen. Georgia Koumará, Mauro Hertig, Loïc Destremau und Julian Siffert nahmen gemeinsam mit dem Kölner Ensemble hand werk das Publikum mit auf eine Reise durch das ganze Haus vom Keller bis zum Dach und verwoben Audioaufnahmen aus dem Archiv mit Interviews mit Künstlerinnen zu vier musikalisch-performativen Tableaus: im Keller eröffnete ein Noise-Act den Abend, dann ging es in die nebelgefüllte Halle im Erdgeschoss, wo sich aus losen Klangtupfen und rhythmischen Elementen allmählich eine musikalische Aktion generierte. Im Gänsemarsch geleitete das Ensemble die Besucherinnen weiter, bis sich die Pforten des Hauses zum Park öffneten und das Schlussbild vor dem Gebäude eine Gesamtsicht freigab. „In-Situ. City“ ist musikalische Aktion zum Mitgehen, manchmal zum Eintauchen, aber auch zum Sich-treiben-lassen und Mit-Schauen. Zeitgenössische Musik, so die Botschaft hinter diesem und auch anderen Projekten, greift längst über das rein Musikalische hinaus – Musik kann zum Raumelement werden, zum Ambiente oder zum visuellen Vorgang, zum Hörereignis oder zur zufälligen Geste eines Anwesenden in einem Raum. Auch das Projekt „translucent spaces“ unter der Leitung von Klaus Lang erkundete die Grenzflächen zwischen öffentlichem und ästhetischem Raum. In mehreren spontanen Pop-up-Aufführungen wurden öffentliche Plätze und Orte in der Stadt bespielt. Wer es nicht wusste, bekam oft gar nicht mit, dass hier Kunst passierte, so beiläufig und subtil fügten sich die Aktionen ins Treiben der Grazer Innenstadt. Ein weiteres Highlight des Festivals war der Galerierundgang mit Musik, der gleichzeitig auch eine Schau in die Werkstatt der impuls-Kompositionsstudierenden bot. An einem Wochenendtag öffneten zahlreiche freie Kunsträume in Graz ihre Pforten für Kurzkonzerte, in denen junge Ensembles Stücke zu Gehör brachten, darunter zahlreiche Uraufführungen von impuls-Teilnehmerinnen und Repertoirestücke des 20. und 21. Jahrhunderts.


impuls ist eine Einladung zum Schlendern, Schauen und Hören, zum Genießen von Klang und Umfeld. Dass Neue Musik hier bunt, lebendig und „in situ“ daherkommt, ist nicht nur kuratorische Absicht der Leiterin Ute Pinter, sondern spiegelt auch das Lebensgefühl der Stadt, wo bon art de vivre und Kultur zusammengehören. Also auf jeden Fall vormerken für einen Ausflug in 2025!