Karte, Uhr und Partitur, 344–345

Musik der Migration


Karte und Uhr halfen den heutigen Nationalstaaten und ihrer Musik, das zu werden, was sie sind – Festungen, die sich gegen Migration wehren. Wer im Nationalstaat sitzt und diesen gut findet, der weiß immer, was auch für den, der von außen kommt (falls man ihn reinlässt), gut ist. Die Feindseligkeit beginnt an der Grenze, die mithilfe einer Karte gezogen wurde.

Zwar redet alle Welt (gemeint ist die westliche) davon, dass Musik eine universelle Sprache sei, die Wirklichkeit sieht aber klare nationalstaatliche Grenzen für Musiken vor. Das westliche Orchester, das zwar ein hybrides Resultat vieler Kulturen ist, ­vergisst diese Hybridität gern und stellt sich feindlich mit einer Art Immigration Act gegen ­andere Kulturen. Das bedeutete auch lange, dass Frauen nicht mitspielen durften. Asiatische Leute fanden zwar schnell Zugang in die Orchester, aber nicht das Asiatische. Es ist wirklich undenkbar, dass beim Neujahrskonzert im Goldenen Saal des Wiener Musik­vereins irgendein iranisches oder afrikanisches Instrument und ein entsprechender Spieler auftauchen könnte, außer er /es würde sich selbst gleich als Exot ausgeben oder also Kuriosum, um gleich als solches abgetan zu werden. Der Asiatic Barr Zone Act gilt nicht den asiatischen Musikern, aber der asiatischen Musik. Asiaten sind inte­grierbar, ihre Musik (falls die Leute aus Asien sie je erlebt haben, weil inzwischen auch Asiaten meist mit westlicher Musik aufwachsen) – zumindest im klassischen Kontext – ist es nicht.

Musik als Universalsprache behauptet das allgemeine Menschenrecht, Musik in der Praxis ist leider oft genauso rassistisch und exkludierend wie die restliche Welt. Die Partitur ist selbst so ein Nationalstaat, der anderes ausschließt. Hier kommt nur hinein, wer die internen Regeln akzeptiert und beherrscht. Eine Musik, die Austausch und Wanderung pflegt, kann nicht in Partitur notiert werden. Notation ist Fixierung und Grenzziehung.

Ja klar, alle verteidigen die Komplexität der Partitur, ihre Schwächen und Verschlossenheit, ihre inhumane Seite beklagen sie allerdings nicht. Es gilt (oder galt zumindest noch bis gestern) Das Werk, Das Ganze, Das geschlossene Werk – worauf Lydia Goehr in ihrem 1992 erschienenen und erstaunlicherweise (oder nicht erstaunlicherweise) bis heute nicht ins Deutsche übersetzten Buch „The Imaginary Museum of Musical Work“ eindrücklich hinweist.

Die Partitur ist wie der Nationalstaat, sie ist Nationalist und Internationalist zugleich. Denn Internationalismus geht nur, wenn es Nationalismus gibt. Das Internationale gibt es nur, weil es Nationen gibt. Und die Trennlinien, die das Überschreiten nationaler Grenzen und damit Internationalismus erlauben, sind sehr differenziert. Verschiedene Leute haben verschiedene Möglichkeiten. Ein deutscher Pass macht es bedeutend ­leichter als einer aus Taiwan oder aus dem Sudan. Das Gleiche gilt für den Zugang zu Partituren: Deutsche haben es da leicht, Taiwanesen können es schaffen, Sudanesen haben kaum eine Chance.

Eine der Hürden ist die berühmte Aufnahmeprüfung an Hochschulen (Wir wollen nur die Besten!“). Tonsatz, Choral, Gehörbildung und Sprachtests sind unter anderem die border controls des musikalischen Nationalstaats, für den die Hochschulen stehen. „Hier wird deutsch gesprochen“ – das erlaubt manchem Hochschullehrer, sich wie ein Hüter des heiligen deutschen Musik-Grals zu gerieren – aber das ist leider musikalischer Stammtisch.

Wir sitzen in der Trennungsfalle von Das Eigene und das Fremde oder des Wir und die Anderen. Mit Bedacht werden die Pronomina Wir und die Anderen unklar definiert, weil einerseits nicht feststeht, wer Wir eigentlich sind und andererseits die Anderen möglichst obskur und ungreifbar wirken sollen, damit sich das Ablehnungsgefühl leichter entwickeln kann. Wüsste man, wer die Leute im Einzelnen sind, wie sie heißen und was sie machen, dann wäre es weit schwieriger, sie als die Anderen abzutun.

Auffälligerweise gibt es kein Antonym zu fremd. Was könnte das sein, bekannt? Oder doch das Eigene? Ist es ein Zufall, dass das Eigene einen Besitzstand markiert, das worauf wir sitzen? Es gibt die Fremde und dazu die Heimat, aber zum Fremden gibt es kein Gegenüber. Der Fremde ist immer der Andere, der draußen ist, was bedeutet, dass wir in einem Drinnen sitzen, das wir verteidigen. Wer hat uns eigentlich das Recht dazu gegeben? Wir – wer auch immer das sei – unterstellen den Anderen, dass sie einfach nur anders sind, irgendwie stumm. Die Griechen waren da noch ein bisschen netter, die kannten die Barbaren und die redeten wenigstens, wenn auch unverständlich.

Nun gibt es noch jemanden außer denen, die entweder drinnen oder draußen sitzen, jemand, der die Teilung fremd-eigen grundsätzlich in Frage stellt – den Migranten. „The migrant is neither citizen nor alien.“ Und: „The migrant is indefinable because, in her threatening, out-of-place position, she breaks apart boundaries.“ Beide Zitate finden sich in Donatella di Cesares „Resident Foreigners“.

Wenn wir die Musik der Zukunft suchen wollen, dann muss es eine Musik der ­Migration, also auch eine Musik von Migranten, in migrantischem Geist (wenn man so sagen kann) sein. Wenn wir noch Musik erfinden wollen, die nicht in alten Fallen ­gefangen bleiben will, müssen wir auf die eine oder andere Art selbst Migranten werden. Die Musik der Zukunft, ganz anders, als Richard Wagner sich das vorgestellt hat, wird keine Musik der Scholle sein, sondern die Musik der Migration, eine prinzipiell migrierende Musik.