MusikTexte 1 – Oktober 1983, 12–16

Etwas gegen die Gedächtnislosigkeit tun

Klaus Huber im Gespräch über „ERNIEDRIGT, GEKNECHTET, VERLASSEN, VERACHTET

mit Reinhard Oehlschlägel

Wie bist du zu dem Stoff, wie zu dem Stück, wie zu dem Ganzen gekommen? Ich meine, das ist so etwas, das über den herkömmlichen Stückbegriff doch hinausgeht. Zum Beispiel das Erste, was du komponiert hat, ist dieser „Senfkorn“-Abschnitt, in der Komposition der fünfte?

Ja, das ist richtig.

... und ist dieser erste Abschnitt eigentlich zunächst für sich entstanden, oder ist der schon entstanden in Hinsicht auf dieses ganze Stück?

Es war eigentlich ein ziemlich spontaner Entschluss, etwas zu schreiben, dieses kleine Stück „Senfkorn“ zu schreiben, mit der Knabenstimme, und an dem habe ich ja auch nichts mehr verändert. Das war meine erste kompositorische Auseinandersetzung mit Texten von Ernesto Cardenal. In der Zwischenzeit habe ich mich noch mehrfach mit Cardenal-Texten befasst, in einem kleinen Stück für Cello und Klavier, „Lazarus“, einem zweiteiligen Stück, dem ich einen Text von Cardenal über die Armut aus dem „Buch der Liebe“, einem seiner frühesten literarischen Erzeugnisse, zugrunde gelegt habe.

In „Lazarus“ habe ich mir dann gesagt, jetzt gehe ich einen Schritt weiter, ich lasse den Text, den konzeptionellen Text ganz beiseite, aber ich verlange, dass anstelle einer Programmnotiz dieser Text dem Hörer des Stücks zugänglich ist. Im normalen Konzertbetrieb gibt es doch eine Programmnotiz, wo man eine Erklärung zum Stück abgibt. Oder eben einen Handzettel. Es gab einen kleinen politischen Skandal bei der Überreichung des Kunstpreises der Stadt Basel, wo man „Lazarus“ gern spielen wollte, weil es kurz ist und nur zwei Leute braucht. Dort wurde mir dann gesagt, diesen Text könnten sie nicht abdrucken, der sei politisch, und außerdem erklärte man mir, dass Cardenal sich täusche, dieser Text sei falsch. Und es musste dann der Text verlesen werden. Also die Idee, durch einen Text ein sattes Publikum doch in einer gewissen Weise zu provozieren, ist nicht so schlecht. Das ist eine arme Musik, die ziemlich bröckelnd und im zweiten Teil dann mit einer gewissen Atmosphäre verbunden ist. Der arme Lazarus ist jetzt im Himmelreich, und der Reiche ist im Fegefeuer und sagt: „Wenn er mir doch mit einem Tropfen Wasser die Zunge netzen würde“, aber er kann nicht hinüberreichen. Der zweite Teil bringt dann so klangliche Brosamen, so dass er vielleicht ein bisschen in der Art des sechsten Teils von „ERNIEDRIGT …“, eine Musik der Hoffnung ist. Und da ich annehmen kann, dass ein Konzerthörer sich unter Umständen bei einem solchen Stück langweilt, habe ich gesagt, wenn er sich langweilt, kann er ein bisschen in den Texten lesen. Dann habe ich auch noch „Beati Pauperes“ geschrieben, wobei ich in „Beati Pauperes II“ Ausschnitte aus Cardenal-Gedichten genommen habe, ganz kurze Ausschnitte, und in „Beati Pauperes I“ von Texten ganz abgesehen habe.

Wie liegt denn die Reihenfolge der Konzeption des Stücks selbst? Hast du dich da erst herangetraut, nachdem man irgendwo eine Aufführung oder eine Auftragssituation absehen konnte, oder ist das aus diesem „Senfkorn“-Ansatz sozusagen herausgewachsen?

Nein, es ist eigentlich nicht aus dem „Senfkorn“-Ansatz direkt gekommen. Das „Senfkorn“ kann man ruhig zunächst einmal als ein Einzelstück beiseite lassen, das –da es da war – mich dann erst wieder im Zusammenhang mit dem gesamten Konzept beschäftigt hat. Aber der Auslöser zu dem Stück hier war eigentlich der sandinistische Befreiungskampf einerseits, und dann vor allem die somozistische Repression Herbst 1978, wo es ja so aussah, als wenn alles auf Jahre hinaus zerschlagen wäre, mit unheimlich vielen toten Jugendlichen, also so ein Herodes, der die ganze jugendliche Bevölkerung einfach über den Haufen schießen lässt. Und da hatte ich einen solchen Zorn. Und aus Empörung über diese Vorgänge habe ich damals den Donaueschinger Auftrag für ein Orchesterwerk fahren lassen. Ich wusste einfach, ich kann das nicht schaffen. Ich habe für Studenten ein Stück geschrieben, das heißt: „Ich singe ein Land, das bald geboren wird“. Es enthält keine Texte von Cardenal außer diesem Zitat, das ich im siebten Teil von „ERNIEDRIGT …“ komponiert habe, das für siebzehn Musiker geschrieben wurde und eigentlich eine erste Komposition der Teile vier und sechs bedeutet. Dieses Stück haben wir dann in Genf uraufgeführt. Es wurde auch in Solidaritätsveranstaltungen in der alternativen Szene gespielt von jungen Berner Musikern gespielt, in einem Solidaritätsabend für El Salvador. Das hat mir damals sehr viel bedeutet, dass diese Leute, also engagierte junge Musiker das wirklich lange vorbereitet und außerordentlich gut gespielt hatten. Und die jungen Leute, die da kamen, waren überhaupt nicht auf so etwas vorbereitet und hatten noch nie so etwas gehört. Der Dirigent hatte gewisse Bedenken, ob die sich das jetzt anhören würden. Die Musiker hatten sich kreisrund aufgestellt, also ein bisschen anders, als ich dachte. Es war dann wahnsinnig voll in dem alternativen Jugendtreffpunkt in Bern. Dann kamen die und setzten sich mitten in den Kreis hinein, unwahrscheinlich konzentrierte Hörer waren das. Vor allem auch beim sehr leisen zweiten Teil war das schon ein Publikum, das etwas mitgekriegt hat. Und das hat mir dann auch den Rücken irgendwie gestärkt, dass es nicht ganz sinnlos wäre, jetzt einfach etwas zu machen. Jedenfalls war mein Anliegen, keine hermetische Musik zu machen, wohl schon eine Konzertsaalmusik durch die Ansprüche, die diese Musik stellt, aber möglichst auch zu sehen, dass diese Musik ganz spontan ist. Ab Juli 1979 war es für mich klar, jetzt geht es los. So war auch diese Sache mit dem Auftrag in Holland plötzlich wieder aktuell geworden, wo ich etwas ganz anderes versprochen hatte, nämlich ein oratorisches Werk über Texte der Bergpredigt, allerdings auch mit zeitgenössischen Texten darin, und wo ich dann sagte, ich wäre jetzt nicht imstande, so etwas zu machen, ich würde ihnen das in veränderter Weise vorschlagen.

Kannst du etwas sagen, wie es überhaupt zu dem Kontakt zu Cardenal gekommen ist.

Es ist sicher richtig, dass durch Cardenal mein Interesse an Zentralamerika sehr stark zugenommen hat, natürlich durch die Beschäftigung mit seinen Texten. Ich habe Cardenal ja diesen Sommer in Zürich und Bern zum ersten Mal persönlich getroffen. Vorher hatte ich zwar ein paarmal Briefe geschrieben oder über den Verleger Kontakt gesucht, aber der erste Kontakt war ziemlich anders. Das habe ich ihm auch erzählt, das hat ihn interessiert. Das war ein Buch. Ich hatte in dem Schallplattentext zu „Inwendig voller Figur“, also in diesem Text „Wo ist Zukunft“, am Schluss geschrieben: „... God will destroy those who destroy the earth ...“ (das ist ein Zitat aus der Apokalypse).

Ich glaube daran, daß die junge Generation, die ganz Jungen, am ehesten versuchen, affektiv mit dieser extremen Bedrohung zu leben. Ihre sehr direkte Sehnsucht nach Frieden, die sich nicht auf Umwege einläßt, ihre Feindschaft gegen alles, was Krieg heißt und nach Kriegshandwerk riecht; ihr primäres Mißtrauen gegenüber dem Etablierten, das schon viel zu lange stillsitzt, um den Anspruch auf Not-wendende Veränderungen noch glaubhaft vertreten zu können, ihre Ablehnung aller repressiven Machtballungen; ihre kategorische Weigerung, menschliche Unterschiede der Rasse, der Geburt oder des Standes anzuerkennen – positiv ausgedrückt: ihr Lebensgefühl der Brüderlichkeit; und selbst ihre Hinneigung zur Armut, im Sinne einer neuen Armutsbewegung, durchaus vergleichbar mit jenen großen Bewegungen des zwölften Jahrhunderts, die von Italien ausgingen und dem mittelalterlichen Feudalismus einen Stoß zu versetzen immerhin die Kraft besaßen: Dies alles hängt aufs engste gerade damit zusammen, daß diese Jungen versuchen, affektiv mit jener Bedrohung zu leben. Man mißverstehe es nicht als Arroganz – es ist nur ein persönliches Bekenntnis zu einem verwandten Glauben –, wenn ich mir erlaube, hier zum Schluß die Worte eines lateinamerikanischen Dichters zu zitieren, jenes Ernesto Cardenal, Revolutionär der frühen fünfziger Jahre, damals mit der Waffe in der Hand gefangen, gefoltert (das meinte ich damals noch), Verfasser weltberühmter südamerikanischer Psalmen, später – als Pazifist – sich ausschließlich sozialen und karitativen Aufgaben zuwendend. „Die Politik geht mich immer an. Aber ich sehe sie mit anderen Augen als früher.“ Und weiter: „Der Künstler war immer vollkommen in die Gesellschaft integriert. Aber nicht in die Gesellschaft seiner Zeit, sondern in jene der Zukunft. Der Künstler, der Dichter, der Gelehrte und der Heilige sind Mitglieder der Gesellschaft der Zukunft, welche bereits wie im Keim auf dem Planeten existiert, wenn auch zerstreut – unabhängig von Teilungen der politischen Geographie – in kleinen Gruppen, in Einzelnen, von Ort zu Ort. Als Dichter – in dem Maße, in dem ich Dichter bin –, als Priester, der ich zu sein versuche, und als Pazifist bin ich christlicher Anarchist und Ghandist; in der Politik fühle ich mich gut in diese Gesellschaft integriert, die die Zukunft näherbringt und den Prozeß des Fortschritts so schnell wie möglich vollbringen will – gegen die rückständigen Mächte.“

Und hier habe ich nicht angegeben, woraus ich das Zitat hatte. Das war ein Buch eines Jesuiten, der Galli heißt, ein Buch über Franziskus.

Der wiederum Cardenal zitiert.

Der dort Cardenal zitiert, „Gelebte Zukunft“ heißt das Buch. Er versucht also, den franziskanischen Grundansatz durch die Jahrhunderte zu verfolgen, jetzt nicht im stur franziskanischen Klostersinn, sondern das Denken, das sich daraus entwickelt hat. Ich hatte mich immer mit Franziskus beschäftigt und Cardenal sicher auch.

Für einen Künstler in einer zivilisierten Welt, wie das heutige Europa mit den ganzen Weltproblemen, die er kennt, was soll das überhaupt? Ich kann sagen, dass diese Schreibhemmungen schon auch mit der Frage zusammenhängen, was soll das Kunstwerk in einem solchen Dreck? In der Hinsicht, würde ich sagen, können wir schon von Lateinamerika lernen. Insbesondere habe ich persönlich von Ernesto Cardenal viel gelernt, der nach wie vor dichtet, weniger dichtet als vorher, aber der diese Problematik nicht in einem banalen Sinne aufgelöst hat, indem er lediglich funktionale Dichtung schreiben würde, sondern der die beiden Dinge eben zusammenbiegt oder zu einem Ganzen bringt.

Seine Mittel sind dabei relativ unaufwendig, ich meine jetzt nicht die sprachlichen Bilder, nicht den traditionellen Hintergrund oder die Hintergründe, das sind ja doch wohl mehrere. Es ist Papier, und es sind Buchstaben.

Ja, das würde ich natürlich glatt bestreiten, das ist die Situation des Dichters gegenüber der Situation des Komponisten. Ich würde sagen, das finde ich eben erstaunlich. Cardenal hat ja auch immer Ezra Pound verteidigt, wenn man ihn in ein schiefes Licht stellen wollte: Warum er denn gerade ausgerechnet bei dem anknüpft und so. Er schreibt ja nun wirklich keine außerordentlich einfache Literatur. Er schreibt aber auch keine hermetische Literatur, und das ist ein Unterschied. Ich würde schon sagen, dass die Entscheidung, ob man nun komponiert oder dichtet, wohl eine Entscheidung ist, aber ich glaube, die Problematik bleibt für uns in Europa zumindest etwas die gleiche. Ich finde es natürlich ganz auffallend, dass die traditionelle Komposition, wie sie zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, oder sagen wir einmal 1950, vielleicht in Europa entsteht, also die Möglichkeiten der Komposition überhaupt, keinen Sinn haben für ein Land wie Nicaragua, das ist sonnenklar. Die werden Gitarrekompositionen machen. Kuba ist in dieser Hinsicht schon einige Schritte vorangekommen, aber es hat eine andere Optik.

Insofern ist es keine paradoxe Situation für dich, dass du insgesamt ein Stück geschrieben hast, das sich etwa an dem Ort der Handlung, sozusagen an einem seiner Orte – es hat mehrere –, ich will nicht sagen, nicht aufführbar wäre, aber zunächst einmal von den vorhandenen Mitteln dieses Landes her nicht, jedenfalls nicht in einer Aufführung reproduziert werden kann. Natürlich, wenn es einmal aufgeführt ist, kann es auch dort gehört werden.

Ja nun, dort haben sie gesagt: Ja, wir werden das senden. Da habe ich gesagt: Überlegt euch das, das ist vielleicht gar nicht unbedingt wichtig. Wartet besser auf den Film. Aber ich sehe darin keinen Widerspruch, weil – das habe ich ja auch gesagt –, ich ein europäischer Komponist bin. Es sind verschiedene Probleme in dem Stück angegangen. Es ist ja nicht ein Stück, das sich einfach nur mit der Dritten Welt auseinandersetzt, wo ich mich jetzt mittels Folklore oder dergleichen anbiedern würde. Das würde ich dann eher als verfehlt ansehen. Das finde ich, müssten die Leute an Ort und Stelle tun, denn dazu bin ich auch nicht berufen. Da müsste ich dann erstmal ein paar Jahre dort leben, wenn ich so etwas ernsthaft angehen möchte. Die Paradoxie besteht eher darin, dass man hier im Allgemeinen nicht hören will. Die Paradoxie besteht dann darin, dass man hier noch eher hört, wenn etwas eine gewisse materielle Größe annimmt. Also betreffend Ausdehnung, betreffend Besetzung, betreffend Aufwand. Aber das ist sicher nicht der Grund, warum ich das so gemacht habe. Ich meine, das ist eine Nebenbemerkung. Unsere Situation ist wirklich, dass wir entweder fast verstummen oder dann schreien, und dass man mit mezzoforte oder mezzopiano nichts mehr erreicht.

Das erinnert mich ein wenig an Vorstellungen der Negation von Stilbegriff, sozusagen von vermittelter Sprache. Wie siehst du den Begriff der Übersetzung für deine Arbeit?

Jetzt von der Sprache her?

Von der Sprache her, und nicht nur von der Sprache her, eigentlich insgesamt. Da ist schon die Sprache von Cardenal, und du hast dann ja auch weiter Sprachebenen in diesem Stück, und deine sozusagen musikalische Sprachmöglichkeit. Die Spannung zwischen den Kultivationsfeldern, aus denen diese Sprachen kommen, wie die Sprache des Arbeiters, die du verwendest, dieser armen Frau, die du nutzt und in dein Stück hereinholst, und deinem Leben und deinem Umfeld, also dem europäischen, dem mitteleuropäischen Umfeld, also dessen Möglichkeiten und deiner musikalischen Sprache hier. Ist das Ganze nicht ein sozusagen auf mehreren Ebenen vollzogener Übersetzungsakt, gerade wenn du sagst: Hier will ja keiner hören. Ist das nicht sozusagen der Antrieb deiner Arbeit?

Ich glaube, es hängt natürlich auch damit zusammen, dass du so gefragt hast. Cardenal steht hier natürlich nicht einfach für das Ganze, sondern ich bin diesen Cardenal-Texten sehr dankbar. Ohne diese Texte hätte ich das Stück nicht geschafft, das ist mal klar. Aber ich habe ja von vornherein konzeptionell sehr starke Eingriffe unternommen. Ich habe nicht ein einziges seiner Gedichte oder seiner Texte im integralen Zusammenhang komponiert, nicht ein einziges, nicht einmal im „Senfkorn“, diesem Psalm, das sind auch Ausschnitte. Das heißt, ich habe de-komponiert und re-komponiert, auch was seine Texte anging, und das ist eine Komponente dieses Stücks. Daneben stehen die nicht-literarischen Texte, wie ich sie nenne, die Texte der Zeugen oder der Betroffenen oder der Beleidigten, eben des Arbeiters, des Gastarbeiters hier in Europa, des schwarzen George Jackson, die Gefängnisszene aus seinen „prison letters“, und dann die schwarze Mutter und Favela-Bewohnerin, die um das Leben ihrer Kinder kämpft. Die haben sehr viel Gewicht im Stück, die stehen auch als Exposition. Sie sind der Eingang in das Stück hinein. Ich beginne mit der komplexesten Situation, die ich selber als die komplexeste verstehe, das ist die Lebenssituation in Mitteleuropa, die ich natürlich auch am besten kenne. Jetzt einmal nur von den Sprachebenen her: übersetzen, um verständlich zu machen. Die Frage der Textverständlichkeit ist wieder eine etwas andere. Ich versuche, durch die Simultaneität der Texte, meistens zwei Texte, manchmal sogar drei Texte gleichzeitig einzubeziehen. Ich versuche, überdeutlich zu machen, um was es geht. Ich versuche möglichst viel von einem Kontext einzubringen, und deshalb auch Texte gleichzeitig in einer fremden Sprache und in deren Übersetzung zu bringen.

Indem ich etwas sage, selbst in meiner Sprache, und es ein anderer sich anhört, gibt es sozusagen schon einen ersten, grundsätzlichen Rezeptions- oder Übersetzungsvorgang von einer Person auf eine andere.

Die Autonomie des Kunstwerks, glaube ich, ist schon eine Aufgabe, solange ein Künstler noch so viel Energie investieren will in seine künstlerische Arbeit, also dass es das Ganze seines Lebens ausmacht, was er da produziert, dass er sehr viel auf sich nimmt auch, dass er eine gewisse Verantwortung hat als Zeuge zu funktionieren. Gut, das ist natürlich ein banales Bild oder ein hochgegriffenes Bild. Kein Mensch würde den Flecken Guernica heute kennen, hätte Picasso das Bild nicht gemalt. Das Bild Guernica ist nun wirklich kein leicht verständliches Bild, überhaupt nicht. Offenbar ist es ein hervorragendes Bild, und es ist vor allem ein Monumentum pro Guernica. Solche Monumente aufzurichten, meine ich, hat mit „Flaschenpost“ nichts zu tun, sondern das ist ein existentieller Akt des Künstlers, wo er alle seine Kraft daransetzt, wo er wirklich versucht, dass da etwas wäre, das verhindern würde, dass man vielleicht in zwanzig Jahren sagt: Ja, ja, Bagatellen. Jetzt wünscht man sich schon von den Sandinisten mehr Ausgewogenheit. Kein Mensch erinnert sich mehr daran, so in der durchschnittlichen Presse, was die somozistische Situation gewesen war, mit den fünfzigtausend Toten. Wie schnell man vergisst. Und etwas gegen die Gedächtnislosigkeit zu tun, finde ich eben auch eine Aufgabe des Künstlers, die nicht unbedingt neurotisch zu sein braucht, oder dass man sagt: Es gäbe jetzt einen solchen Aufwand oder weshalb ein solches Format und dergleichen. Ich wehre mich auch ein bisschen dagegen, dass das Geschichtliche erst dann in einer reflektierten Art in die Kunst eingehen könnte, wenn es wirklich schon Geschichte ist. Zum Beispiel Auschwitz: Warum der Künstler so lange warten muss, bis er dreißig Jahre zurückschaut, warum er nicht jetzt Stellung beziehen kann. Natürlich hängt er immer noch hinterher. Aber in gewisser Weise greift er vielleicht auch voraus. Diese Beschäftigung hat mich natürlich sehr stark radikalisiert, das gebe ich gerne zu. Andererseits muss ich auch sagen, dass ich eben glaube, was du jetzt wegen der Übersetzung und den verschiedenen Übersetzungsebenen angesprochen hast, dass ich in einem solchen Stück ja den Versuch mache, jetzt nicht 1972 Jackson oder 1956 Carolina, 1978 ...

Es gibt keine Chronologie?

Es gibt keine Chronologie.

Es gibt auch keine Beschriftung der Zeit?

Es gibt ein Acahualinca-Gedicht von Cardenal, das etwa in der gleichen Zeit wie die Briefe von Jackson entstanden ist. Aber das interessiert mich überhaupt nicht, da irgendwie einen banal realistischen Zeit und Aktualitätsbegriff hineinzubringen. Das kannst du auch schon daran feststellen, dass ich am Anfang ausgerechnet von den Psalmen der Nachdichtung Cardenals ausgehe, aus diesem Psalm of Christ: ;,Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Panzerwagen umstellen mich.“ Diese aktuellen Nachdichtungen: „Ich bin atomverseucht“ oder „Ich liege in der Zwangsjacke im Irrenhaus“, das ist ein unglaubliches Gedicht. Daraus habe ich Fragmente genommen. Aber was Cardenal macht, ist, dass er sozusagen die Zeit wegwischt zwischen der Entstehung des Psalms bis zur Gegenwart. Cardenal macht das ja sehr gern, dass er in den Zeiten herumspringt. In diesem „Oráculo sobre Managua“ schreibt er ein Gedicht nach dem Erdbeben. Dort geht er von der paläontologischen Situation, von den Indios, den Beschwörungsriten, den Menschenopfern der Indios bis zu den Stadtguerillas in Managua, dann wieder beschreibt er das Erdbeben, dann schreibt er: „Das Volk ist unsterblich, lächelnd tritt es aus der Leichenhalle, das Volk stirbt nie“, und darin die Beschreibung der Favela Acahualinca. Dieses Durch-die-Zeiten-Gehen, finde ich, hat überhaupt nichts mit einer Verwirrung des Aktualitätsbegriffs zu tun. Was ist heute und jetzt, ist unter Umständen zu kurzsichtig und zu blind, ohne eine Aussicht in die Geschichtlichkeit, und wenn ich mich auf Bloch beziehe, ohne das „Prinzip Hoffnung“.

Neben dem zeitlichen Aspekt ist ja auch ein Rollenaspekt da, der formal bei dir zum Tragen kommt, der verschiedenen Zeugenschaften. Darin sehe ich in deinem Stück einen sehr stark konkretistischen Aspekt. Wie ist der eigentlich angelegt und zugleich abgesichert?

Ja, was muss ich absichern?

Genau, wie du das eben schon an der Textnutzung gezeigt und gesagt hast, hast du nicht einfach vorhandene Texte genommen und sie für sich sprechen lassen, zum Beispiel, ohne sie in irgendeiner Weise zu beziehen oder zu analysieren, zu synthetisieren und so weiter, zu de-komponieren und re-komponieren, wie du gesagt hast. Also Konkretismus oder ein konkretistisches Verfahren neigt auch dazu – das ist die Frage der Absicherung –, sozusagen jeden alltäglichen Gegenstand, der Zeugenschaft leistet, für sich als Kunstwerk zu nehmen, zu stellen oder in ein Kunstwerk einzubeziehen, was auch zu einer gewissen Beliebigkeit und falschen Allgemeinheit führen kann.

Warum auch?

Weil sozusagen alle Elemente unserer Wahrnehmung natürlich einen konkreten Aspekt haben und natürlich auch einen Zeugenaspekt haben.

Das Wort „konkretistisch“ leuchtet mir noch nicht ganz ein. Es sind konkrete Texte, aber ...

Nicht nur Texte, sondern du nimmst nun auch offenbar Klangmaterialien konkreter Art in deinen Text auf, sozusagen in deinen kompositorischen Text. Sehe ich das richtig?

Spärlich.

Gefangenschaft wird in gewisser Weise ausgedrückt, Kampf von Volk und Unterdrückung wird durch bestimmte konkretistische musikalische Elemente, klangliche Elemente ausgedrückt, und so weiter.

Die marschierenden Truppen.

Zum Beispiel, ja.

Andere konkretistische Elemente? Ich muss einfach nachfragen.

Für das Volk verwendest du den großen Chor.

Nein. Im vierten Teil bearbeitet der große Chor das Gedicht „Las campesinas del Cua“, die Bäuerinnen von Cua. Der große Chor berichtet. Der große Chor stellt fast ausschließlich die geschichtliche Dimension dar. „Die Bäuerinnen von Cua“, dieses Gedicht macht fest, wie diese Bäuerinnen schreien, wie man die Bäuerinnen foltert, missbraucht, weil man wissen will, wo die „muchachos“ sind. Sie werden vorgestellt, also die eine ist sechzehn, die andere ist neunzig, hat keine Zähne mehr, und fast tot. Der Chor geht durch dieses Gedicht: „Ich will euch erzählen von den Schreien in Cua, und so weiter. Während der Aufstand des Volkes mit sechzehn Einzelstimmen komponiert ist.

Also das wäre schon ein solcher Absicherungsakt?

Das sehe ich nicht als Absicherung. Ich habe da eigentlich keine Angstvorstellungen als Künstler, dass ich jetzt plakativ werden könnte, oder dass ich das jetzt negativ sehe, dass ich etwas absichere. Das habe ich, glaube ich, nicht getan. Deshalb verstehe ich das „konkretistisch“ nicht ganz genau, mit Ausnahme der marschierenden Truppen und vielleicht der Geräusche einer Maschinenfabrik oder Gießerei, mit denen ich den Chorklang der Bänder im ersten Teil vocoderisiert habe, wenn du willst, diese Tonbandeinspielungen von seichter Schnulzenmusik in Teil drei, also während der Folterfragmente mit den vier Celli. Es hat mir übrigens einige Mühe gemacht, die Schnulzen zu finden, denn wenn ich meine Freunde frage, sagen die, „da kenne ich mich gar nicht aus“. Und wenn ich Leute frage, die sich dort auskennen, wollen die das nicht herausgeben, weil sie das nicht gerne verarschen lassen. John Travolta habe ich nicht gekriegt, aber so etwas Ähnliches, also Disco habe ich was. Und dann von einem Nazi-Filmer, dreißig Sekunden als Schlaufe, „Hab mich lieb“, aus diesem Nazifilm habe ich etwas herausgezogen. Es läuft über vier Spuren je ein verschiedenes Material, und an der Grenze der Hörbarkeit, also das könntest du vielleicht so nennen. Willst du dann die amerikanische Nationalhymne in diesem Zusammenhang auch so nennen?

Ja, sie hat natürlich einen konkreten Bedeutungsraum, nicht wahr?

Ich hab’s hier ja nicht versteckt. Hier, wo das beginnt, steht: „O say can you see“, wenn jemand diesen Text kennt, dann kann er nachschauen. Ich hab’s nicht versteckt, ich habe geschrieben: eine amerikanische Hymne. Das ist sie ja auch gewesen. Das wurde dann um 1917 zur Nationalhymne erhoben, lange nachdem diese Hymne eben als ziemlich miese Angelegenheit schon funktionierte. Der Text ist ja scheußlich. Noch mal wegen der konkretistischen Aspekte ...

Du arbeitest mit einer Reihe solcher Momente. Auch dieses Schlagzeug, das aus Stahlabfällen besteht, aus ...

... Schrott und so weiter. Ich würde sagen, ich beziehe auch das ein, weil ich in dem Kontext von vornherein nichts tabuisieren möchte. Ich möchte nicht sagen, es geht hier nicht weiter, ich muss hier jetzt Grenzen ziehen. Wobei sich Grenzen natürlich trotzdem ergeben. Zum Beispiel kenne ich lateinamerikanische Musik nicht so, dass mir da unter der Hand zentralamerikanische Rhythmen hineinkämen. Wohl aber habe ich mich im Zusammenhang mit der Monodie des George Jackson, des Bassbariton, sehr stark mit der Musik der Schwarzen auseinandergesetzt. Vor allem diese Arbeitsgesänge, die Alan Lomax in den Strafanstalten der Südstaaten aufgezeichnet hat, solche Arbeitsgesänge habe ich sehr genau analysiert, aber sicher nicht im Eins-zu-eins-Verfahren irgendwie reproduziert, sondern ich habe das auch einbezogen. Ich würde es eigentlich eher so sehen, dass ich versuche, eine gewisse strukturelle Syntax zu erreichen, also jetzt nicht die Syntax dieser oder jener Musik, sondern die Syntax einer Form. Zum Beispiel kann man gerade bei Teil drei vielleicht am deutlichsten sehen: Aus jeder Überlegung schlägt sich etwas nieder, aus jeder kompositorischen, aber auch aus jeder inhaltlichen Überlegung schlägt sich etwas nieder in das Verfahren der Komposition. Also ich habe nicht a priori eine gewisse kompositorische Ästhetik – ich habe natürlich das auch –, aber ich verfüge nicht über eine bestimmte ästhetische, a priori gegebene, auch kompositionstechnisch betreffende Methode, sondern ich versuche, aus jeder inhaltlichen und kompositorischen Überlegung Methoden zu entwickeln, die eine Semiotik erzeugen. Das heißt, ich komponiere eben den Bassbariton nicht so, wie ich den Mezzo bei der Carolina komponiere, und auch weit entfernt von dem Sprecher/Tenor im ersten Teil, um jetzt mal die drei Rollen zu nennen. Ob man das strukturelle Semantik nennen will, oder wie man das nennen will: Das wäre dann das, was ich mit Netz meine, wobei ich nun auch Konkretistisches durchaus verknüpfe, wenn es mir möglich erscheint, um dadurch das Netz noch tragfähiger zu machen, oder deutlicher, dass es beißt oder greift, oder dass es nicht so leicht möglich ist, dass man ausweicht.