MusikTexte 1 – Oktober 1983, 44–46
Wider Tod und Krieg
Anton Webern heute
von Reinhard Oehlschlägel
Die Reflexion über Werk, Ideen und Leben von Komponisten aus Anlass von Jubiläen ist ein unverwüstliches Alltagsritual unseres Musikbetriebs, über das kaum mehr nachgedacht wird. Wir sind in Zeiten knapperer Finanzierungen von großzügiger angelegten Institutionen ja schon dankbar, wenn Jubiläen die Aufführung von Werken ermöglichen, die sonst nie oder doch nur sehr selten aufgeführt werden. Und wenn auch die Jubiläen selbst primär keine Ereignisse von Rang darstellen – in ihnen findet das Dezimalsystem und das Unvermögen zur produktiven Auseinandersetzung mit Musikgeschichte und Musikgegenwart einen stärkeren Ausdruck als die Jubilare selbst –, so können doch ungewöhnliche Aufführungen und aufgeführte ungewöhnliche Werke Ausgangspunkte für Wahrnehmungen und Reflexionen werden, die ein besonderes musikalisches Ereignis konstituieren.
Interpretation und Interpretierbarkeit entscheidet wohl bei kaum einem anderen Komponisten derart einschneidend über Aktualität und Wertschätzung der Musik wie bei Anton Webern. Dabei ergeben sich mehrere Ebenen und Funktionszusammenhänge von Weberns Musik, die miteinander zusammenhängen und doch nicht einfach ein und dasselbe sind. Nicht zuletzt sind auch die Webern-Darstellungen, wie sie etwa in der Alten Oper Frankfurt, bei den Berliner Festwochen, in Stuttgart, Baden-Baden, Liège, Wien und Paris veranstaltet wurden und werden, einschließlich der vorausgehenden, begleitenden und nachfolgenden Reflexionen indirekte und direkte Folgen der Webern-Bilder, die sich ausgeprägt haben.
Die Gegenwart gibt für eine Aktualität Weberns zunächst wenig her. Nicht eines seiner Werke hat ins reguläre Konzertrepertoire gefunden. Dass die Violinstücke von Gidon Kremer zum Beispiel beim Bonner Beethovenfest gespielt, oder bei „Jugend musiziert“-Wettbewerben die Cellostücke immer wieder vorgeführt werden, markiert die hohe Einschätzung von Weberns Musik bei Fachmusikern. Beide Phänomene bedingen einander. Weberns Musik ist durch ihren hohen Rang bei Musikern sozusagen vor dem Konsum und Verschleiß eines breiteren Publikums geschützt wie durch ein gegenseitiges Einverständnis. Das hat auch mit dem Webern-Bild der unmittelbaren Nachkriegszeit zu tun. Heute würde man von der Funktion, die Webern und Weberns Musik damals eingenommen hat, als von der einer Kultfigur sprechen. Aus der Distanz dagegen erscheint er eher als eine Art Wiederaufbaufigur, ein nicht-exotischer Ansatz einer abstrakten, nicht kompromittierten und nicht kompromittierbaren Kompositionsweise, die der Generation der Nachkriegskomponisten die Chance bot, eigene Folgerungen daraus zu ziehen, Neuland zu betreten, sich von allen politischen, inhaltlichen aber auch sonst irgendwie bereits ausgeprägten Musikcharakteren wirkungsvoll abzusetzen. Haften geblieben ist davon in einer breiteren Liebhaber-Schicht, wenn überhaupt eine Einstellung auffindbar ist, die Aura von „technischer Vollendung‘‘ (Boulez), von Konstruktion und Abstraktion.
Auch unter Komponisten, also Weberns eigenen Berufskollegen, ist heute keine besondere Aktualität für Webern abzusehen. Auch dieses Rezeptionsfeld ist geprägt von der Eckstein-, von der Schwellenfunktion in den Fünfzigerjahren. Für die heute Fünfzig- bis Sechzigjährigen hat Webern einmal eine geradezu wegweisende Rolle gespielt. Seine Werke wurden analysiert und interpretiert hinsichtlich der Möglichkeiten, die sein Umgang mit Tonhöhen, Tondauern, Lautstärken und anderen Dimensionen des Tonsatzes für die Jüngeren eröffnet. In dieser Generation gibt es kaum einen, der nicht das eine oder andere Webern-Schlüsselerlebnis zu erzählen weiß, nicht eine Analyse veröffentlicht hat oder ein Stück, das unverkennbar an Webern anknüpft. Karel Goeyvaerts bezieht sich in seiner Sonate für zwei Klaviere auf ihn, Stockhausen wenig später im „Kreuzspiel“. Boulez widmet ihm einen hymnischen Text und einen Lexikonartikel. Schnebel komponiert die aphoristischen Stücke für Streichinstrumente. Hespos knüpft an die atonalen Cellostücke mit seinem Cellosolostück an, nachdem er diese zum ersten Mal bei den Darmstädter Ferienkursen gehört hatte. Pousseur war einer der ersten, der sich mit den frühen atonalen Stücken auseinandergesetzt hat. Ligeti analysierte zumal die chromatische fünfte Bagatelle noch Ende der Sechzigerjahre bei den Darmstädter Ferienkursen mit einem geradezu emphatischen Redefluss. Friedrich Goldmann erstand für seine ersten eigenen Westgroschen Weberns wohlfeile Partiturwaren. Und Strawinskys Auseinandersetzung mit Webern, die in dessen Spätwerk einige dodekaphone Spuren hinterließ, hat noch auf eine ganze Reihe von Komponisten abgefärbt, die sonst eher gegenüber dem Schönbergkreis Skepsis und Distanz walten ließen.
Weberns unmittelbare Aufbauaktualität, die in den Fünfzigerjahren ihren Höhepunkt erreichte und noch bis in die Sechzigerjahre hineingewirkt hat, ist inzwischen verblasst. Und der Glanz in den Augen der damals Beteiligten, wenn sie von ihren Webern-Entdeckungen und -Erlebnissen damals sprechen, trägt verklärende Züge. Webern bedeutet für sie heute damals. Was dann kam an Tendenzen der stochastischen Musik, der Auflösung von Werkcharakter, von Aleatorik, von Unbestimmtheit, von Fluxus- und Happening-Musik, von improvisatorischen Freiräumen, von offener Form, von Prozesskomposition, von graphischer und verbaler Notation, von meditativer, von minimalistischer, von inhaltlicher, von politischer, von neospätromantischer und konkreter, von elektroakustischer und von Computer-Musik, schließlich von Musikperformance, musikalischer Video-, Installations- und Textkomposition, hat mit Webern weniger und weniger zu tun, jedenfalls mit dem von 1950. Peter Stadlen und Walter Kolneder haben vielfach versucht, das Nachkriegsbild Weberns zu korrigieren. Der Hinweis darauf, dass Webern selbst nicht seriell gedacht hat, sagt wenig gegen die seriellen Folgen, die aus Weberns Zwölftonkompositionen abgeleitet wurden. Und die Rekonstruktion der Gestik und Dynamik, mit der Webern selbst seine Musik interpretiert hat, erinnert an eine nach den Kriegs- und Zusammenbruchserlebnissen ernüchterte Wiederaufbaugesellschaft, an den nostalgischen Überschwang einer vergangenen Zeit. Wer Weberns Musik in originaler expressiver Agogik, Dynamik und Tempogebung aufführen wollte, machte aus seinem Werk Alte Musik. Genauso wenig könnte man Shakespeare auf der Bühne in feierlicher Rezitation auf Tonhöhen vortragen wie noch anno 1900, ohne ihn mit der Markierung „im alten Stil“ zu versehen. Es ist darum sicher ein Indiz, dass – außer verbaliter – nicht einmal die neudeutschen Spätromantiker der jüngeren Generation das Angebot einer expressiven Webern-Tradition aufgreifen. Ihrer wort- und tonreichen Beredtheit ist die zerklüftete Empathie des späten Beethoven ein willkommenes Vehikel, die expressive Disziplin Weberns dagegen eine Musik von einem anderen Planeten, wenn nicht gar der Bazillus der seriellen Krankheit selber. Weberns kompositionstechnische Vollendung, die zum sachlichen Wiederaufbau einer Kompositionsästhetik der Nachkriegszeit taugte, hat mit neuer Sachlichkeit nichts zu tun. Ihrer Kompositionstechnik fehlt jeder Zug koketter Rückgriffe und Spielerei, ohne den die Moden der neuen und neueren Sachlichkeitsstilisierungen nicht denkbar sind.
Das soziale und kulturelle Umfeld der Nachkriegszeit hat nicht nur bewirkt, dass Weberns auch im Schönbergkreis einzigartige Kompositionsqualität, die ihren Ursprung und ihre Kraft aus der lebenslangen, unmittelbaren Erfahrung vonnöten in den Jahren vor und zwischen den Kriegen und in den beiden Kriegen selbst gewonnen hatte, das Denken in Parametern, in seriellen Ordnungen, die Setzung von Momentereignissen, von Momentform, von Punktualität ermöglicht. Es hat an Webern und an den seriellen Folgen aus Weberns Werk zugleich auch eine Orientierung der Musikwissenschaft, zumal der deutschen Musikwissenschaft, zur Folge gehabt, die sich – anders als das stolze Selbstverständnis mancher Protagonisten des Faches es wahrhaben will – nur allzu abhängig von Zeit, Umständen und von den musikalischen Denkansätzen auch der jungen Komponisten entwickelt hat. Weberns Musik „ist nur Selbstausdruck“, sie „bedarf keines außermusikalischen Bezugs – historisch, literarisch, psychologisch, dramatisch oder was immer‘‘, dieses Wort des einundzwanzigjährigen deutsch-amerikanischen Komponisten Christian Wolff umreißt schon 1955 das Programm der Musikwissenschaft nicht nur gegenüber Webern, sondern aller Kompositionsästhetik. Ihre Wahrheit hat diese Beobachtung umgekehrt eher darin, dass den jungen Komponisten nicht weniger als den Musikwissenschaftlern Geschichte, Literatur, Psychologie, Theater und was immer es noch um sie herum gab, kompromittiert und sozusagen abhandengekommen war.
Die Restauration der längst verblichenen Idee der absoluten Musik aus den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts hat nicht die Musikwissenschaft, sondern haben die jungen Komponisten freilich aus einer gänzlich anderen Konstellation heraus formuliert. Die Musikwissenschaft hat sie erst in Koinzidenz zu gesellschaftlich organisierten Kräften zur herrschenden Norm, zum Neoparadigma erhoben, als Komponisten wie Christian Wolff sukzessive und auf die verschiedenste Weise ihre scheinabsoluten Positionen bereits wieder verlassen hatten. Auf Webern selbst bezogen bedeutete das folgerichtig, dass seine Partituren zum Kultgegenstand junger Musikwissenschaftler und strukturelle Analyse der Partituren zur musikwissenschaftlichen Kulthandlung gediehen. Und es bedeutete, dass die Quellen, die Briefe, die Biographie, der Nachlass Weberns nicht einmal ins Blickfeld gerieten. Die zumeist inzwischen arrivierten Webern-Doktoranden von einst wie Erhard Karkoschka, Friedhelm Döhl, Wolfgang Martin Stroh und Heinrich Deppert sowie deren Doktorväter haben schon paradigmatisch abgelöst von der realen Existenz des Menschen Webern einem Sammler und Liebhaber, einem Außenseiter den Zugang zu den Quellen überlassen, der später umgekehrt und wohl nicht ganz ohne Anlass eine instinktive Skepsis gegenüber den Fachwissenschaftlern entwickelt. Was dann aus diesen Quellen, aus Briefen, unveröffentlichten Skizzen, aus Opernplänen und aus dem dramaturgischen Text „Tot“ allmählich an die Öffentlichkeit dringt, lässt nun auch für Webern die These zu, dass seine kompositorische Entwicklung, seine Musik nicht nur abstrakt strukturell organisiert ist, sondern zugleich, wie ähnlich schon die von Berg, Schönberg, Zemlinsky und Mahler vor ihm, aufs engste mit seinem Leben zusammenhängt, mit Bindung und Verlust der Mutter und mit der fast biblisch strengen Vaterfigur Schönberg.
Ob Weberns Musik dadurch aktueller, verständlicher, leichter interpretierbar, leichter analysierbar wird, das darf gründlich bezweifelt werden. Zunächst ist seit Mitte der Sechzigerjahre nur eine tiefgreifende Irritation zu erkennen. Die Strukturanalysen der „dazzling diamonds“, die Strawinsky in Weberns Musik fasziniert hatten, sind in Gefahr, als Beschreibung von klingenden Edelsteinen verstanden zu werden. Und nirgends ist nur ansatzweise die Formulierung der aus dem Dilemma hinausführenden Fragestellungen erkennbar, nirgends Hypothesen, die eine wenn auch nur ungewisse Aussicht versprechen, ein Webern-Bild zu entwerfen, das nicht mit dem Kopf im Sand so tut, als ob die „Bagatellen‘‘ und die „Symphonie“ vom Himmel gefallen sind. In der musikwissenschaftlichen Rezeption ist es einstweilen noch so, als ob es eine brennende Aktualität für Webern geben könnte, die allerdings nicht erkannt und produktiv bearbeitet werden kann, bevor die Herrschaft der Idee der absoluten Musik sozusagen entmachtet ist. Auch Musikwissenschaft kennt Alltagsrituale, Herrschaftsstrukturen und in gewissem Ausmaß Personen und Schemenkulte.
Ohne Reflexion der eigenen individuellen und sozialen Identität wird die Wahrnehmung der geschichtlichen und der aktuellen von Weberns Musik kaum möglich sein. Musikwissenschaft und Musikkritik sind anders als Komposition und Interpretation, und anders als das bloße Wahrnehmen, das bloße Hören durch ihr Medium, die Sprache, gewissermaßen gezwungen, diese Reflexion öffentlich vorzunehmen, wollen sie ihr Geschäft glaubwürdig betreiben. Die Abstraktion von den eigenen Voraussetzungen absolut zu setzen – darin gründet letztlich das Paradoxon vom normativen Herrschaftsanspruch und der scheinbar von aller Realität abgelösten musikästhetischen Idee der absoluten Musik – hat vor Webern, wenn nicht gar vor Schönberg, vor Eisler und vor Cage, Schiffbruch erlitten. Da helfen keine Wehklagen vor den dilettantischen Unzulänglichkeiten, Unüberprüfbarkeiten, den mangelnden ritualen Weihen, die den Veröffentlichungen des Webern-Sammlers Moldenhauer nun einmal anhaften. Knapp vierzig Jahre nach dem letzten mitteleuropäischen Krieg inmitten einer Situation einer zugleich subtilen und massiven weltweiten Rangelei, wer über mehr der weiterreichenden, zielsicheren, todbringenderen atomaren und chemischen Raketen und Sprengköpfen verfügt, um daraus Vorrang, Vorherrschaft oder auch nur Selbstbestätigung abzuleiten, scheint mir, als Kind der Schrecken von Bombenangriffen, nächtlichen Warnungen und Entwarnungen, von Flucht und Fremdheit im eigenen Land, in der eigenen Familie, Weberns Musik eine Warnung, mit allen menschlichen Mitteln sie selbst und uns davor zu bewahren, dass sie nicht noch eine dritte Aktualität erlebe, die mit großer Wahrscheinlichkeit wohl so gut wie niemand unverstümmelt mehr übersteht. Mit anderen Worten: Mir scheint, dass Webern in seiner vor dem Ersten Weltkrieg in engem Kontakt zu Schönberg entstandenen radikalen atonalen Musik ein utopisches Nonplusultra an Freiheit gegenüber einem überlebten Herrschafts- und Gesellschaftssystem formuliert hat, offenbar im tiefen Schmerz um den Tod seiner Mutter und in großer Affinität zu seinem Lehrer und Freund Arnold Schönberg. Und mir scheint, dass er nach den Wirren des Ersten Weltkriegs und nach dem Zusammenbruch der spätfeudalistischen wilhelminischen und franz-josephinischen Gesellschaftsordnung und nach wie vor in ungebrochener Verehrung seines prophetischen Kompositionslehrers, dessen kompositorisches Sicherungssystem der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen in einer Weise zugespitzt und radikalisiert hat, dass er selbst und nicht mehr so sehr sein Vorbild, sein Lehrer und Freund zum Ausgangspunkt der vielfach potenzierten musikästhetischen Sicherungsreaktion der Nachkriegskomponisten gemacht werden konnte.
Es ist nun wohl ein legitimer Ansatz, die Aktualität von Weberns Musik in ihrer je einzelnen Gestalt wahrnehmbar zu machen als eine kompositorische Anstrengung des Widerstands und Aufbegehrens gegen den Tod, die frühe aphoristisch ausgeformte atonale Musik als ein gegen den Tod der eigenen Mutter und damit auch gegen den eigenen Tod gesetztes Ausdrucksvermögen, und die spätere strengste Zwölftonmusik, die je im Umfeld des Schönberg-Kreises konzipiert wurde, als eine gegen den obrigkeitlich verordneten absolut sinnlosen Todesbetrieb von Weltkriegen und den mit ihnen eng zusammenhängenden sozialen Zusammenbrüchen und individuellen Katastrophen sich radikal abgrenzende und absichernde äußerste kompositorische Reaktion. Mit Jubiläen wie mit enzyklopädischen Schallplatteneinspielungen und Konzertaufführungen des sogenannten „ganzen“ Webern unter Unterschlagung seiner innersten Motivationen ist dazu jedenfalls nur sehr wenig getan.