MusikTexte 174 – August 2022, 89

Neuer Wein in alten Schläuchen

Isabel Mundry beim Mozartfest Würzburg

von Karl Ludwig

Ein Oktavfall, drei Repetitionstöne, zwei Vorhalte; wiederholt und sequenziert – einfachste musikalische Figuren, dann kunstvoll verschränkt zwischen Hoch und Tief in eine großzügige Kadenz mündend: Mozart KV 201! Seit 101 Jahren schmückt sich die Stadt Würzburg mit einem Mozartfest und wahrlich ist man in der Pracht der Würzburger Residenz mit ihrem gold-marmornen Kaisersaal über dem gezirkelten Hofgarten in barocke Sphären versetzt. Dass auch hier die Gegenwart nicht draußen bleibt, wird jedoch schon beim Treppenaufstieg deutlich, wenn erstes Erstaunen unter dem Himmel des größten Deckenfreskos der Welt bald schon einer Unwilligkeit weicht, gemeinsam mit den vier damals bekannten Weltgegenden dem Fürstbischof Greiffenclau in der Höhe zu huldigen. Tiepolos allegorischen Frauengestalten auf Elefant, Krokodil oder Kamel werden seit 2015 mit der neuen Intendanz von Evelyn Meining Fixpunkte der Gegenwartskunst an die Seite gestellt, und jährliche Porträtkomponistinnen und sogenannte artistes étoiles ans barocke Firmament erhoben werden. Natürlich sind auch hier die hellsten Sterne der bürger­lichen Musikkultur gerade gut genug, nach Widman, Hosokawa, Reimann, Rihm, Pärt und Chin stand nun 2022 Isabel Mundry im Fokus des Festivals.

Das ist nicht ganz ohne Ironie, denn Mundry selbst versucht in ihren neuesten Werken, solche luftigen Spekulationen wieder zu erden, wie sie im Interview betont: „Ich möchte gerne Musik schreiben, die keine Programmhefttexte oder Werkerklärungen mehr braucht und sich dort vermittelt, wo diese Diskurse nicht das oberste Rezeptionsmodell sind.“ Gerade Isabel Mundry kann bislang als intellektuelle Komponistin bezeichnet werden und die umfassende Werkschau, die ihr beim Mozartfest zuteil wird, zeugt von ihren großen Themen Zeit, Raum und Erinnerung. Auch „Noli me tangere“ für Solo-Schlagzeug und Ensemble von 2020 bezieht sich im Titel auf ein Buch des Philosophen Jean-Luc Nancy und trägt fruchtbaren Ballast von Präsenz und Repräsentation der Wahrheit mit sich. Doch in den kondensierten Gesten des Schlagzeugs und der präzise fehllaufenden Kommunikation zwischen Orchester und Soloinstrument kündigt sich gleichzeitig eine neue musikalische Sprache an, die aus einer langen Schaffenskrise herausführt und nichts Geringeres unternimmt, als den fortschrittsgetriebenen Egomodellen des Komponierens eine allseitige Öffnung entgegenzusetzen.

Zunächst einzelne Töne, erweitert nach und nach durch kleine und kleinste Intervalle, mikrotonale und klangfarb­liche Nuancen bis hin zu Atemgeräuschen, werden in „figura“ zwischen den beiden Trompetern Marco Blaauw und Markus Schwind hin und her gespielt. Dabei verfangen Unschärfen und Verwandlungen im Prozess der Wiederholung einzelner Gesten und wachsen sich – wiederum gespiegelt und beantwortet vom Gegenüber – zu weiten Intervallen, Trillern oder minimal versetzten Salven beider Stimmen aus. Das konsequent durchgehaltene Call-and-Response deutet dabei auf das Vorbild oraler Kulturen, das Mundry in gregorianischer, aber auch indischer und arabischer Musik findet. Mit solchen Baumstrukturen entsagt sich die in Würzburg uraufgeführte Komposition einer komplexen vorkompositorischen Architektonik und reiht Figur an Figur. Leicht ließe sich die stille, unaufgeregte, ja unaufregende Klangsprache als Reduktionismus, Formalismus, gar Serialismus abtun und tatsächlich bekommt Mundry den Applaus für das strahlendere Solokonzert mit Dirk Rothbrust und dem Ensemble Musikfabrik. Doch wenn Marco Blaauw ohne Antwort der zweiten Trompete in den halligen Kaisersaal spielt, eröffnet sich die Tiefe der Komposition im Echo: Hier geht es nicht darum, in der Zurückhaltung ein weiteres Gebiet des Neuen in der Musik zu erobern. Zurückhaltend wendet sich die Musik an die Hörenden, im Echo wiederum die Antwort zu formulieren. Die musikalische Figur als Utopie der Responsorialität, der Anschlussfähigkeit – auch über Zeiten hinweg: „Figur ist eben, dass etwas im anderen wieder auftaucht und es ist offen gehalten, ob es Antizipation oder Echo ist, figura ist offen für beide Seiten. Das finde ich natürlich wunderbar. Das entspricht irgendwie auch meiner Vorstellung von Realität, dass das Echo genauso signifikant ist wie die Ahnung.“

Überraschende Antwort findet diese Suche nach „offenen und zugleich verbindlichen“ musikalischen Formen im „M PopUp“, einem in den Räumlichkeiten des „Café Mozart“ eingerichteten Ausstellungsraum. Das Institut für Musikforschung der Universität Würzburg geht hier „Syrischen Tonspuren“ in der Stadt nach und zeigt neben einem vielseitigen Workshop-Programm von deutsch-arabischem Rap bis melkitisch-orthodoxem Liturgiekonzert Grundzüge der syrisch-arabischen Musikkultur. Instrumente, Maqamat, Gesangs- und Hörpraktiken werden mit vielen Tonbeispielen vermittelt und bieten gegenüber dem Gesamtprogramm des Festivals und Isabel Mundrys neuen Werken eine leider allzu randständige Erweiterung. Denn auch für Mundry waren Stimmen dieser vor einigen Jahren plötzlich allgegenwärtigen Musikkultur Auslöser für die völlige Neuausrichtung ihres Komponierens und den Versuch, dieser oft unfassbaren Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen Platz einzuräumen.

Ein Versuch, den die Komponistin im zweiten Uraufführungskonzert auch kuratorisch umsetzt, wenn sie – Mozart ist Muss – die heute etwas schwerfällig erscheinende Fantasie für eine Orgelwalze (KV 608 in einer Version für Streichorchester) mit Bernd Alois Zimmermanns „Monologen“ in Dialog bringt. Satzweise ineinander verzahnt entstehen zwischen dem vom Ensemble Resonanz unter Bas Wiegers leider arg brachial geboxten Mozart und dem vom GrauSchumacher Duo gewohnt brillianten Zimmermann immer wieder eindrucksvolle Anschlüsse, die Zimmermanns monadisch-kristalline Zeitenschau gleichzeitig weiterdenken und befragen. Nicht in querstehenden Zitaten und Einbrüchen von Zeit, sondern aus eigenem Atem heraus sucht Mundry solche Anschlussfähigkeit denn auch in ihrem jüngsten Werk, das in der zweiten Konzerthälfte nach der zauberhaften Sonate für zwei Klaviere KV 448 uraufgeführt wird: „Signaturen“ für zwei Klaviere, Schlagzeug und zwei Streichergruppen.

Die Virtuosität älterer Stücke ist hier gänzlich verschwunden, wieder sind es zunächst einzelne Töne, Flageoletts in den tiefen Registern des Klaviers. Sie lassen sich zu Bartók-Pizzicati und Sekundreibungen weiterverfolgen, aus denen sich hoquetus-artig eine Linie formt. Ob diese aus den Glissandi der Streicher entstanden ist oder aus den obertonreichen Metallplatten im Schlagzeug? Letztere zeichnen sich auch in dichteren Akkorden von Klavier oder den stets antiphonalen Orchestergruppen ab. Als Signaturen durchlaufen die Klangcharaktere multiple Gestalten, jedoch nicht in parametrischer Strukturfolgsamkeit, sondern als Spieltrieb der Verwandlung. Das Klirren eines Glases an einer scharrenden Sprungfeder erscheint wieder in Tremoli, ebenso in Col-legno-Akzenten, aber auch den Pizzikati und Flageoletts, die nun ebenfalls zu Akkorden verdichtet sind. Solches Figurenspiel ist gewiss keine neue Errungenschaft, doch gerade etwas Uraltes verleiht den Gestalten eine genügsame Sanglichkeit. Anders als im noch etwas etüdenhaften „figura“ gerinnen Klänge hier zu genuinen Ereignissen vor allem dort, wo Übertragungen zwischen Melodieinstrumenten und Schlagzeug die Gesten schillern lassen. In diesen Momenten des Austauschs öffnet sich der allseits proportionale Raum, den auch Bernd Alois Zimmermann zu krümmen verstand.

Das neue Stück bleibt Anfang, nicht nur, weil es aus ganz linearer Zeitnot noch kein Ende hat. Die letzte Geste einer jambisch-punktierten einfachen Tonwiederholung beinhaltet bereits beides: sie weist zurück zum Beginn von „Noli me tangere“ und zu unzähligen Figuren zuvor – und ist doch, als Atem, nicht aufzuhalten. Über der Ruhe und Reduktion von Mundrys neuer Klangsprache schwebt die Frage, wie schnell sich solche Gesten abgespielt haben und wie weit sie tragen werden. Und auch wenn sich vielleicht nur die artiste étoile beim Mozartfest in bester Tradition des Kunstförderers Fürstbischof Greiffenclau ihn sich leisten kann, muss der große Mut einer Komponistin bewundert werden, die sich wünscht, am Ziel solcher Neuerfindung „wieder am Anfang herauszukommen“. Dazwischen vollzieht sich Verwandlung.