MusikTexte 2 – Dezember 1983, 30

Finnische Musik

Zur Schallplattenedition „New Finnish Music“

von Reinhard Oehlschlägel

Anders als die meisten europäischen Kulturlandschaften, auch die randständigeren, ist die finnische Kultur und damit auch die finnische Musik relativ jung, legt man die europäischen Maßstäbe einer fixierten, einer notierten oder jedenfalls doch notierbaren Kunst zugrunde. Nach dem Alter der mündlichen Überlieferungen etwa der alten finnischen Runengesänge lässt sich im Vergleich zu romanischen und germanischen Traditionen schon sehr viel weniger eine gesicherte Aussage über das jeweils Ältere oder Jüngere machen. Die finnische Sprache ist jedenfalls erst zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts in einem allmählich zunehmenden Maße aufgeschrieben und dadurch in bestimmter Weise kodifiziert worden.

Die Erforschung der alten finnischen Musik und die Entwicklung einer neueren, eines nationalen finnischen Kompositionsidioms setzten erst gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts ein. In der Sprache wie in der Musik waren es zunächst Mitglieder der schwedischen Minderheit im Lande, die hier die Pionierarbeit leisteten. Jean Sibelius, 1865 im schwedisch besiedelten Westen Finnlands geboren, der heute praktisch synonym für finnische Musik in Anspruch genommen wird, hat mit den Mitteln der europäischen sinfonischen Traditionen sozusagen finnische Raum-, Klang- und Zeitvorstellungen in seinen Sinfonien und sinfonischen Dichtungen ausgedrückt und damit zumindest auch ein, zwei der nachfolgenden Generationen finnischer Komponisten geprägt. Sein überragendes Vorbild, das zumal in den angelsächsischen Ländern Weltruf genießt – im deutschsprachigen Raum ist Sibelius auf eine gewisse Reserve gestoßen – wirkte naturgemäß auf die späteren und nachkommenden Komponisten auch lähmend. So ist es wohl leichter zu verstehen, dass die zwischen 1925 und 1935 geborenen Komponisten wie Einojuhani Rautavaara, Usko Meriläinen und Aulis Sallinen neuere klangliche und formale Mittel und die noch jüngeren Komponisten heute sich nahezu alle kompositorischen Möglichkeiten der europäischen Avantgarde angeeignet haben. Da ist es, wie auch in anderen europäischen Traditionen, wieder schwieriger geworden, eine spezifisch finnische Musik an einigen Merkmalen zu beschreiben und von anderer abzugrenzen.

In einer seit wenigen Jahren herausgegebenen Serie von Schallplatten mit neuer finnischer Musik sind nun erstmals einige Arbeiten jüngerer, nach 1940 geborener Komponisten zugänglich. In erster Annäherung an neuere Tendenzen finnischer Musik kann die Musik eines deutschsprachigen Komponisten aufgefasst werden, der heute in Finnland lebt, wie die von dem 1937 in Linz an der Donau geborenen Herman Rechberger. In Rechbergers „Consort Music I“, einem Stück für einen Blockflötenspieler und Ensemble, entsteht ein außerordentlich räumlicher Klangeindruck. Die Flöten werden mehrfach sprachartig benutzt, in gleitenden, flüsternden Geräuschklangintonationen. Der kunstvoll produzierte Klangcharakter von Naturlaut ist vielleicht das Typischste an dieser Musik – auf einer anderen Ebene und mit neueren Mitteln ist es doch eine Art Übersetzungsarbeit, wie sie im Umfeld der mitteleuropäischen Spätromantik Sibelius geleistet hatte.

Direkt zitierter konkreter Naturlaut spielt ebenfalls seit Sibelius in der finnischen Musik eine wesentliche Rolle. Auch Aulis Sallinen benutzt dieses Stilmittel in seinen Sinfonien, eingebettet in seine motivisch entwickelnde und fortspinnende Orchestersprache. Der heute in Tampere lebende 1930 geborene Usko Meriläinen hat in seinem Stück „Suvisoitto“ – Sommerklang – für Flöte und auf Tonband aufgenommenes Grillenzirpen ein sehr direktes Naturstück ohne jede traditionellere Rahmung ausgearbeitet, das am ehesten an Arbeiten von Oliver Messiaen und François-Bernhard Mâche erinnert.

Der sorgsam gepflegte Neutralitäts- und Nachbarschaftsstatus zu den skandinavischen Ländern und zur Sowjetunion hat namentlich den Einfluss russischer Musik auf die finnische gefördert. Der 1944 geborene finnschwedische Komponist Pehr Henrik Nordgren bezieht sich auf das Werk Schostakowitschs, zumal auf dessen fünfte Sinfonie. Seine eigene Sinfonie für Streichorchester erinnert in seinem scheinbar verselbständigten Stimmverlauf, der sich dennoch zu einem Streichergesamtklang zusammenfügt, mehr an Streicherpassagen der späteren Arbeiten von Schostakowitsch. Das Stück entstand für das Ostrobottnische Kammerorchester, das auch die vorliegende Aufnahme unter Juha Kangas eingespielt hat.

Andere zum Teil wichtige Namen aus der schwedischen Minderheit, wie Leif Segerstam, der allerdings auf Platten bereits gut dokumentiert ist, und den jungen Magnus Lindberg sucht man auf den ersten Platten der neuen Publikationsreihe „New Finnish Music“ noch vergebens. Auch einige jüngere finnische Komponisten sind, wie der international wohl bekannteste Finne Jukka Tiensuu und der noch jüngere Jouni Kaipainen, noch nicht beteiligt. Einer der jüngsten Komponisten der bisher vorliegenden fünf Platten ist der 1951 geborene Eero Hämeenniemi, der in Helsinki bei Paavo Heininen, in Krakau bei Bogusław Schäffer und in Mailand bei Franco Donatoni studiert hat, um für ein Jahr an die Eastman School in die USA zu gehen. Hämeenniemi ist der Initiator und Leiter von Komponistentreffen in der südfinnischen Stadt Hämeenlinna. Zur jüngsten, ausschließlich der Musik für Hörner vorbehaltenen Platte der Editionsreihe steuerte er die 1978 entstandene, etwas spröde „Aria“ für Horn allein bei.

Die Tendenz, neue und neueste Verfahren wie elektronische Klangerzeugung – es gibt auch ein Studio für elektronische Musik am Yleisradio in Helsinki – und computergenerierte Klänge und Strukturen heranzuziehen, sind auch Ausdruck der Aneignung der westeuropäischen Standards. Auch die Komponisten der mittleren Generation haben in den Fünfziger- und Sechzigerjahren die damals neuesten seriellen und aleatorischen Verfahren zum Beispiel bei den Darmstädter Ferienkursen studiert und haben später unter Einbezug einzelner neuerer Dinge eine eigene, doch sehr finnische Musiksprache entwickelt, in der asymmetrische Raumvorstellungen, transparente Schichtenbildung, die Vorstellung von Außen- und Innenraum, von Naturklang, konkreten Zeichen und anderem mehr in immer wieder anderen Varianten genutzt werden. Auf das erste Hören hin klingt vieles ein wenig der Zeittendenz nachhinkend, traditioneller, doch ist es bei näherer Auseinandersetzung oft ganz anders, sozusagen moderner disponiert als es der Anschein zunächst erwarten lässt.