MusikTexte 2 – Dezember 1983, 3–3

An einem Wendepunkt?

Zur Situation der Gesellschaft für Neue Musik

von Reinhard Oehlschlägel

Dass die Bundesrepublik in der europäischen Szene der neuen Musik eine recht einseitige Rolle spielt, ist letztlich wohl eine Folge einer langen Entwicklung, die ihren Ausgangspunkt in der kulturellen Nachkriegssituation hatte und in der prosperierenden Entwicklung der Sechzigerjahre einigermaßen blind fortentwickelt worden ist. Wenn auch immer wieder mit Entwicklungskriterien behaftet – wie sich jetzt nach der allmählichen Öffnung des Archivs der Darmstädter Ferienkurse zeigt –, hat die Nachkriegszeit neue Musik buchstäblich ins Land gebeten, geradezu importiert und ihr alles in allem mehr Chancen geboten als jedes andere europäische Land. Dass Mauricio Kagel, Bruno Maderna und Pierre Boulez in die Bundesrepublik übersiedelt sind, nach Köln, Darmstadt und Baden-Baden, war eine Folge davon. Köln, Darmstadt und Baden-Baden, der Sitz der Programmredaktion der Donaueschinger Musiktage, sind neben München und Berlin zugleich die Importzentren neuer Musik in der jungen Bundesrepublik.

Der Ruf, mehr für neue Musik zu tun als irgendwer sonst, ist über längere Zeit gefestigt worden – jetzt wird er wohl nur von Frankreich, speziell von Paris übertroffen –, hat aber auch das Image eines kultivierten Neureichtums mit sich gebracht. Der Export deutscher Sprache und Musik mit dem Instrument des Goethe-Instituts und verwandter Einrichtungen verlief lange Zeit nach eben demselben Muster. Beide Dinge aber, Import und Export, haben bis heute nur sehr wenig miteinander zu tun. Die kulturpolitischen Vorstellungen etwa von Hans Arnold und Hildegard Hamm-Brücher, anstelle von Missionierung in der kulturellen Außenpolitik einen fairen Austausch von kulturellen Informationen zu organisieren, sind bis heute praktisch nicht realisiert worden, nicht einmal in einem singulären Prestigeprojekt.

Für das Feld der Wahrnehmungen, des Verhaltens und der Kontakte in der europäischen Szene neuer Musik werden die Folgen dieser einseitigen Entwicklung noch lange Zeit spürbar bleiben: Im Konzert der Austauschprojekte neuer Musik in Europa kommt die neue Musik aus der Bundesrepublik praktisch nicht vor. Zwar werden Karlheinz Stockhausen, auch Mauricio Kagel und György Ligeti zu Prestigeproduktionen nach Paris, Mailand, Venedig, auch Den Haag, Kopenhagen und Dublin eingeladen. Doch schon Dieter Schnebel oder Helmut Lachenmann haben es ungleich schwerer als ihre Alterskollegen in den Niederlanden, Schweden, England oder Belgien, außerhalb ihres Landes vorgestellt zu werden und noch viel mehr die jüngeren Komponisten.

Eine der Folgen der deutschen Nachkriegsgeschichte aus Nachholfleiß und Prosperität ist der Mangel an einer Institution, die rein organisatorisch überhaupt in der Lage wäre, im Austausch mit anderen Ländern, neue Musik hier und draußen aufzuführen, also eine Aufgabe wahrzunehmen, die in den meisten anderen Ländern von der jeweiligen IGNM-Sektion ausgeführt wird oder doch von einer Institution, die ihrerseits die IGNM-Vertretung für ihr Land wahrnimmt. Im Ergebnis läuft das übrigens auf das Gleiche heraus. So ist es charakteristisch für unsere Situation gewesen, dass nach dem Krieg lange Jahre ein Deutscher an der Spitze der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik fungierte, Heinrich Strobel, einer der wirksamsten Importeure neuer Musik in den Nachkriegsjahren. Zugleich existierte aber nur eine außerordentlich schwache IGNM-Sektion in der Bundesrepublik, der Heinrich Strobel nicht einmal angehörte.

Und schwach ist die bundesdeutsche IGNM-Sektion im Wesentlichen geblieben. Allerdings hat die deutsche Sektion in mehreren Phasen versucht, sich aus der stillschweigend über sie verhängten und zugleich selbst erzeugten Lethargie zu lösen. Die Trennung vom Management der Darmstädter Ferienkurse der Ära Ernst Thomas war lediglich eine Voraussetzung zu einer etwas größeren Eigenständigkeit. Sie hat immerhin zum ersten Mal eine etwas intensivere Diskussion über Sinn und Zweck der Einrichtung ermöglicht. Die Satzung wurde reformiert und die Sinngebung von bloßer Förderung neuer Musik um Aspekte der Auseinandersetzung ,des individuellen und sozialen Bezugs erweitert. Und sie brachte mit dem neuen Namen „Gesellschaft für Neue Musik“ auch zum ersten Mal ein Moment von Eigenständigkeit ins Spiel, ohne den keine Institution sinnvoll arbeiten kann.

Die folgende Phase ist als realitätsferne Planerei beschreibbar, in deren Verlauf in der Euphorie der Aussicht auf Nationalstiftungsgelder ein Spitzenensemble, ein Computermusikzentrum, ein Mitteilungsblatt, ein Büro, Komponistenwerkstätten, ein Konzertsaalneubau für neue Musik und eine Meinungsumfrage als papierne Phantasiegebilde herumgeisterten. So imaginär die Pläne von Erhard Karkoschka und Jürgen Nagel auch geblieben sind, so dokumentieren sie doch die Sehnsucht nach einer größeren Aktivität und Selbständigkeit der Gesellschaft für Neue Musik. Große Pläne, die im Nichts zerrinnen, produzieren allerdings auch ein gerüttelt Maß an Resignation und Lethargie.

Die heutige Situation der jedem Kenner und Liebhaber zugänglichen Gesellschaft für Neue Musik ist vielleicht am genauesten als eine eigentümliche und allmählich entstandene Mischung aus Schlafmützigkeit und aufkeimender konstruktiver Tätigkeit zu beschreiben. Denn tätig geworden ist die Gesellschaft endlich auf Anstöße von außen hin, um schließlich mit fremden Mitteln den älteren Ensemble-Plan zu reaktivieren. Mit Mitteln der GEMA-Stiftung soll zunächst drei Jahre lang das überregionale Ensemble Modern der Jungen Deutschen Philharmonie zu einem international wirksamen Aufführungsinstrument befördert werden, wie es in anderen Ländern seit vielen Jahren zur Verfügung steht. Zugleich aber belegen die außerordentlich schleppenden Verhandlungen und Bemühungen um einen Vertragsabschluss der Angelegenheit – bis zum Redaktionsschluss fehlte noch immer die Reinschrift und die Unterzeichnung beider Seiten – eine fast ungebrochen fortwesende Vereinslethargie. Und dass in öffentlichen Verlautbarungen des Vorstands noch immer vom Plan einer Orchestergründung oder gar von einer Perspektive zurück zum Kranichsteiner Ensemble die Rede ist – es ist bekanntlich an den wachsenden Ansprüchen seiner Star-Solisten ins Aus gesegelt – zeigt die engen Grenzen des aufkeimenden Realitätsbewusstseins.

Und dennoch hat die neue Musik in der Bundesrepublik seit dem Kriege in ihrer einzigen überregionalen Institution, in der die verschiedenen Beteiligten und Betroffenen zusammenwirken, noch nie eine so reale Möglichkeit, endlich einen mit anderen Ländern vergleichbaren Part im Prozess der Auseinandersetzungen musikästhetischer Positionen in Europa zu spielen. Das Ensemble Modern könnte nicht nur nach Coburg und Rendsburg, sondern auch nach Amsterdam und Wien, nach Basel oder Stockholm, ja sogar zu den Weltmusiktagen nach Kanada geschickt werden. Und im Gegenzug könnte die Gesellschaft für Neue Musik endlich beginnen, die hier bestehenden Informationsdefizite über die kompositorische Entwicklung in den Nachbarländern abzubauen. Eine lokale Initiative, die 1981 gegründete Kölner Gesellschaft für Neue Musik, hat inzwischen mit Konzertprojekten in Zusammenarbeit mit Musikern in Liege/Lüttich und in Berlin gezeigt, wie Austausch von Aufführungen sinnvoll und fair, das heißt vom Gesichtspunkt des jeweiligen Gastgebers aus organisiert werden könnten. Derartige Ideen, Konzeptionen, Resultate und weiterführende Diskussionen ließen sich unter anderem in der Zeitschrift MusikTexte veröffentlichen.

Werden die Chancen genutzt werden? Wird der Vertrag mit dem Ensemble Modern endlich abgeschlossen werden? Wird dabei auch akzeptiert werden, dass auch innerhalb der Vertragserfüllung das Ensemble Modern, das anders als die meisten regionalen ad-hoc-Ensembles wesentlich auf dem eigenen Interesse der Musiker an neuer Musik aufbaut und darum auf Selbstbestimmung basiert, seine Programme wesentlich mitbestimmen kann? Werden die bisher offenbaren Auffassungsunterschiede zwischen der eigens gebildeten Ensemble-Kommission und dem Vorstand behebbar sein oder gar produktiv nutzbar werden können? Natürlich wird das alles auch davon abhängen, wen letztlich die Mitglieder der Gesellschaft für Neue Musik am 9. Dezember zu ihrem neuen Vorsitzenden, wen sie in den Vorstand wählen werden, wer auch überhaupt zur Verfügung stehen kann. Die erklärte Absicht des Vorsitzenden Friedhelm Döhl, nicht wieder zu kandidieren und das satzungsgemäße Ausscheiden von Rudolf Lück machen eine Veränderung notwendig. Während einige – unter ihnen der ausscheidende Vorsitzende – die Wahl eines vollständig neuen Vorstands empfehlen, der völlig unvoreingenommen und mit neuem Elan an die Arbeit gehen kann, suchen andere möglichst alles zu bewahren, wie es ist, so als ob die Gesellschaft für Neue Musik nicht schon in eine gewisse Bewegung geraten wäre. Beide Vorstellungen sind in reiner Form letztlich nicht realisierbar. Doch verlangt das Interesse nahezu aller Komponisten neuer Musik in der Bundesrepublik, vieler Interpreten und nicht zuletzt auch das der Verleger und der GEMA die neuen Chancen der Gesellschaft für Neue Musik zu nutzen und auszubauen.