MusikTexte 2 – Dezember 1983, 9–11

Neuer Wein in neue Schläuche

Nicolaus A. Huber im Gespräch

mit Reinhard Oehlschlägel

Offenbar gibt es in bestimmten Zusammenhängen, bei bestimmten Stücken von dir so etwas wie eine Identifikationsreaktion. Etwa so: Jetzt setze ich mal was hart in den Raum, mit dem ich mich ungeheuer identifiziere. Ich bin jetzt der Künstler, der etwas gegen die Masse setzt, gegen diesen normalen Rezeptionszusammenhang, und vielleicht auch: Ich gehe mal über diesen Punkt des Geschmacks, des gerade noch Möglichen, ganz bewusst hinaus.

Das ist schon richtig. Aber es ist nicht so, dass ich das nicht selbst durchgemacht hätte, zum Beispiel das mit den langen Tönen, das habe ich wirklich geübt. In Venedig – da war ich allein im Zimmer und hatte sehr viel Zeit – habe ich wirklich stundenlang die Erweiterung von Dauern mit Kurzwellen geübt. Ich habe praktisch das Transistorradio mit den Kurzwellen benutzt, um bestimmte Klänge zu bekommen, und konnte große Einheiten bilden, zum Beispiel irgendeinen tiefen Brumm, der zwei Minuten geht; wo man also große Einheiten als eine Einheit wahrnimmt und nicht nur zerstückelt, oder sagt: Jetzt verliere ich die Orientierung, es ist ja langweilig, dann schalte ich ab oder ich strenge mich besonders an – also dieses Üben von großen Einheiten, die sonst in der Musik unterteilt sind. Das habe ich stundenlang und tagelang und wochenlang geübt. Damals habe ich gerade „Epigenesis III“, dieses Streicherstück gemacht. Da kam mein längster Ton von zwei Minuten Dauer vor, der in der Mitte irgendwann unterbrochen wird. Da habe ich wirklich wochenlang geübt, dass diese Dauer stimmt. Und ab da kommen meine wirklich langen Dauern.

Was war da das Extremste?

Das Extremste ist in „Anerkennung und Aufhebung“ mit vier Filmen und Klangquellen, wo der Ton dreißig Minuten dauert. Allerdings ist da immer die Unterzeile, durch die Filme. Und dann gibt es noch kurze Vertikalstücke, die hineingesetzt sind, und vorher dieser Klang in „Aion“, der sieben Minuten dauert. Das wird zwar moduliert und verändert sich dauernd, aber es ist doch ein Feld, das gleiche Charakteristik hat. Und vorher, in „Versuch über Sprache“, gibt es am Ende diesen langen Sinuston. „Harakiri“ ist auch unterbrochen, aber arbeitet auch mit diesen langen Tönen. Immer, wenn ich mit meinen Studenten über lange Töne spreche, ist es wichtig, ihnen zu sagen, dass sie immer eine andere Funktion haben.

Können wir zwei Gesichtspunkte daran festhalten? Der eine wäre das, was ich vorhin angesprochen hatte, was den normalen Geschmacksnormen etwas entgegenhält. Zeige einfach mal: Hier bin ich, auf eine schmerzhafte Weise. Und der zweite Gesichtspunkt, der in der Stuckenschmidt-Ästhetik immer wieder vorkommt: Da entdeckt einer neue Dimensionen oder da sensibilisiert einer, also hier die Zeitebene gleichsam. Was ist daran bestimmend, was hat da eine Rolle gespielt, was für eine Funktion hat das jetzt eigentlich für dich?

Ich kann mich noch gut erinnern: Ich habe mal eine Busfahrt gemacht von einem Krankenhaus – es war weit weg, es war eigentlich mehr ein Sanatorium – nach München. Während dieser Busfahrt nach München zurück habe ich die Idee bekommen, mein Gesamtwerk – damals habe ich immer noch bis ans Lebensende gedacht – auf einem Ton aufzubauen ...

Auf einem einzigen Ton.

Ja. Das war also ungefähr ’59/60. Damals habe ich eine Partitur für Violine solo geschrieben. Und da bestand jeder Satz – es waren sechs Sätze – aus einem Tonereignis. So fing das an. Das war für mich zunächst noch relativ primitiv ...

Sechs extrem kurze Sätze.

Ja. Da war nur ein Tonereignis, das kann zum Beispiel ein Pizzikato gewesen sein, hat also mit langen Tönen noch nichts zu tun, sondern einfach nur, dass ein isolierter Ton als Musik gehört wird und nicht eine Kombination von Tönen. Das war die sogenannte „Schwarze Partitur“,1 die hatte ich nämlich schwarz gebunden. Ich habe damals noch nicht Komposition studiert, sondern Tonsatz als Schulmusiker. Da war ich bei Herrn von Forster im Tonsatz, und dem habe ich das gezeigt. Ich habe meine Kompositionen natürlich immer auch hergezeigt. Das ist ein äußerst zurückhaltender Mann, sehr vornehm. Wie er das sah, hat er alle seine Reserve verloren und hat so lachen müssen, dass er wirklich Tränen geweint hat. So fing das an. Ich konnte praktisch mein Anliegen, aus einem Ton Musik zu machen oder aus ganz wenig Material, nie rein durchsetzen.

Ein nächster wichtiger Schritt war mein Streichquartett, das hatte ich „Informationen über die Töne e-f“ genannt. Da ist zwar das Hauptmaterial durchgehend auch e und f, aber es ist unheimlich verpackt. Da gibt es also sehr viel Töne, und es gibt noch Formen mit einzelnen Strukturblöcken, die eine Charakteristik haben. Das hat mordsmäßig Beifall bekommen, aber für mich war das doch irgendwie eine unreine Sprache. Ich habe immer den Ton als solchen, der möglichst keine Veränderung hat, sondern wo ich mich verändern kann, als die reinere Sprache betrachtet. Alles, was da an Handwerk und Struktur dazukam, dieses Eingehen auf die Reizwirkung: Jetzt ist es schon so lang, jetzt muss ich ändern, jetzt muss es schneller werden oder jetzt muss der Ton weg, jetzt muss etwas Neues kommen, oder die Lautstärke soll sich ändern. Also diese typischen Reizmechanismen, die man im Kompositionsunterricht lernt, die habe ich unglaublich verachtet und abgelehnt. So kam ich dazu, immer mehr Stücke zu schreiben, in denen diese Reinheit für mich verwirklicht war. Das ist, was du sagst, diese Identität mit mir selber und diese Aggression. Im Streichquartett hatte ich das verpackt gehabt. Dann kriegst du Beifall, und nachher, wenn du es nicht verpackst, kommst du dir vor wie ein Missionar, der für etwas eintritt, was du für richtig hältst, aber kein Mensch begreift es. Das war auch unterstützt durch den Darmstädter Avantgardismus; denn dieses Ausdehnen von Dauern und die Wahrnehmung viel größerer Grunddauern, das ist, glaube ich, auch ein Zug, den man in Stücken von Stockhausen zum Beispiel schon wahrnehmen kann.

Wie bist du überhaupt auf einen Ton gekommen? Es ist doch so ich weiß nicht, wie das jetzt bei dir genau ausgesehen hat –, dass das Kind in die Musik in einem sehr, sehr ganzheitlichen Sinn hineinwächst, was weiß ich, über Schlaflieder oder sonst etwas, was da von Haus aus auf es eintönt, Kirchenglocken oder das Radio oder was auch immer; aber dass es auf einen einzigen Ton sich reduziert, das ist ja schon eine Abstraktionsleistung, das steht ja nicht am Anfang.

Aber das ist eine Neigung von mir, eine spezielle Neigung. Weil du jetzt gerade fragst, wo das herkommt, fällt mir ein, dass ich als Schüler – da war ich vielleicht fünfzehn Jahre alt – Orgel gespielt habe. Bei uns zu Hause gab es zwei Orgeln, hinten auf der Empore die Hauptorgel mit eigenem Spieltisch und vorne unten im Kirchenchorraum die kleinere Chororgel, auch mit eigenem Spieltisch. Ich habe vorne gespielt, immer ununterbrochen mit vollem Werk einen C-Dur-Akkord. Angeschlagen, gehalten, weg, Pause. Angeschlagen, gehalten, weg, Pause. Bis plötzlich der eigentliche Organist hereinkam und in der oberen Orgel hinten den Motor abgeschaltet hat; ich mit voller Wucht in die Tasten, und es kam nichts mehr. Da war eigentlich schon dieses erste Erlebnis, dass ich praktisch im stillen Kämmerlein als Improvisierender so etwas ausprobiert habe, wo man mit einem Ereignis, und in dem Falle jetzt durch die Wiederholung eines Ereignisses, irgendwie eine musikalische Zeit gestaltet. Der Mensch hat das dann ausgeschaltet, ganz brutal, und mich wirklich auch in meiner Stimmung gestört.

... von der Musik abgeschnitten.

Ja, ganz brutal, und der, weil er sehr musikalisch war, auch noch zum richtigen Zeitpunkt abgeschaltet hat. Das saß unheimlich gut, diese Leere, die dann kam, dieses Nicht-Klingen.

Du hast deine Musik da für dich selber gemacht, nicht für andere.

Ich war mein eigener Hörer, ja. Ich kann mich auch erinnern, dass ich damals so Zeug geschrieben habe, zum Beispiel „Ballett einer Besessenen“ oder so etwas, wo auch bestimmte Melodieabschnitte, die vielleicht drei oder vier Töne hatten, ununterbrochen wiederholt wurden.

Wo liegen denn da die Hauptanregungen?

Während meines Studiums waren unabhängig von dem, was ich gehört habe, Hauptanregungspunkte Webern und Debussy. Ligeti hat im Bayerischen Rundfunk damals eine Sendereihe gemacht, in der er das Gesamtwerk von Webern analysiert hat, und diese Sendungen habe ich fast alle gehört. Aufgrund eines Stipendiums konnte ich mir damals die erste Gesamtaufnahme von Robert Craft kaufen und einige Partituren bekommen. Ich kann mich erinnern, Opus 24, Opus 21, Opus 9, die Bagatellen, Opus 5 für Streichquartett, Opus 6 für Orchester, die habe ich ziemlich eingehend studiert. Die Stücke, die ich damals geschrieben hatte, haben diese paarweisen Gruppen, die Webern gebildet hat, also zwei Töne immer, die sich entsprechen oder weitergebildet werden aufgrund der Entwicklung eines Parameters ...

... aus der Reihenkomposition.

Ja, ich habe viel mehr auseinandergedehnt. Ich habe Stücke geschrieben, da kamen zwei Töne vor, dann lange Pausen, ein Ton, lange Pause. Da ist die Sprache bei mir zeitlich viel mehr gedehnt gewesen als bei Webern. Also die Vereinzelung noch verstärkt, und ich glaube, das hängt auch mit dem langen Ton zusammen. Also wenig viel konkreter wahrnehmen und viel intensiver, als es bei normaler Musik der Fall ist.

Gibt es denn aus der Bialas-Zeit gleich wichtige Einflüsse oder musikalische Stücke, die dich interessiert haben?

Also von der Ästhetik her haben mich natürlich Cage, Kagel und auch Schnebel beeinflusst, aber nicht so sehr vom Partiturstudium her, sondern mehr von der Atmosphäre und dem Ambiente, das diese Stücke mit sich gebracht haben.

Was meinst du zum Beispiel bei Cage? Welches Stück, welches Ambiente welchen Stücks? Was hast du da wo gesehen oder wahrgenommen?

Zum Beispiel diese Ästhetik, dass Töne nur sie selbst sein sollen, das war irgendwie Öl auf mein inneres Feuer. Für Sachen, die ich schon längere Zeit im Kopf hatte, bekam ich endlich mal von Komponisten, die etwas bedeutet haben, eine Unterstützung, während ich in der Hochschule oder von Leuten, denen ich das vorgetragen hatte, nie eine Unterstützung bekam, sondern es ist immer als etwas ganz Abstruses hingestellt worden, wo also zum Beispiel Handwerk keine Rolle mehr spielt oder Satztechnik, komplizierte Verknüpfungen. Da hatte ich also endlich einen Komponisten gefunden, für den das in dieser europäischen oder akademischen Art auch keine Rolle gespielt hat, und das hat mich sehr beeinflusst.

Wie ist denn die erste Begegnung mit Stockhausen gelaufen in Darmstadt?

Das erste Mal war ich, glaube ich, ’66 in Darmstadt, das war gerade nach der Uraufführung meines Streichquartetts. Stockhausen hat mich natürlich sehr beeindruckt, erstensmal das Exemplarische seiner Technik, und dann, ein Jahr später, habe ich ja bei „Ensemble“ mitgemacht, mit ihm zusammen in Darmstadt. Das war ein unglaublicher Lernprozess durch die acht Tage Proben, die wir hatten, die hat ein Musiker normalerweise nicht. Jeder Komponist saß da vor einem Riesen-Klangpool und konnte darauf reagieren, also das Archetypische, das in der Musik liegt, konnte man da besonders gut studieren. Ich habe dann Jahre später mit dem Stück „Aion“ darauf reagiert.

Nach „Ensemble“ ging ich direkt zu Nono, und der hat sich das alles angehört. Dann haben wir einen Termin für den nächsten Unterricht gemacht, und der verlief so, dass er mich gleich angefahren hat, was ich eigentlich bei ihm zu suchen hätte. Ich wäre ja schließlich bei Stockhausen gewesen, und warum ich nicht zu Stockhausen ginge. Ich hätte doch gewusst, dass er mich nimmt, und wieso gehe ich dann noch zum „Ensemble“, und so weiter.

Verletzte Eitelkeit.

Ja, sehr stark. Das ging dann so weiter, dass ich das ganze Jahr über praktisch nicht nur als ein kleiner Stockhausen, sondern überhaupt als der Prototyp des Deutschen und insofern auch als ein Prototyp des Nazis dastand, der also alles auszuhalten hatte, was in Deutschland politisch schiefgelaufen ist. Da gab es das Attentat auf Dutschke und die Studentenbewegung, und so weiter.

Da warst du in Venedig.

Da war ich in Venedig und musste praktisch alles aushalten. Und vom Marxismus hatte ich relativ geringe Kenntnis, ich habe da erst angefangen, mich gründlicher damit zu beschäftigen. Insofern war das kein wirkliches Einführen in die dialektische Methode, das dialektische Denken und dessen Anwendung. Die Kritik von Nono hat mich eher dazu angereizt, das wirklich genau zu studieren, damit ich meine Identität als Persönlichkeit nicht verliere. Das war also das eine, das hat Nono vielleicht nur unbewusst angeregt. Das andere ist, dass seine Materialanalyse, und vor allem das historische Festlegen von Techniken, für mich ein ganz neues Denken war, das ich bei Stockhausen und vor allem in „Ensemble“ selbst niemals erlebt habe, sondern da waren immer alle Techniken zur Verfügung, ohne eine genaue Kritik dieser Techniken oder Spielweisen. Ich habe das dann, glaube ich, auch sehr weit getrieben und übertrieben, und es mündete praktisch auch wieder in diesen Sinuston, in „Versuch über Sprache“, wo es eben keine tonale Zeit mehr gibt und überhaupt keine Anflüge von Tonalität und Spielweisen und Möglichkeiten. Insofern war das eine sehr fruchtbare Zeit, obwohl der Nono selbst sich schon genauso im Sinne der großen Persönlichkeit benommen hat wie Boulez und Stockhausen.

Er hat sich in deinen Stücken nicht wiedergefunden, meinst du?

Überhaupt nicht. Aber ich glaube, dass „Epigenesis III“, das zweite Stück, das ich bei ihm geschrieben habe, dass man da doch sieht, dass die Nono-Schulung sich niedergeschlagen hat.

Hast du mit Nono über diese Ästhetik des langen Tons oder auch die Ästhetik der Pausen, Ästhetik gleichsam entfremdeter Klangproduktion, gesprochen? Wie hat er das beurteilt?

Gar nicht, sondern er hat sich, wenn man ihm was gebracht hat, immer an Kleinigkeiten eigentlich festgehakt. Er hat zum Beispiel eine Seite angeguckt, und aus dieser einen Seite hat er dann irgendwie einen Ausschnitt gemacht, einen senkrechten in der Partitur, der konnte zum Beispiel eineinhalb Viertel betragen. Innerhalb dieses Ausschnitts hat er sozusagen die tonalen Elemente – alles, was altes, durch irgendwelche anderen Spielweisen maskiertes Denken ist, herausanalysiert – das war eigentlich seine Methode. Und Analysen, die ich gemacht hatte, interessierten ihn eigentlich nicht, weil er nicht wollte, dass man irgendwas anderes analysierte als seine Stücke.

Aus dem Hintergrund Stockhausen und dem Hintergrund der Nono-Schule heraus hast du dann doch einen eigenen Weg gesucht. Wo siehst du am ehesten Momente der eigenen Handschrift?

Das war eine Zeit, die ich dann „Kritisches Komponieren“ genannt habe. Diese Anregungen, die ich von Nono bekommen habe, hatten mir irgendwie nicht genügt. Also nur am Material und am Geschichtlichen lang, da fand ich irgendwie zu wenig Zugang zu den eigentlichen Wurzeln.

Ich habe mich dann mit Psychologie beschäftigt und habe gemeint, wenn man das Tonale wirklich ausreißen will, dann genügt es nicht, nur eine Spielweise irgendwie zu vermeiden, sondern man muss sich grundlegend selbst verändern. Von daher habe ich diese ganze Art, die Tonalität anzugehen und den Menschen praktisch erneuern zu wollen. Ich habe immer gesagt, nicht nur den alten Wein in die neuen Schläuche oder den neuen Wein in die alten Schläuche, sondern Schlauch und Wein müssen verändert werden.

Wie sieht das jetzt in deiner Musik aus? Du hast also nicht mehr danach gesucht, Tonalität oder ein bestimmtes geschichtliches Komponieren zu negieren, sondern du hast versucht, die Ursachen zu verändern, die Ursachen von Tonalität. Was heißt das?

Zum Beispiel so ein Phänomen wie das Crescendo: In „Harakiri“ habe ich das Crescendo oder überhaupt Abwechslung als eine Form von Crescendo so betrachtet, dass es etwas ist, das aus dem Bürgerlichen kommt. In „Harakiri“ gibt es verschiedene Formen von Crescendo. Es besteht aus einem tiefen Ton, der erzeugt wird von Violinen, deren G-Saiten um zwei Oktaven und ein Drittel Oktave tiefer gestimmt ist. Und dieses Heraustreten aus der normalen Saitenspannung einer G-Saite der Violine hat schon einen Bezug zu dem Hauptthema, nämlich dem Thema der Aktivität. Gleichzeitig wird sie hoch sensibilisiert, also das Verstreichen des Bogens und die Zeit des Bogenstreichens, die kann man hören:

Das ist besonders schwierig, über eine lange Zeit überhaupt ein Crescendo anzulegen.

Zunächst kommt da noch kein Crescendo, sondern ich habe zunächst Oktave und Quinte als Formen verwendet, die zwar von der Tonhöhe erzeugt, aber in Wirklichkeit auch schon ein Crescendo-Verhalten sind, nämlich ein Verhalten nach außen zu einer Aktivität. Erst am Ende kommt ein ziemlich großes Crescendo über eine Minute, also ein echtes Crescendo in dem Sinne. Dieses echte Crescendo schlägt nicht um in eine große Entladung, sondern statt der Entladung kommt ein Donnerschlag von der Natur. Das ging also gegen diese Entladungsfunktion, wenn das Crescendo sehr groß ist, in der Musik des neunzehnten Jahrhunderts, oder auch gegen die Funktion in langsamen Sätzen: dass man versucht, einen Ton zu beleben, also ein Ton versucht, für sich eine gewisse Reklameatmosphäre zu schaffen durch das Crescendo. Ich bin damals zu dem Schluss gekommen, Crescendo ist nicht mehr möglich, was ich heute einen linksradikalen Schluss nennen würde.

Du komponierst wieder mit Crescendi.

Ja. Zum Beispiel in „Schauplätze der Revolution“ habe ich einen eigenen „Crescendo-Song“ mit karikaturhaften Crescendi komponiert. Da bekommt das Crescendo wieder eine menschliche, eine soziale Qualität, und zwar eine andere soziale Qualität. Nicht so, dass ein Künstler einem anonymen Markt gegenübersteht und schauen muss, dass seine Ware auch Marktqualität bekommt. Ich finde, dass da das Crescendo auch eine Rolle spielt, vor allem hat es auch eine Rolle gespielt in vielen Improvisationen und der intuitiven Musik, die es damals gab. Aber das Crescendo bekommt zum Beispiel im „Crescendo-Song“ eine ganz reale politische Funktion. Für mich war das etwas, das ich vorher durch diese vielleicht falsche Auffassung der Nono-Kritik immer mehr verloren habe. Das habe ich jetzt über eine neue Erkenntnis von menschlichem Verhalten neu gewonnen, aber eben nicht in der alten Weise verwendet, sondern ich habe das schon ganz genau einsetzen und bewusst dosieren können.

Dieses Gespräch wurde am 13. November 1977 in Essen geführt. Für die Online-Ausgabe wurde es leicht überarbeitet und vom Komponisten autorisiert.

1Die „Schwarze Partitur“ wurde in Heft 2 der MusikTexte erstveröffentlicht. Das Original liegt im Nicolaus-A.-Huber-Archiv der Akademie der Künste Berlin.