MusikTexte 2 – Dezember 1983, 22–25

„I want to do just Steve Reich individual“

Zu Steve Reichs Psalmkomposition „Tehillim“

von Gisela Gronemeyer

Betrachtet man die Werkfolge von Steve Reich, angefangen von dem Tonbandstück „It’s Gonna Rain“ aus dem Jahre 1965 über „Drumming“ von 1970/71 bis zu den größeren Ensemblebesetzungen aus jüngerer Zeit, dann lässt sich von Stück zu Stück eine äußerst konsequente Entwicklung ausmachen. Das einmal Gefundene, zum Beispiel die Idee der Phasenverschiebung, wird zunächst in den verschiedensten Konstellationen und Besetzungen erprobt, bis eine neue Idee sich auftut, zum Beispiel die der allmählichen Ausdehnung von Tönen und Klängen, wie Reich sie zum ersten Mal in dem Stück „Four Organs“ von 1970 präsentiert hatte. Diese beiden Techniken werden später miteinander kombiniert, zuerst 1973 in „Six Pianos“, der „Music for Mallet Instruments, Voices and Organ“ sowie der „Music for Pieces of Wood“. In diesen Stücken wird auch die in „Drumming“ zum ersten Mal angewandte Technik fortgeführt, Pausen nach und nach durch Schläge aufzufüllen, und umgekehrt. In „Drumming“ hatte Reich darüber hinaus zum ersten Mal menschliche Stimmen eingesetzt, deren Wirkung er später in der „Music for Mallet Instruments, Voices and Organ“, in der „Music for 18 Musicians“ und der „Music for Large Ensemble“ weiter erprobte.

Es ist daher kein Wunder, dass seine Kompositionen immer größer und komplexer werden, wenn die bisherigen Errungenschaften alle mehr oder weniger darin verwendet sind. Auch sein bisher jüngstes Werk „Tehillim“, das im Herbst 1981 nach einer Stuttgarter Teilaufführung im Kölner WDR seine vollständige Uraufführung erlebte, kombiniert die alten Techniken mit neuen Ansätzen. So wie Reich 1970 die afrikanische und 1973 die balinesische Musik studiert hatte, um daraus Anregungen für sein eigenes Komponieren zu schöpfen, so beschäftigte er sich 1975–1977 mit jüdischer Musik, genauer gesagt, mit der Kantillation biblischer Psalmen.

Ich wurde neugierig auf meinen eigenen Hintergrund. Nachdem ich die nicht-westliche Musik studiert hatte, auch die afrikanische und die balinesische, wurde ich neugierig darauf, was denn jüdische Musik wohl wirklich ist. So begann ich, das zu tun, was eigentlich ein Kind tut, das in dieser Tradition aufwächst: Ich begann, die hebräische Sprache zu lernen; ich fing an, die Thora und ihre Kommentare zu lesen, und ich studierte an einer orthodoxen Synagoge hier in New York.

1977 ging Reich nach Jerusalem und nahm dort die Gesänge von Juden aus den verschiedensten Ländern, aus Jemen, Kurdistan, Irak und Indien auf. Den ersten musikalischen Niederschlag seiner Studien findet man in der „Music for Large Ensemble“ von 1978 und dem „Octet“ von 1979. In diesen Stücken verwendet Reich in den Oberstimmen zum ersten Mal längere, ornamentale Melodien.

Die Flötenmelodien sind in der gleichen Technik wie die resultierenden Patterns in „Violin Phase“ oder „Six Pianos“ komponiert, aber sie sind viel länger, so dass man anfängt, sie als normale Melodien zu hören. Aber sie sind ein bisschen aus den Klavierphrasen zusammengestückelt: Ich nehme etwas von hier und etwas von dort und von da noch etwas, und wenn ich alles addiere, bildet sich eine Melodie, genauso wie im hebräischen Gesang kurze Motive aneinandergereiht werden. Es klingt nicht wie Kantillation, es soll auch nicht wie Kantillation klingen, aber es geht um die Idee der Kantillation.

Die jüdische Musik ist für Steve Reich ebenso fremd und exotisch wie afrikanische oder balinesische, und ebenso wenig wie in seinen früheren Stücken ist er heute an der Imitation solcher Vorbilder interessiert. Man kann eine Musik aus eigenem Klang schaffen“, hat er einmal geschrieben, „die komponiert ist unter dem Aspekt des Wissens um nicht-westliche Strukturen ... Man kann die rhythmische Struktur nicht-westlicher Musik studieren und sich davon leiten lassen, während man weiterhin Instrumente, Skalen und alle möglichen Klänge verwendet, mit denen man aufgewachsen ist.“ Und das gilt nun auch für das neue Stück:

I want to do just Steve Reich individual.

Über die Struktur der hebräischen Kantillation hat Reich sich in Jerusalem Klarheit verschafft, wo er – wie schon erwähnt – alte Männer aus Jemen, aus Kurdistan, Irak und Indien gebeten hat, ihm die ersten fünf Verse der Genesis vorzusingen. Und das Ergebnis war, dass sie alle etwas Verschiedenes sangen.

So sind die Noten verschieden, der Vokalstil ist verschieden, aber im Aufbau gibt es immer einen Anfang, eine Halbkadenz, eine Fortsetzung und eine Schlusskadenz. Die Noten darin sind verschieden und geographisch bedingt. Aber die Struktur ist die gleiche.

Da die Tradition der hebräischen Kantillation, insbesondere der Gesang der Thora, der fünf Bücher Moses und der Propheten, auch in Europa und Amerika durchaus noch lebendig ist, hat Reich sich bewusst Texte gewählt, deren musikalische Aufführungspraxis im Westen völlig unbekannt ist, nämlich Psalmen jemenitischer Juden. Auf diese Weise fühlt er sich als Komponist frei von allem Vorwissen. In der Niederschrift dieser Psalmen befinden sich Akzente über den Worten, die die Betonung markieren, und diesen gleichsam natürlichen Wortrhythmus hat Reich seiner Vertonung zugrunde gelegt.

Ich versuchte zu erfühlen, wie lang jede Silbe ist, welchen wirklichen rhythmischen Wert sie hat. Das ganze Stück mit seinen komplex sich ändernden Metren besteht letztlich aus Zweier- und Dreier-Einheiten.

Jeder Takt lässt sich also, entsprechend der Kurzgliedrigkeit der Motive, auf Einheiten von zwei und drei zurückführen. Diesen Einheiten entsprechen rhythmische Motive in den Perkussionsinstrumenten. Für die Dreier-Einheit steht das Motiv Schlag-Pause-Schlag oder alternativ Schlag-Schlag­-Pause, für die Zweiereinheit steht in der Regel entweder Schlag-Pause oder Pause-Schlag. Maßeinheit ist die Achtelnote. Diese rhythmische Kerbung zieht sich durch große Teile der Komposition, wobei entweder nur eines von beiden Motiven in einer Stimme konsequent verwendet wird, zweistimmig auch im Kanon, oder die beiden Motive greifen im zweistimmigen Satz hoquetusartig ineinander. Im Unterschied zu den früheren Stücken Steve Reichs gibt es aber zum ersten Mal kein starres Metrum, sondern die Musik befindet sich in einem ständigen Taktwechsel, der vom Wortakzent bestimmt wird.

Die Komposition, deren Aufführung dreißig Minuten dauert, besteht aus vier Psalmen, die das Stück als solche auch in vier Teile gliedern. Der Titel „Tehillim“ bezeichnet das alte hebräische Wort für Psalm und bedeutet wörtlich übersetzt „Lobpreisung“. Die vier Teile unterscheiden sich nun auch durch unterschiedliche Kompositionstechniken, alte wie neue. Jeder Abschnitt hat seine ganz eigene Charakteristik, und der vierte ist eine Rekapitulation des Voraufgegangenen. In jedem Satz geht es in immer wieder anderer Weise darum, die Melodie in verschiedenen Dimensionen und Beleuchtungen zu präsentieren.

Nachdem der erste Psalm zunächst ganz nackt und bloß, nur mit seinem rhythmischen Gerippe, exponiert worden ist, setzt in der Wiederholung sofort eine klangliche und strukturelle Bereicherung ein: Die Singstimme wird durch Klarinette verdoppelt, und in der Rhythmusgruppe setzen im Abstand von vier Achteln kommt, kanonisch um vier Achtel versetzt, ein zweites Clapping mit Tambourin dazu.

Parallel zu den zweiten Perkussionsinstrumenten setzt in der nächsten Wiederholung die zweite Singstimme, ebenfalls durch Klarinette verdoppelt, im Kanon ein. Wenn dann beim nächsten Einsatz das Streichquartett mit zwei Violinen, Viola, Violoncello und Kontrabass mit langgezogenen Tönen als eine zweite, grundierende Schicht hinzutritt, erscheint das instrumentale Potential fürs Erste aufgefüllt.

Im nächsten Zug werden die vier Verse der Psalmenstrophe einzeln in Wiederholungen abgetastet, und die neue Verfahrensweise bringt auch ein neues Klangbild mit sich: Tambourine und Clappings werden langsam ausgeblendet, eine Technik, die Reich seit „Drumming“ verwendet und durch Maracas im durchgehenden Sechzehntelrhythmus ersetzt. Es sind jetzt vier Stimmen, die sich im Kanon präsentieren, und verdoppelt werden sie nicht mehr durch Klarinetten, sondern durch zwei Orgeln. Die Einsatzabstände der Stimmen sind nicht etwa alle gleich, sondern einmal vier Achtel, einmal fünf Achtel und einmal drei Achtel. Der erste Vers wird nun zwölfmal wieder holt, wobei Harmonie- und Lagenwechsel in den Streichern diese Wiederholungen unterschiedlich grundieren.

Im Grunde genommen ist diese Kanontechnik nichts anderes als eine Phasenverschiebung in größeren Dimensionen, allerdings nicht angewandt auf kurze Repetitionsmuster, die sogenannten Patterns, sondern auf größere Melodiezusammenhänge. Der Effekt ist, zumal bei dichtem Einsatzabstand, allerdings vergleichbar. Auch hier stellt das Ohr melodische Querverbindungen her, die von Reich sogenannten „resulting patterns“. Die Verstärkung dieser Patterns durch wieder andere Instrumente, ein Prinzip der früheren Stücke Reichs, liegt hier aber nicht im Interesse des Komponisten. Ihm geht es eher darum, die Texte in barocker Weise sinnvoll zu vertonen, in Musik zu setzen. Ähnlich wie in den frühen Tonbandstücken „lt’s Gonna Rain“ und „Come Out“ dient ihm der Text mit der ihm innewohnenden Musikalität als kompositorisches Material. Der dritte Psalmvers, „kein Sprechen ist’s, keine Rede, unhörbar bleibt ihre Stimme“ besteht nur aus den vier Tönen G-D-A-E, deren Konstellation unterschiedliche harmonische Deutungen zulässt. Das hebräische Wort für Sprechen, Sprache „Ohmer“ ist mit dem gleichen Intervall versehen wie schon im Vers zuvor, einer fallenden Quinte.

Formal schließt sich dieser erste Teil durch Rückkehr zum Anfang, wobei die Schlagwerkbesetzung leicht verändert erscheint. In der letzten Wiederholung der Strophe tritt eine Altstimme in parallelen Sexten zum Sopran hinzu, um den zweiten Teil vorzubereiten, der nach kurzer Schlagzeugüberleitung einsetzt.

Das Kompositionsverfahren in diesem Teil ist ein völlig anderes. Der Singstimmensatz ist durchweg homophon, erst zwei-, dann dreistimmig angelegt. Die Technik, auf die es hier ankommt, ist die allmähliche Dehnung und Auszierung der Melodie, die auch eine andere ist. Sie wird zunächst dreimal wiederholt, wobei sie das dritte Mal allein von den stimmverdoppelnden Holzbläsern gespielt wird.

Nun wird die Melodie gedehnt, und zwar in allen Teilen. Steve Reich knüpft damit an ein Verfahren an, das er zum ersten Mal im Stück „Four Organs“ verwendet hat. Im zweiten Durchlauf wird der Satz dreistimmig, ein hoher Sopran tritt hinzu. In diesem Zusammenhang möchte ich auf ein Beispiel von Wortmalerei aufmerksam machen, auf das der Komponist selbst unter anderen in seinem Einführungstext verweist:

Die Verszeile Sur may-rah va-ah-say tov (Weiche vom Bösen, tu Gutes) im zweiten Textabschnitt wird durch eine absteigende Melodielinie auf Sur may-rah (Weiche vom Bösen) und eine energisch aufwärtsstrebende Linie auf va-ah-say tov (tu Gutes) verdeutlicht. Die Bewegung kulminiert in einem kristallklaren As-Dur-Dreiklang auf das Wort tov (Gutes), wobei die Terz des Akkords als hohes C in der Sopranstimme aufscheint.

Der dritte Durchlauf vollzieht sich ganz ohne Melodie nur in den Streichern und dem Schlagwerk. Im nächsten Abschnitt wird sie zum zweiten Mal gedehnt und melismatisch ausgeziert.

Der dritte Teil des Werkes stellt in mehrfacher Hinsicht ein Novum in der Musik von Steve Reich dar, das er selber so beschreibt:

Dieser dritte Abschnitt ist der erste langsame Satz, den ich seit meiner Studienzeit komponiert habe, und zugleich die am stärksten chromatisierte Musik, die ich je geschrieben habe ausgenommen vielleicht die „Variations for Winds, Strings und Keyboards“ von 1979.

Angelegt ist dieser Abschnitt in Duettform, zunächst in zweistimmigem, dann in vierstimmigem Satz. Als Vorbild diente dem Komponisten dazu, wie auch in der Wortmalerei, die Kantate „Christ lag in Todesbanden“ von Johann Sebastian Bach, in deren zweitem Vers Sopran und Alt über einer ostinaten Continuo­-Figur alternieren. Das Material besteht nun hier aus einer Reihe kurzgliedriger Motive, mit denen die beiden Stimmen oder Stimmpaare ihr Frage- und Antwortspiel durchführen.

Unmittelbar nach der Exposition werden die Motive gedehnt, das heißt verlangsamt. Die rhythmische Unterstützung übernehmen hier Marimbas und Vibraphone.

Nicht die rhythmische Variation steht in diesem Satz im Mittelpunkt, sondern die melodische. Die Ausmaße der Melodie bleiben im Folgenden, wenn auch mit stets kleinen Änderungen, im Prinzip beibehalten, während die Tonhöhen und Intervalle ständig variieren. Darin eingeschlossen ist auch eine Steigerung und anschließende Zurücknahme der Tonhöhen, die etwa in der Mitte des Satzes ihren Höhepunkt erfährt.

Harmonisch bewegt sich die Musik zunächst im Bereich von E-Dur, gelangt über H- nach Fis-Dur und schreitet dann über den Quintenzirkel zurück nach F-Dur, um damit in den vierten und letzten Teil überzuleiten. Tonart und Tempo des Anfangs wiederaufnehmend, lässt Reich hier nun alle vorher angewandten Techniken Revue passieren, um in einer großangelegten Hallelujah-Coda unter Entfaltung des ganzen Instrumentariums das Werk – nach einigen harmonischen Rückungen – in triumphalem D-Dur zu beschließen.

So ist es sicher das am meisten klassische Stück, das ich je gemacht habe. Und der letzte Satz ist wirklich eine gigantische Rekapitulation des ganzen Stücks. Das sind keine Sätze im klassischen Sinn, aber das Denken in vier Sätzen und die Tonarten-Beziehungen in jenem Kampf am Ende zwischen einem B und vier Kreuzen, wo es schließlich nach D-Dur geht, in die prächtigste der Dur-Tonarten das bedeutet schließlich einen sehr bewussten Bezug auf die westliche Musik zwischen Haydn und Schönberg, den ich bisher immer vermieden habe. Es ist im Grunde ein Stück, in dem viel von der Musik des vorigen Jahrhunderts steckt, denn es ist wirklich sehr viel näher an der klassischen und romantischen Periode als alles, was ich bisher gemacht habe.

Bedenkt man, in welch minimalen Schritten Steve Reich bisher sein Werk weiterentwickelt hat, so stellt „Tehillim“ einen großen Sprung nicht zuletzt in die musikalische Tradition dar: Melodiebildung, kanonischer Kontrapunkt, funktionale Harmonik, Wortmalerei – all das sind zunächst mal Elemente, die der Minimal Music eigentlich fremd sind. Und doch klingt alles so sehr nach „Steve Reich individual“, dass man ihm regressive Tendenzen wohl kaum vorwerfen kann: Die musikalische Tradition des Westens benutzt er nicht anders als die der Afrikaner, der Balinesen oder der Hebräer, er eignet sie sich produktiv an, unterwirft sie seinem kompositorischen Willen. Und je mehr neue Techniken er unter Beibehaltung der bereits erprobten in sein Werk einbezieht, desto abwechslungsreicher, hörerfreundlicher und opulenter wird es; die ursprüngliche, ein wenig öde Radikalität des Minimalismus wird farbenfreudig. Das Prinzip „Music as a gradual process“, das Steve Reich 1968 formuliert hat, erscheint zwar nicht aufgehoben, aber durch vielfältige Anwendung relativiert. Die Wahrnehmungsfähigkeit des Hörers wird nicht in besonderer Weise beansprucht, sondern mit zahlreichen Eindrücken wohlgeleitet und -genährt, so wie es auch die klassisch-­romantische Ästhetik von der Musik erwartet. Zur Zeit arbeitet Reich an einem Stück für Chor und Orchester, „The Desert Music“, das der WDR für 1984 in Auftrag gegeben hat. So wie auch die Musik von Philip Glass tendiert die von Reich offenbar mehr und mehr zum reich gedeckten Tisch, zum üppigen Schmaus – zur maximalen Prachtentfaltung einer Kunst, die einst als minimal in die Musikgeschichte eingegangen ist.

Die kursiv gesetzten Zitate von Steve Reich stammen aus einem Interview, das die Autorin zusammen mit Reinhard Oehlschlägel im März 1982 in New York geführt hat.