MusikTexte 2 – Dezember 1983, 56–58

Noch größer, noch attraktiver, noch schöner

Zum New Music America­Festival 1983 in Washington D.C.

von Gisela Gronemeyer

In seinem Beitrag „No music is New music“, den er für das Programmheft „New Music America“ 1983 verfasst hatte, beschrieb Peter Garland, Komponist und Herausgeber der Zeitschrift „Soundings“, Umfeld und Begriff der spezifisch amerikanischen New Music. Er meint, dass die Komponisten nun durch alles hindurchgegangen seien, was denkbar ist, und sieht das eigentlich Neue jetzt in der Musik aus Burma, Burundi, Tschad, Äthiopien, Bali, Afghanistan, Mali und Brasilien. Damit steht er sicherlich nicht allein, denn gerade in Amerika gibt es viele Komponisten, angefangen bei Steve Reich, Terry Riley und Philip Glass, die sich auf außereuropäische Quellen berufen. Sie tun das nicht von ungefähr. Es gibt in Amerika eine Tendenz, die insbesondere in den letzten zwanzig Jahren immer stärker geworden ist, sich von europäischen Vorbildern abzusetzen, eine eigene Identität zu suchen.

Angefangen von Charles Ives über Henry Cowell, John Cage, Harry Partch, Lou Harrison und Conlon Nancarrow haben US-amerikanische Komponisten eine Musik gemacht, die außerhalb jeglicher Tradition steht. Und was liegt näher für heutige Komponisten als sich, wenn es die europäische denn nicht sein soll, auf außereuropäische Traditionen zu berufen. So war es ein besonderes Anliegen des diesjährigen New Music America Festivals, der neuen Musik Amerikas außereuropäische und amerikanische Traditionen gegenüberzustellen.

Der Slogan „No Music is New Music“ deutet auch noch auf etwas anderes hin. Denn niemand weiß genau, was das eigentlich ist: New Music. Man weiß eher, was es nicht ist: nicht die mehr akademische Musik von Elliott Carter, Milton Babbitt und Charles Wuorinen, sondern die alternative, die frei ist vom europäischen Ballast. New Music ist etwas ganz anderes als neue Musik bei uns: Sie umfasst sowohl Avantgarde als auch Jazz und Rock und sogar die Country & Western Musik. Das einzige Kriterium ist ihr originär amerikanischer Ursprung.

Nur: Über die Entwicklung und Eigenart der New Music Amerikas ist bei uns in Europa wenig bekannt. Das liegt auch ein wenig an der Struktur der amerikanischen New-Music­ Szene: Es gibt kaum eine nennenswerte Zeitschrift, die etwas über neue Musik vermittelt – wie ja lange Zeit bei uns auch – und keine Festivals im europäischen Sinn. Geld von der öffentlichen Hand gibt es wenig genug, und seit die Reagan-Administration sich noch weiter von der Kultur zurückgezogen hat, sieht die Lage für amerikanische Musiker nicht sehr rosig aus. Es ist denn auch kein Wunder, dass Europa immer noch das Gelobte Land für sie ist, das Land, wo Milch und Honig fließt. Die großen Premieren von Steve Reich und Philip Glass finden nach wie vor in Holland oder in der Bundesrepublik statt.

Um das alles zu ändern, hat sich vor fünf Jahren die New Music Alliance gegründet. Ihr Hauptziel war es, ein Festival mit New Music auf die Beine zu stellen, und das ist ihr im Wesentlichen auch gelungen. Das Festival wandert in jedem Jahr, in diesem Oktober war es das fünfte, in eine andere Stadt, und der Sinn ist vor allem, die hier lebenden und arbeitenden Künstler schwerpunktmäßig zu präsentieren. Die New Music Alliance hat bei all dem noch nicht einmal viel zu tun: Die Verantwortung delegiert sie an die Veranstalter in der jeweiligen Stadt. Das Geldauftreiben, das „fundraising“, ist nicht einmal schwierig, denn in ein solch großes und aufsehenerregendes Unternehmen investiert die Privatwirtschaft gern. Die Veranstalter verfügen letztlich über ein erstaunliches Budget. In diesem Jahr waren es 300.000 Dollar, das sind umgerechnet über 750.000 Mark.

Trotzdem war das Festival jetzt in Washington nicht das, was es in den anderen Städten gewesen war. Zum ersten Mal fand es an einem Ort statt, der über praktisch gar kein alternatives Musikleben verfügt. Washington ist eine sehr große und repräsentative Stadt, aber eigentlich recht langweilig. Und daher hatte sie es auch gar nicht so einfach, ein Publikum für New Music America zu generieren. Wo in New York, Minneapolis, San Francisco und Chicago die Leute zu Tausenden erschienen waren, brachte Washington oft gerade nur zwei- bis dreihundert auf die Beine. Hinzu kam noch, dass es nicht, wie in den anderen Städten, einen festen Veranstaltungsort gab, sondern das Geschehen wechselte von Ort zu Ort.

Nun war Washington auch eher eine Notlösung gewesen, denn man wusste im letzten Sommer immer noch nicht, wo das nächste Festival stattfinden sollte und war froh, als die Regierungsstadt sich bereit erklärte, es zu übernehmen. Die Organisation lag bei der Washington Performing Arts Society, dem 9th Street Crossings Festival und der District Curators Incorporation, und zwar so vollständig, dass der New Music Alliance gar nichts mehr zu tun übrig blieb. Sonst stellt sie immer noch ein beratendes Komitee, ein „advisory committee“, das das Programm mitverantwortet. In Washington gab es auch das nur noch auf dem Papier, und die Alliance befand bei ihrem diesjährigen Treffen, dass das anders werden müsse. Immerhin ist man jetzt in der Planung schon etwas weiter: Das nächste Festival wird in Hartford, Connecticut stattfinden und das darauffolgende in Los Angeles.

Der Chef-Programmmacher war, und das war das erste Mal in einem New Music America Festival, ein Farbiger, Bob Wisdom, seines Zeichens ein unabhängiger „radio producer“. Dann war da noch Deborah Hanzlick von der Performing Arts Society und Bill Warrell von den District Curators, und alle drei schienen mir eigentlich herzlich wenig Ahnung von der New-Music-Szene zu haben. Sie hatten in erster Linie auf große Namen gesetzt, Philip Glass oder Diamanda Galas zum Beispiel, im Jazz auf Ornette Coleman oder das World Saxophone Quartet, und in der Rockmusik auf Jamaladeen Tacuma oder Oliver Lake & Jump up, Namen, die in der amerikanischen Szene up to date sind. Überhaupt war in diesem Festival sehr viel Jazz und Populäres vertreten, vor allem traten viele Farbige auf, was sicherlich das Verdienst von Bob Wisdom war.

Als besondere Attraktion waren die Inuit Throat Singers aus dem arktischen Kanada zu Gast, Frauen aus einem kleinen Dorf an der Ostküste der Hudson Bay. Ihre Lieder werden paarweise gesungen. Zwei Frauen stehen sich ganz dicht, gleichsam Mund an Mund gegenüber und nutzen so den Resonanzraum der jeweils anderen. Die Lieder sind ganz kurz und enden meist so, dass die Frauen in Lachen ausbrechen. In den Dreißigerjahren war diese Tradition fast ausgestorben. In den Sechzigern animierte dann ein anglikanischer Kirchenmann die Frauen in diesem Dorf, die Lieder wiederaufzuführen, die sie als Kinder gelernt hatten. Seit den frühen Siebzigern reisen sie nun auch damit herum, und in New York sind sie zur Zeit ganz groß in Mode. Ihr Gesang ist eine spezifische Frauenkunst und ursprünglich sangen sie die Lieder, wenn sie auf ihre Männer warteten, bis sie von der Jagd zurückkamen. Auf mich wirkten diese Frauen, die da aufführten, sehr merkwürdig. Eine Musikform, die einmal Ausdruck des alltäglichen Lebens war, wird aufs Konzertpodium gehoben, wird stilisiert und präsentiert, und das steht ihr bei aller Faszination der Klänge eigentlich nicht gut an.

Traditionen präsentierte auch „La Troupe Makandal“ mit Zeremonial- und Tanzmusik aus Haiti. Die Zeremonien sind aus dem Voodoo entlehnt, dem ritualen Glauben der Bevölkerung von Haiti. Voodoo-Zeremonien werden zu vielerlei Anlässen abgehalten: Zu Initiationen von Knaben und Mädchen, zu Heilungen und Gottesdiensten. Die Instrumente, die die Truppe verwendet, entsprechen der authentischen Instrumentation traditioneller Voodoo Music. Wer sich nun unter Voodoo eine spirituelle oder zeremonial-feierliche Musik vorstellt, sieht sich getäuscht: Diese Musik aus Haiti ist laut, lärmend und fröhlich.

Es gab dann auch noch indische Musik mit Sheila Dhar oder nachgemachte indische Musik mit Peter Griggs, Iris Brooks und Glen Velez. Originär amerikanische Musik wurde präsentiert von einer Folk-Music-Gruppe, einer Indianertruppe aus New Orleans oder einer Band aus Louisiana, die mehr oder weniger Unterhaltungsmusik präsentierte. Interessanter waren da solche Musiker, die sich auf exotische Quellen beziehen. David Hykes und sein „Harmonic Choir“ beispielsweise stützen sich auf den Gesang der Westmongolen und der tibetanischen Mönche. Insbesondere das Obertonsingen der tantrischen Buddhisten in Tibet hat es ihm angetan. Für seine harmonische Musik, wie er sie nennt, hat er fünf verschiedene Möglichkeiten formuliert: 1) der Sänger hält einen Fundamentalton und eine Obertonharmonie aus, wie im religiösen tibetanischen Gesang, 2) der Sänger verändert die Fundamentalnote melodisch und der Oberton bewegt sich parallel dazu, wie man es en passant auch in religiöser Musik des Westens findet, zum Beispiel im bulgarischen Gesang, 3) der Sänger hält einen Grundton und bringt darüber Obertonmelodien hervor, wie im Hoomi-Gesang der Mongolen, 4) der Sänger hält die Obertonharmonie und verändert den Grundton, 5) der Sänger verändert sowohl Grundton als auch Oberton. Alle diese Techniken kommen bei David Hykes und seinem Harmonic Choir zur Anwendung.

The „Worlds Voice“ hatten die Veranstalter großspurig den Abend mit den Inuit Throat Singers, David Hykes und Sheila Dhar überschrieben. Drei Künstler oder Ensembles waren das mindeste, was man in einen Abend hineingepackt hatte, so dass der Auftritt des Einzelnen relativ kurz war. Das steigerte sich von Tag zu Tag, so dass es am Ende bis zu zehn verschiedene Darbietungen gab. Das fanden die Veranstalter besonders schick. Überhaupt war Organisation nicht ihre große Stärke. Da lief den ganzen Tag über nichts, absolut gar nichts, und am Abend gab es dann drei Konzerte gleichzeitig, so dass man sich für eines entscheiden musste, und oft fiel die Entscheidung nicht leicht. Das lief dann darauf hinaus, dass man zwischen den Orten des Geschehens hin- und herraste, um wenigstens einen Teil von jedem zu erhaschen. Dabei wäre es genauso gut gegangen, wenn man ein Konzert um sechs, eines um acht und eines um zehn Uhr angesetzt hätte.

Es gab eigentlich keine Uraufführung in diesem Festival; darin unterscheidet sich New Music America fundamental etwa von Donaueschingen. Der Begriff der Uraufführung hat zudem in der weitgehend auch improvisierten Musik an Bedeutung verloren; es ist gar nicht so wichtig, wann jemand etwas zum ersten Mal gemacht hat. Und so klang es denn auch etwas merkwürdig, als das Glass Orchestra aus Toronto eine Improvisation als „World Premiere“ ankündigte. Seit 1977 besteht das Glass Orchestra, das ausschließlich Instrumente aus Glas spielt und sein Instrumentarium immer wieder erweitert. Da gibt es Glas-Marimbas, verschiedenste Schüsseln, Sopranino-, Sopran-, Alt-, Tenor- und Bassflaschen, Glas­-Flöten und -Klarinetten, -Glockenspiele, -Röhren und -Platten. Seit der Wiederbenutzung der Glasharmonika in Richard Strauss’ Oper „Die Frau ohne Schatten“ haben Musiker wie Harry Partch, Frederic Rzewski, Meredith Monk, Bill Fontana, Annea Lockwood und zuletzt David Tudor für Glasinstrumente geschrieben. Beim Glass Orchestra ist nun auch der optische Anblick der zahllosen Instrumente, gespielt bei Kerzenschein, eine Show für sich.

Auch das Glass Orchestra bezieht sich natürlich auf außereuropäische Quellen. Ned Rothenberg tut das ebenfalls, ein ausgezeichneter Klarinettist und Saxophonist, der auch die Shakuhachi und die Okarina spielt, in der Regel eigene, halb komponierte, halb improvisierte Musik spielt. Der „composer-performer“, der Komponist, der seine Werke selbst aufführt, ist auch eine genuine Folge der New Music Amerikas, die mit John Cage ihren Anfang nahm. So ist es heute zum Beispiel selbstverständlich, dass auch Steve Reich oder Philip Glass ihre Werke mit eigenem Ensemble aufführen, dem Steve Reich oder Philip Glass Ensemble. In seinem „Continuo after the Inuit“ bezieht sich Ned Rothenberg auf die Musik der Inuit. Auch er arbeitet mit Patterns, die er langsam verändert und verziert, und unmerklich in ein anderes übergehen lässt.

Eine der wenigen Neuheiten war für mich Arnold Dreyblatt und sein „Orchestra of Exited Strings“. Ein besonderes Interesse der amerikanischen New-Music-Szene lag schon immer in neuen Stimmungen und Tonsystemen, und es gibt viele Komponisten, die damit experimentieren. Ausgangspunkt war Harry Partch, eben einer der Väter der New Music Amerikas, der sich für seine Musik, die auf das System der Obertöne baute, ein völlig eigenes Instrumentarium selber bastelte. Die Materialien dafür hatte er zum Teil aus dem Müll zusammengeklaubt. In den Spuren von Harry Partch wandelt heute Arnold Dreyblatt, der ebenfalls nach dem System der Obertöne stimmt, sich aber konventionelle Instrumente dafür eingerichtet hat. Seine Musik hat allerdings mit der von Partch wenig gemein, es ist eine monotone, mechanisch klingende Robotermusik, die – mit vielen Obertönen – in den Ohren dröhnt.

Als einer der Höhepunkte des Festivals war Philip Glass mit seinem Ensemble angesagt. Was er spielte, war das Tourneeprogramm, mit dem er zur Zeit auch durch Europa zieht. Wie Meredith Monk lässt er sich von seiner Schallplattenfirma weitgehend vermarkten, und die Stücke, die er spielte, ein neues war nicht einmal darunter, waren nur Stücke von seinen LPs. Man fühlt sich nicht sehr wohl dabei, und ich habe das Gefühl, dass seine Commercials, die er da produziert, immer leerer und hohler werden, Zeichen einer Musik, die sich selbst überlebt.

New Music America 1983 war im Ganzen gesehen nicht so interessant wie die vorausgehenden, wenn man auch hier wieder Eindrücke ganz anderer Art sammeln konnte. Was die Verantwortlichen aus angeblich vierhundert Partituren und Tonbändern herausgefischt hatten, waren nur bekannte Namen. Dass ausgerechnet Charles Amirkhanian und Carl Stone dabei waren, war wohl eher eine Reverenz an die Macher der New Music Alliance. Das, was dann noch aus Washington selbst kam, in der Tat unbekannte Namen, war nicht der Rede wert. Neues gab es fast gar nichts, sogar David Hykes und sein Harmonic Choir sind schon in Köln zu Gast gewesen. Dabei will jede Stadt, die an der Reihe war – amerikanischem Superlativdenken entsprechend – das größte New Music America Festival veranstaltet haben, und natürlich behauptete das auch Washington. Es sei deshalb das größte Festival, weil es ja am längsten dauerte, und außerdem konnte man auf über achtzig Musiker und Ensembles verweisen. Leider konnte niemand alle hören und erleben. In den anderen Städten war das Programm auch viel dichter gepackt gewesen, es war einfach mehr los. 1984 wird New Music America zum ersten Mal in einer kleineren Stadt, in Hartford, Connecticut stattfinden, und es bleibt abzuwarten, ob den Veranstaltern nun langsam die Puste ausgeht, nachdem das Festival in den großen Kulturzentren gewesen ist. Joseph Celli, Oboist und Organisator des nächsten Festivals, gibt sich sehr optimistisch. Man wird ja sehen, ob wieder einmal alles noch größer, noch attraktiver, noch schöner geworden ist.