MusikTexte 3 – Februar 1984, 60–61

Nordische und minimalistische Musik

Zu den Weltmusiktagen in Aarhus

von Reinhard Oehlschlägel

Die jährlich in einem anderen Land veranstalteten Weltmusiktage der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) neigen dazu, zumal wenn sie in einem europäischen Land zu Gast sind, eine gewisse Mehrgesichtigkeit anzunehmen. Sie sind zugleich Messen der neuen Musik, tragen einen offiziellen, ja zeremoniellen Charakter und können dennoch auch ein faszinierendes Interpretationsforum neuer Musik abgeben. Die Verdensmusikdage im dänischen Aarhus im 58. Jahr der IGNM haben diese Polyvalenz eher noch etwas gesteigert. Allein schon die Ansammlung von 619 Partituren zur Auswahl des Programms erzeugt einen Messecharakter, auch wenn dann nur etwa achtzig Partituren aus dem Potential der eingesandten Stücke aufgeführt werden. Den offiziellen Anstrich kann man an den Delegiertenversammlungen ablesen: an ihren Paragraphenkämpfen um die Programmstatuten – diesmal erfuhren sie eine leichte Aufweichung –, an den Ehrenmitgliedschaften, die nun John Cage im ersten und Iannis Xenakis, merkwürdig genug, erst im zweiten Anlauf erteilt wurden, an den Empfängen und auch an manchem mehr aus diplomatischen Gründen ins Programm geratenen Stück. Und ein spannendes Festival waren die Weltmusiktage in Aarhus vor allem, weil ein in Veranstaltungsdingen außerordentlich geschickter Komponist und Dirigent es in der erstaunlich kurzen Vorbereitungszeit von einem Dreivierteljahr – es sollte zunächst in Madrid stattfinden – erst dazu gemacht hat.

Karl Aage Rasmussen hatte in Aarhus dazu allerdings Voraussetzungen, wie sie auch in anderen hoch entwickelten Musikländern eben nicht häufig anzutreffen sind: ein ganz neues kongressfähiges Konzerthaus ohne eine allzu starke architektonische Gravität, das fast alles, was in den letzten Jahrzehnten in der Bundesrepublik so gebaut worden ist, nicht durch Übertrumpfung, sondern durch Transparenz, ein humanes Klima und eine angenehme und kommunikative Atmosphäre in den Schatten stellt. Und Rasmussen hat ein eingespieltes Veranstaltungsteam aus ortsansässigen Komponisten, Musikern, ja Gesangssolisten um sich geschart, das für einen reibungslosen, bisweilen eleganten Ablauf vor und hinter der Bühne und im Foyer sorgte·. Ohne die spezifische Programmphantasie von Rasmussen aber wäre es dennoch ein nur liebenswertes Ereignis der jütländischen Provinzmetropole geblieben, die eine weltweit organisierte Spezialistenvereinigung beherbergt.

Noch vor Eingang der Partituren und noch weit vor den Juryentscheidungen hatte der Veranstalter das Festival nach thematischen Gesichtspunkten gegliedert, in gewisser Weise übersichtlich gemacht und der Jury dann die Aufgabe gestellt, die Programmplätze zu füllen. Zusätzlich wurden eine ganze Reihe von Stücken ins Programm genommen, die wie Stockhausens „Mantra“ oder Ligetis Horntrio Maßstäbe vermitteln und qualitative Abwechslung ins Einerlei der vielen Stücke bringen. Dabei verfolgte Rasmussen eine doppelte Aufführungsstrategie. Soweit vorzügliche Musiker des Landes zur Verfügung standen, hat er sie, wie bei Luciano Berios „Linea“ oder bei Helmut Lachenmanns „Salut für Caudwell“ zur Aneignung in ihr Repertoire angeregt. In den anderen Fällen wurden internationale Spitzeninterpreten wie das Arditti-Quartett, Yvar Mikashoff, Saschko Gawriloff und die fulminante kalifornische Hornistin Robin Graham verpflichtet. Vier der einundzwanzig Konzerte an den sieben Konzerttagen hatte der Veranstalter zudem prominenten Komponisten zur Programmgestaltung aus dem Fundus der 619 Stücke übertragen: Hans Werner Henze ein Orchesterkonzert, Mauricio Kagel einen Musiktheaterabend, Lukas Foss ein Ensemblekonzert und dem Norweger Arne Nordheim ein elektroakustisches Programm. Was selbst die engere Veranstaltergruppe kaum für möglich gehalten hatte: In Aarhus gelang von Konzert zu Konzert ein zunehmender Durchbruch zu einem größeren Publikum für neue Musik, kurz: zu vollen Sälen.

In ein öffentlicheres Licht gerückt als in jedem anderen Rahmen innerhalb und außerhalb des eigenen Landes ist bei den Weltmusiktagen fast jedes Mal die Musik aus dem Gastland selbst. Dänische Musik hat ja bei uns keinen sehr hohen Bekanntheitsgrad und Stellenwert. In zwei Spezialkonzerten außerhalb der Jurierungen und dazu noch in einer Reihe jurierter Stücke wurde eine gestaltenreiche und ganz andere musikalische Landschaft sichtbar, hörbar. Henning Christiansens „Perceptive Constructions“ hatte bereits 1964 nach Anregungen von Terry Riley und Fluxusphänomenen eine spezifisch dänische Form neuer kompositorischer Einfachheit begründet, von der aus eine ganze Reihe verschiedener Spielarten entwickelt worden ist, lange Zeit, bevor eine neue deutsche Einfachheit kreiert war.

Den meditativen Charakter dieses Ansatzes hat vor allem Per Nørgård, der international wohl bekannteste dänische Komponist der mittleren Generation, ausgearbeitet. So war es wohl kein Zufall, dass die Weltmusiktage mit der Uraufführung von Nørgårds Schlagzeugsolostück „I Ching“ eröffnet wurden, und ganz natürlich, dass er als der einzige Komponist dem Ehrenkomitee des Festivals angehörte. „I Ching“ – ein viersätziges Werk – benutzt die Konstellationen des altchinesischen Orakelbuchs nicht konzeptionell – wie John Cage –, um sich ganz unbeeinflusst vom eigenen Geschmack, den eigenen Wünschen und Vorlieben den Entscheidungen einer zufallsorientierten Instanz zu überlassen, sondern lediglich als Satztypen, Satzcharaktere – und auch das nur in einer selbstfestgelegten Auswahl von vier der vierundsechzig Gegensatzpaare des „I Ching“.

Heute ist wohl Pelle Gudmundsen-Holmgreen der ungekrönte Meister einer eigentümlich unpathetischen, gelegentlich schon lakonischen und für uns recht ungewohnten Klangsprache der dänischen Komponisten. So war sein „Symfonie – Antifonie“ für großes Orchester eines der wenigen Stücke, die das Publikum in ein Iebhaft diskutiertes Für und Wider spaltete. Der Komponist nennt sein Stück eine „Messe der mannigfaltigsten Stile“, ein Chaos geborgter, also fremder Federn. Das Stück sei ein Zwilling aus ein und demselben Grundmaterial: „Symfonie“ ist kurz und homogen, „Antifonie“ lang und heterogen; die Grundhaltung ist statisch und flächig. Leise Abschnitte sind leise, ja extrem leise, ohne Bedeutungen wie geheimnisvoll oder zärtlich zu assoziieren, laute Abschnitte entbehren jeder Überwältigungsgestik.

Bent Lorentzen und Ole Buck fesselten mit Klang- und Rhythmuspartituren, Hans Abrahamsen mit einem Iyristischen und der junge Steen Pade mit einer klanglich strengeren Streichquartettarbeit.

Mit je einer Komposition von Adriana Hölszky und John McGuire war die Bundesrepublik offiziell mit zwei Komponisten vertreten, die vom Veranstalter zugleich auch für je ein anderes Land, für Rumänien und für die USA, in Anspruch genommen wurden – ein Ausweis auch der Internationalität der Musikszene in unserem Lande. Diese Auswahl und deren Deklarierung konnte aber auch so verstanden werden, dass der südliche Nachbar nicht eben sonderlich geschätzt ist. So wurde auch bei den zusätzlich ins Programm genommenen Stücken Hans Werner Henze halb als Deutscher, halb als Italiener ausgegeben. Der Anteil bundesdeutscher Komponisten war dennoch mit neun Werken relativ hoch und rangierte gleich nach Dänemark und England an dritter Stelle. Mit Stockhausens Klavierduo „Mantra“, mit Kagels „Dressur“ und mit Lachenmanns „Salut für Caudwell“ stellte die Bundesrepublik zugleich ein beachtliches Quantum an maßstabsetzenden Stücken, alle drei in neuen Interpretationen überwiegend dänischer Musiker. Bei Lachenmanns Stück arbeiteten die dänischen Gitarristen Maria Kämmerling und Leif Christensen die Sprachebene, die ja für Dänen Fremdsprache, auch charakteristische Fremdsprache ist, viel deutlicher heraus als das Kölner Uraufführungsteam.

Und aus der DDR kam, wie meist, keine Musik zur Aufführung – die DDR ist bis heute nicht Mitglied der IGNM –, doch hatten sich Gäste als Beobachter eingefunden, darunter der Komponist und Verbandsvizepräsident Georg Katzer und der Verbandssekretär Peter Spahn, nicht zuletzt wohl auch, um Chancen, wie Vor- und Nachteile eines DDR-Beitritts zur IGNM vor Ort und vor Person zu erkunden.

Die größten Erfolge errang ein Konzert zum Thema „Minimal Musics“ unter anderem mit der „Music for Mallet Instruments, Voices and Organ“ von Steve Reich und mit der ersten „Litanie“ von 1979 des Belgiers Kare! Goeyvaerts. Verschiedene minimalistische Konzepte bestimmten aber auch wichtige Stücke in anderen Programmen, so das Ausdauer-Stück „Worker’s Union“ von dem Niederländer Louis Andriessen in einem Sonderkonzert mit dem Amsterdamer „Volharding“-Ensemble und so auch das 1979 entstandene Ernesto-Cardenal-Stück „Beati pauperes II“ für Solostimmen und Orchester von dem Schweizer Komponisten Klaus Huber im Konzert des Aarhus Symphony Orchestra.

Eine erstaunliche Wahrnehmung konnte der Besucher schließlich bei der ersten Aufführung von Witold Lutosławskis dritter Sinfonie in Europa erleben, einen sinfonisch eher auf Schostakowitsch und Beethoven bezogenen mächtigen Form- und Klangentwurf nicht ohne pathetische Züge, wie sie im Œuvre dieses Grandseigneurs der polnischen Komponisten sonst fast unbekannt sind. Ohne nachweisliche Eindeutigkeit natürlich entsteht der Eindruck, als ob Lutosławski in einer politisch veränderten Situation in eindrücklicher Weise auf eine Tradition zurückgreift, die vor allem von Schostakowitsch zum Ausdruck individueller künstlerischer Erfahrungen und Nöte in politisch unerfreulichen Lagen entwickelt worden ist.

Alles in allem handelt es sich bei den Weltmusiktagen in Aarhus um ein außerordentlich europäisches, wenn nicht eurozentristisches Festival. Schon die Mitgliederstruktur der veranstaltenden, der UNESCO angegliederten Organisation ist extrem europalastig. Aber auch die hohe Beitragspflicht in harter Währung hält weniger die kleineren als die wirklich armen Ländersektionen, aber auch viele Länder des staatssozialistischen Blocks draußen. Es ist schon einigermaßen grotesk, dass derzeit gleich zwei luxemburgische Vereinigungen der neuen Musik einen Antrag auf Aufnahme in die IGNM als offizielle luxemburgische Sektion gestellt haben, während der uruguayischen Sektion der Ausschluss wegen Zahlungsunfähigkeit weiterhin droht.